EINLEITUNG
Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel
Wege zur modernen Welt nennen wir einen Band, der eine Epoche darstellt und diskutiert, die bis heute wie keine zweite als eine Zeit des Umbruchs und des Übergangs verstanden wird. Schon viele Zeitgenossen in verschiedenen Teilen der Welt hatten den Eindruck, dass sich das Leben in höherem Tempo veränderte als zuvor, dass vor den eigenen Augen Neues entstand und Altes entwertet wurde. Revolutionen drehten nunmehr das Rad der Geschichte nicht im immerwährenden Kreis, sondern wiesen in eine ungewisse Zukunft. Die Fabrik und die Eisenbahn waren keine vorübergehenden Modeerscheinungen, sondern materielle Realitäten, die nie wieder verschwinden würden.
Es gab im 19. Jahrhundert verschiedene Wege in diese neue Zukunft – auch wenn die Zeitgenossen genau über diese Frage stritten. An welche Traditionen ließ sich anknüpfen, welche mussten über Bord geworfen werden? Musste der Wandel rasch einsetzen oder eher graduell? Unterschiedliche Akteure gaben auf diese Fragen ganz unterschiedliche Antworten. Die Wege multiplizierten sich aber auch in einem räumlichen Sinn. Dass die Welt sich änderte, war keine abstrakte Einsicht. Sie hatte viel damit zu tun, dass Individuen und Gruppen unterwegs waren und Veränderungen mit eigenen Augen erlebten. Auf diese Weise waren Vorstellungen von möglichen Wegen in die Zukunft häufig an biographische Wegmarken und grenzüberschreitende Erfahrungen geknüpft.
Natürlich war Mobilität, auch über große Distanzen hinweg, kein neues Phänomen. In allen Epochen gab es Menschen, die weiter herumkamen als die meisten ihrer Zeitgenossen: Kaufleute, Seefahrer, Pilger, Diplomaten, Forschungsreisende, Soldaten, Exilanten, Sklaven, verschleppte Kriegsgefangene. Sie überschritten Grenzen, manchmal viele davon, und machten Bekanntschaft mit fremden Kulturen und Gesellschaften. Manchmal kehrten sie zurück oder pendelten zwischen unterschiedlichen Welten, in anderen Fällen tauchten sie ein in die neue Umgebung, passten sich an und assimilierten sich. Das Schicksal der meisten dieser Menschen ist undokumentiert geblieben. Eine beträchtliche Zahl aber hat Zeugnisse hinterlassen, einige wenige haben sogar ikonischen Status erreicht: Herodot (490/480–424 v. Chr.), der chinesische Pilger Faxian (337–ca. 422), Marco Polo (ca. 1254–1324) oder Ibn Battuta (1304–1368/69).[1]
Heute ist Grenzüberschreitung eine Alltagserfahrung, und Hunderte von Millionen leben «zwischen den Kulturen» und mit doppelten oder gar mehrfachen Identitäten. In der Vergangenheit waren solche Lebenswege seltener und größeren Widerständen und Risiken ausgesetzt; sie waren daher auch auffälliger. Die Globalgeschichte schenkt ihnen besondere Aufmerksamkeit, auch wenn sich die großen Strukturen und Zusammenhänge, die sie herausarbeiten möchte, nicht allein aus einer Aneinanderreihung solcher globaler Biographien erkennen lassen. Es ist jedoch für eine bestimmte Zeit und für den jeweiligen Ort charakteristisch, welche Globalitätserfahrungen jeweils möglich und wahrscheinlich sind – und welche nicht. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert war in Nordamerika die oder der aus indianischer Gefangenschaft Zurückgekehrte ein solcher zeitgebundener Typus, den es anderswo nicht gab und der später wieder verschwand.[2] Auf dem Höhepunkt der christlichen Mission, d.h. in den Jahrzehnten um 1900, war die Entsendung als Missionar eine verbreitete Art, mit anderen Kulturen in Kontakt zu kommen. Obwohl es auch heute noch Missionare gibt, ist ihre Tätigkeit aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwunden; charakteristisch für die Gegenwart sind ganz andere Formen gelebter Globalität. Anhand der je spezifischen Erfahrungen von Mobilität und Grenzüberschreitung lassen sich die Besonderheiten einer Epoche ausloten.
Joseph Bologne (1745–1799), bekannt unter dem Namen Chevalier de Saint-Georges, war ein Athlet und Musiker am Ende des französischen Ancien Régime und während der Zeit der Revolution. In Sport wie Musik leistete er Außerordentliches. Er galt als einer der besten Fechter Europas und brillierte in zahlreichen Schaukämpfen mit berühmten Gegnern. Die Eleganz seiner Fechtkunst war so bezwingend, dass man ihn sogar für Kämpfe feierte, die er verlor. Saint-Georges war zugleich einer der virtuosesten Geiger seiner Zeit, nach dem Urteil mancher Kenner der beste Violinist Frankreichs. Er spielte nicht nur das gängige Repertoire, sondern auch, und anscheinend sogar hauptsächlich, eigene Kompositionen. Sein Œuvre umfasst neben der Hauptgattung seiner 14 Violinkonzerte zahlreiche Opern, Sinfonien und Bläserkonzerte sowie Kammermusik in verschiedenen Besetzungen. Einige seiner Violinkonzerte, Violinsonaten und Streichquartette sind in unserer Zeit auf CD eingespielt worden: charmante, originelle und kompositorisch anspruchsvolle Musik.[3]
Dieser Zeitgenosse Wolfgang Amadeus Mozarts (1756–1791) zeigt unter seiner Rokoko-Puderperücke ein schwarzes Gesicht: Saint-Georges war Afroeuropäer, «Mulatte» (mulâtre), wie es zu seiner Zeit hieß.[4] Er wurde 1745 in der französischen Karibikkolonie Guadeloupe geboren.[5] Sein Vater war ein wohlhabender Pflanzer und Sklavenbesitzer, seine Mutter Nanon eine Sklavin senegalesischer Herkunft. 1753 wurde der siebenjährige Knabe zur Erziehung nach Frankreich geschickt. Zwei Jahre später übersiedelte die restliche Familie nach Frankreich; neben Madame Bologne war auch Nanon mit von der Partie. 1757 wurde der Vater, der seinem Sohn sehr zugetan war und ihn stets förderte, zu einem Gentilhomme ordinaire du chambre du roi ernannt und mit dem Namen «de Saint-Georges» in den Adelsstand erhoben. Joseph erhielt eine Ausbildung für Söhne aus noblem Hause, einschließlich Fecht- und Reitunterricht an einer königlichen Akademie. Nachdem er diese erfolgreich absolviert hatte, wurde er 1766 zum Gendarme du roi ernannt und tat Dienst in der Leibgarde des Königs. In der Pariser Gesellschaft trat er zu dieser Zeit als viel bewunderter Degen- und Schwertkünstler auf.
Über seine musikalische Ausbildung ist wenig Verlässliches bekannt. Vermutlich nahm er Kompositionsunterricht bei François-Joseph Gossec (1734–1829), dem damals namhaftesten Pariser Musiker. 1772 überraschte er die Öffentlichkeit als virtuoser Solist in zwei eigenen Violinkonzerten. 1773 übernahm er von Gossec die Leitung der Concerts des amateurs, des besten Orchesters in Paris, das auf die Aufführung neuester Kompositionen spezialisiert war. 1776 wurde der tüchtige Geiger, Dirigent und Komponist als Direktor der Académie royale de la musique, d.h. der Königlichen Oper, vorgeschlagen. Die Ernennung scheiterte, nachdem drei Sängerinnen eine Petition an Königin Marie Antoinette gerichtet hatten: Sie sähen sich in ihrer Ehre verletzt, wenn sie unter einem Mulatten arbeiten müssten. Trotzdem hat auch noch danach die Königin mit Saint-Georges in Versailles dessen Violinsonaten gespielt.
Saint-Georges komponierte unverdrossen weiter, zunehmend Opern, allerdings oft zu minderwertigen Libretti, was ihrer Wirkung Abbruch tat. Um 1777 trat er in die musikalischen Dienste des Herzogs von Orléans. 1778 lernte er vermutlich Mozart bei dessen Besuch in Paris kennen. 1785 dirigierte Saint-Georges die Uraufführung von Joseph Haydns sechs «Pariser Sinfonien», die von den Pariser Freimaurern (zu denen Saint-Georges gehörte) bei dem berühmten Komponisten im ungarischen Esterháza bestellt worden waren. Nach dem Tod des Herzogs 1785 ging Saint-Georges im Auftrag des neuen Duc d’Orléans, eines Gegners des bourbonischen Absolutismus, nach England, wo er vor allem als Fechtkünstler von sich reden machte. Gleichzeitig nahm er Kontakt zu William Wilberforce, Thomas Clarkson und anderen Sklavereigegnern auf und fungierte als Mittelsmann zwischen ihnen und der Pariser abolitionistischen Gesellschaft Amis des Noirs.
Saint-Georges war rechtzeitig in Paris zurück, um am 5. Mai 1789 auf der Zuschauertribüne der Eröffnung der Generalstände beiwohnen zu können. Bei einem zweiten langen Besuch in London festigte er seine Verbindung zu den dortigen Abolitionisten. Mit dem Beginn der Revolutionskriege im April 1792 sah er seine Aufgabe in der Verteidigung der Revolution und des Vaterlandes. Er war ein Anhänger des neuen Regimes, von dem er sich die Abschaffung der Sklaverei erhoffte, und baute als Oberst und Brigadechef eine Légion nationale des Américains et du Midi auf, die erste aus freien Farbigen bestehende Militäreinheit Europas; sie kam in Nordfrankreich und den Niederlanden zum Einsatz. Die Wirren der Revolution stellten Saint-Georges vor schwierige Entscheidungen. In einem kritischen Moment entschied er sich für die revolutionäre Seite und gegen eine Meuterei zu Gunsten von Marie Antoinette, seiner früheren königlichen Partnerin am Fortepiano.
Dennoch geriet auch er in die Mühlen des Terrors. Ohne Anklage verbrachte er 1793/94 dreizehn Monate in Festungshaft, ständig von der Hinrichtung bedroht. Zuletzt sehen wir ihn 1796 als Mitglied der Delegation, die das Pariser Direktorium unter der Leitung des Kommissars...