Erstes Kapitel »Das ist doch wahnsinnig belastend. Ich könnte das nie!«
Vom Glück und Privileg, mit sterbenskranken Menschen arbeiten zu dürfen
Die kleine Frieda ist an einer besonders aggressiven Form von Blutkrebs erkrankt. Als die Diagnose gestellt wird, ist sie noch nicht einmal ein Jahr alt. Alle Versuche, die Erkrankung in den Griff zu bekommen, scheitern. Nach über einem halben Jahr intensiver Chemotherapie, Stammzelltransplantation, Hoffen, Bangen und wieder Hoffen ist es traurige Gewissheit: Die kleine Frieda wird an ihrer Leukämie sterben. Die behandelnden Ärzte rufen uns dazu, denn die Familie hat nur noch einen letzten Wunsch: Sie möchten, dass Frieda zu Hause sterben darf.
Dazu gibt es ein paar »kleinere« Hürden zu überwinden: Die Familie wohnt eine gute Autostunde von der Klinik entfernt. Frieda hat massive Schmerzen und durch eine Ansammlung von Flüssigkeit im Bereich des Brustkorbes zusätzlich Atemnot. Sie benötigt eine Schmerzpumpe und immer wieder die Gabe stark wirksamer Medikamente in die Vene, da sie mittlerweile zu schwach ist, um selbständig schlucken zu können.
Ich lerne Frieda und ihre Eltern an einem Donnerstagnachmittag kennen. Frieda liegt in ihrem Bettchen – sie sitzt mehr, als dass sie liegt, weil sie nur in dieser Position halbwegs gut Luft bekommt. Sie atmet schnell und angestrengt, stöhnt immer wieder, macht dann kurz die Augen auf und dämmert wieder weg. Sie ist furchtbar blass und schwitzt stark. Ihre noch jungen Eltern, beide Ende zwanzig, sitzen am Bett und stützen sie. Schon nach dem ersten Gespräch wird sehr schnell klar, dass sie wissen und auch spüren, dass ihr Kind nur noch wenige Tage zu leben hat. Sie wünschen sich nichts sehnlicher, als ihre kleine Tochter zum Sterben nach Hause zu holen. Aber sie haben Angst. Sie fürchten sich vor möglichen Schmerzen und Erstickungsanfällen, und dass sie nicht wissen, wie sie ihrem Kind in so einer Situation helfen sollen. Beide waren noch nie beim Sterben eines Menschen dabei und haben keine konkrete Vorstellung vom Sterben ihrer Tochter, aber, wie gesagt, wahnsinnige Angst davor, dass es leidvoll sein wird und dass sie als Eltern das qualvolle Sterben ihres eigenen Kindes hilflos mit anschauen müssen. Nach einem ausführlichen Gespräch vereinbaren wir, dass Frieda am nächsten Tag nach Hause entlassen wird. In der Zwischenzeit wird durch mein Team die häusliche Versorgung organisiert, Medikamente für Notfallsituationen werden bestellt, und wir sichern der Familie eine Rundum-die-Uhr-Erreichbarkeit durch qualifizierte Pflegekräfte und Kinderärzte zu.
Da seit 2007 jedem sterbenskranken Menschen in so einer Situation eine qualifizierte häusliche Palliativversorgung (SAPV) gesetzlich zusteht und dies zumindest in einigen Regionen Deutschlands auch umgesetzt wird, können wir Frieda glücklicherweise diesen Service anbieten.
In den folgenden zweiundsiebzig Stunden bis zu ihrem Tod fanden insgesamt vier pflegerische und vier ärztliche Hausbesuche bei der Familie statt, die sich jeweils über mehrere Stunden erstreckten. Zusammengenommen haben wir Ärzte und Pflegekräfte mit Fahrtzeiten und Anwesenheitsstunden rund dreißig Stunden mit Frieda und ihrer Familie verbracht. Die entzückende Vergütung der Krankenkasse für diese maximal intensive Versorgung eines sterbenden Kindes zu Hause betrug insgesamt übrigens weniger als achthundert Euro, aber dazu später mehr.
Friedas Zustand verschlechterte sich erwartungsgemäß schnell. Sie brauchte immer höhere Dosen an Schmerzmedikamenten und mühte sich auch mehr und mehr mit ihrer Atmung. Dank der eingesetzten Medikamente konnten ihre körperlichen Beschwerden aber stets ausreichend gelindert werden, und wir schafften es zudem, dass Frieda phasenweise wach und ansprechbar war und mit ihren Eltern in Kontakt treten konnte.
Als ich am Sonntagmorgen, dem dritten Tag nach ihrer Entlassung, wieder bei der Familie war und Frieda sah, hatte ich bereits den Eindruck, dass der kleine Körper das Ende seiner Kräfte erreicht hatte. Ich besprach mit den Eltern, wie der Prozess des eigentlichen Sterbens ablaufen würde und auf welche Veränderungen der Atmung, der Haut und noch einiger Dinge mehr sie sich einstellen müssten. Am Nachmittag, als ich wieder zu Hause war, erhielt ich einen Anruf. Die Eltern wünschten sich einen erneuten Besuch, da sie das Gefühl hatten, dass ihre Tochter bald sterben würde. Ich fuhr auf der Stelle los. Vier Stunden nach meinem Eintreffen ist Frieda dann friedlich und gut symptomkontrolliert in den Armen ihrer Eltern verstorben. Danach haben wir ihr die Zugänge entfernt, ihr ein schönes Kleidchen angezogen und noch sehr intensiv im kleinen Kreis mit und über Frieda gesprochen.
Was mich an dieser Begleitung unglaublich berührt hat, war die Stärke und Klarheit der Eltern. Im Vorfeld hatte ich alle Eventualitäten mit ihnen besprochen, und sie ließen sich ganz bewusst auf diesen Weg ein, nämlich ihr geliebtes Kind in seiner gewohnten Umgebung sterben zu lassen. Zu wissen, dass sie jederzeit auch zu Hause fachliche Hilfe erhalten würden, gab ihnen zusätzlich Kraft. Ich habe die beiden damals, in der Nacht von Sonntag auf Montag, mit dem sicheren Gefühl verlassen, dass sie trotz dieses unendlich schweren Schicksalsschlages daran nicht zerbrechen würden.
Drei Jahre später bin ich Friedas Eltern noch einmal begegnet. Ich war auf Vortragsreise bei einem Hospizdienst und sprach über das Thema »Versorgung sterbenskranker Kinder«. Der Saal war gut gefüllt. Nach meinem eineinhalbstündigen Vortrag standen sie plötzlich vor mir. Sie hatten in der Zeitung von der Veranstaltung gelesen und wollten die Gelegenheit nutzen, mich nochmals zu treffen. Sie bedankten sich für die Möglichkeit, dass ihr Kind zu Hause hatte sterben dürfen, und für die Sicherheit, die ich ihnen in der Situation vermitteln konnte. Der schönste Satz kam dann aber von der Mutter: »Ich bin übrigens im sechsten Monat schwanger, und wir freuen uns beide riesig.«
Sie können sich sicherlich vorstellen, dass auch ich in diesem sehr besonderen Moment mit den Tränen zu kämpfen hatte.
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Was die Zukunft anbelangt, so haben wir nicht die Aufgabe, sie vorherzusehen, sondern sie zu ermöglichen.
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Welch wunderbarer Satz von Antoine de Saint-Exupery, dem weltberühmten Autor von »Der kleine Prinz«, der haargenau auf meine tägliche Arbeit zutrifft. Ich betrachte mich nicht als Halbgott in Weiß mit der Fähigkeit, Lebenszeit zu vergeben, auch wenn das oft von mir erwartet wird. Ich bin Palliativmediziner. Meine Aufgabe besteht darin, die verbleibenden Tage, Wochen, Monate und manchmal auch Jahre meiner Patienten mit der bestmöglichen Lebensqualität zu füllen. Ich will körperliche und psychische Symptome wie Schmerzen, Angst und Übelkeit lindern und versuche jeden Tag aufs Neue zu vermitteln, dass der Tod etwas Natürliches ist und dass man lernen kann, ihn zu akzeptieren. Der Tod ist nichts Schreckliches. Die fürchterliche Vorstellung vom Tod macht ihn erst furchtbar.
Ich möchte meinen Patienten das sichere Gefühl geben, dass wir bis zum Ende für sie da sind. Diesen berühmten Satz »Wir können nichts mehr für Sie tun«, vor dem sich viele so sehr fürchten, gibt es bei mir nicht. Es kann immer geholfen werden. Ja, immer! Man muss sich nur die Mühe machen, genau hinzusehen. Ebendiese Eigenschaft haben wir als Gesellschaft jedoch verlernt. Wir hören nicht mehr zu und schauen auch nicht mehr hin. Alte oder sterbenskranke Menschen passen eben nicht in unser modernes, superaufgerüstetes und bis ins letzte Detail durchdesigntes Weltbild. In den Medien und in der öffentlichen Wahrnehmung finden sterbenskranke Menschen kaum statt, und entsprechend fühlen sich die Betroffenen und deren Angehörige in ihrer Hilf- und Ratlosigkeit oft völlig alleingelassen. Und nicht gesehen. Ignoriert. Und schon kommt, meist aus Verzweiflung, das Thema Sterbehilfe ins Spiel.
An dieser Diskussion stört mich seit Jahren, dass wir immer wieder über Menschen reden, die man durch eine Spritze von unendlichem Leid erlösen will, das sie vermutlich gar nicht hätten, wenn wir nur die Möglichkeiten der Palliativversorgung richtig nutzen und sie vor allem flächendeckend anbieten würden. Die Palliativmedizin nicht auszubauen, dafür aber über aktive Sterbehilfe nachzudenken, ist geradezu zynisch. Das Problem ist, dass man mit Palliativversorgung leider kein Geld verdienen kann. Für die Pharmaindustrie und die Krankenhäuser ist hier nichts zu holen, also wird auch nicht investiert. Keine Forschung, kein Fortschritt, keinerlei Anreize, sich auf diesem Gebiet zu engagieren! Diese Entwicklung bereitet mir große Sorgen. Ich habe die Befürchtung, dass die Palliativversorgung in der Zukunft noch schlechter wird, je mehr über Sterbehilfe diskutiert wird. Natürlich ist es im Zweifel einfacher und billiger, einen Menschen »wegzuspritzen«, als ihm beizustehen, und das passt auch besser in unsere Entsorgungsgesellschaft. Aber wollen wir wirklich in so einer Gesellschaft leben? Leider werden in der öffentlichen Debatte nur die Alternativen diskutiert: auf der einen Seite schreckliche Schmerzen, auf der anderen Seite die aktive Sterbehilfe. Die Palliativversorgung hat aber eine ganz andere Blickrichtung. Wir behandeln nicht Sterbende, sondern Lebende, die bald sterben werden. Das ist ein riesengroßer Unterschied.
Die folgenden Seiten handeln von Leid, Sterben und Tod und auch davon, wie wir uns als Gesellschaft grundsätzlich zu diesem Thema positionieren und zukünftig mit unseren Sterbenskranken umgehen möchten. Trotz aller vermeintlichen Schwere des Themas möchte ich Ihnen schon jetzt eine wundervolle Botschaft mit auf den Weg geben: Wir sitzen alle...