Einleitung
Alle mächtigen Reiche sind einander ähnlich – arm ist jedes Land auf seine eigene Art. Jahrhundertelang haben Römer und Byzantiner, später Venezianer, Habsburger und Osmanen Südosteuropa im imperialen Stil beherrscht und geformt. Seine Bewohner teilen daher viele gemeinsame Erfahrungen, und bis heute sind ihre Schicksale eng miteinander verknüpft. Andererseits sind Albaner, Südslawen, Rumänen und Griechen mit der Fremdherrschaft auf ganz unterschiedliche Weise umgegangen. Ein sozialkulturell einheitlicher Raum ist somit nicht entstanden, und auch eine gemeinsame Identität sucht man vergeblich. Stattdessen hat sich hier eine einzigartige sozialkulturelle Vielfalt herausgebildet.
Dieses Buch versteht sich als Versuch, Werden und Wandel Südosteuropas aus der Perspektive von transkulturellen Beziehungen und Globalgeschichte neu zu denken. Es geht um die Frage, wie Südosteuropa mit ferneren Kontinenten und Kulturen verflochten war, wie grenzüberschreitende Prozesse und Interaktionen dort wahrgenommen und gestaltet wurden und wie es aus diesen heraus sozial konstruiert wurde. Dabei zeigt sich, dass Austauschbeziehungen zwischen Menschen, Ideen und Sachen in der Vergangenheit eine viel größere Rolle spielten, als es in gängigen historischen Narrativen und Geschichtsbildern zum Ausdruck kommt. Zudem will das Buch einen Beitrag dazu leisten, die vielen Facetten der Globalisierung aus den historischen Räumen heraus besser zu verstehen.
In einem großen Teil der Historiografie steht bislang die Entwicklung der Nationen und Nationalstaaten im Mittelpunkt. Sie stellen für die allermeisten Menschen heute den primären Erfahrungs- und Handlungsraum dar. Vor dem 19. Jahrhundert und teilweise noch im 20. Jahrhundert war das allerdings anders, als die meisten Südosteuropäer noch in multiethnischen, multireligiösen und multikulturellen Großreichen lebten, also Konglomeraten locker verbundener Länder, deren Bevölkerungen ganz unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Lebensweisen anhingen, und soziale Gruppen, Milieus und Netzwerke noch nicht zu Nationen zusammengewachsen waren. Gleichwohl wird die Geschichte Rumäniens, Makedoniens oder Kosovos gerne in die früheste Vergangenheit zurückprojiziert, um dann einen linearen Prozess zu beschreiben, der vermeintlich folgerichtig auf die Gründung des Nationalstaats zulief. Gesamteuropäische oder global vermittelte Prozesse und raumübergreifende Erfahrungen geraten dabei nur allzu leicht aus dem Blick.
Ein anderer Teil der Forschung betrachtet Südosteuropa als weitgehend geschlossene Geschichtsregion, die sich durch bestimmte innere Strukturmerkmale wie Geografie, Demografie, Wirtschaft, Kultur oder sogar Mentalität auszeichnet. Weil der Westen in der Regel als Modell und Maßstab eines weltweit einheitlichen Modernisierungsprozesses erscheint, an dem sich alle anderen Länder und Regionen messen müssen, werden dort meist Defizite beschrieben, zum Beispiel das vermeintliche Ausbleiben von Renaissance und Aufklärung oder die sozialökonomische Rückständigkeit an sich. Der Ansatz neigt zum Eurozentrismus, weil grenzüberschreitende Prozesse häufig nur in Form von Transfer und Diffusion westlicher Ideen und Erfindungen vorkommen und viele Phänomene, die nicht in das idealtypische Schema der westlichen Moderne passen, ganz ausgeblendet werden. Außerdem ist es schwierig, Verbindungen und Verflechtungen zwischen Ländern, Regionen und Kontinenten dingfest zu machen, sofern man von fixen Raumkategorien ausgeht. Schon angesichts der häufigen Verschiebungen von Grenzen sowie der massiven Wanderungsbewegungen zwischen den Großreichen erscheinen derartige geschichtsregionale Abgrenzungen problematisch.
Wer sich der Geschichte Südosteuropas über die Imperien-Forschung nähert, stößt hingegen auf eine Literatur, die die Region aus der Perspektive der großen Reichszentren betrachtet, auf der Basis von Quellen aus Venedig, Istanbul oder Wien. In den Hauptstädten besaß man allerdings einen eher beschönigenden Blick auf die Realitäten in der Peripherie. Man erfährt dort vor allem, wie sich die Imperien selbst sahen, nämlich als gute und gerechte Herrschaften, und nicht, wie die Beziehungen zwischen Metropolen und Provinzen tatsächlich funktionierten, wie die Ordnung in den Regionen erfahren wurde oder wie bestimmte zentrifugale Dynamiken entstanden. So bildete sich der Mythos, es hätte in den multiethnischen Empires eine größere Toleranz geherrscht als im Nationalstaat. Der gewaltsame Zerfall Jugoslawiens hat die Empire-Nostalgie neu angefacht und die Perspektiven auf Südosteuropa stark auf die Erforschung von Nationalismus und Gewalt eingeengt.
Im Unterschied zu den genannten Zugängen sind nicht Nation, Großregion oder Imperium zentrale Analyseeinheiten dieses Buches, sondern translokale, -regionale und -nationale Austauschbeziehungen. Denn die kulturwissenschaftliche Wende und der «spatial turn» der Geschichtswissenschaft haben die traditionelle Vorstellung von Raum als einem Behälter von Kultur, sozialen Formationen und Identität in Frage gestellt und die vermeintlich objektiven Raummerkmale als kulturelle Konstrukte demontiert. Angeregt durch die bahnbrechenden Arbeiten von Edward Said und Maria Todorova, wurden mittlerweile zahlreiche Forschungen darüber unternommen, wie westliche Reisende, Schriftsteller und Wissenschaftler «den Balkan» seit dem 18. Jahrhundert wahrgenommen und mental erschaffen haben. So wurde klar, dass romantische Ideale und «gelehrte Vorurteile» über vermeintlich wesenhafte, essentielle Raummerkmale bis heute die Perzeptionen und den Diskurs über Südosteuropa prägen.[1]
Des Weiteren haben die moderne Globalgeschichte sowie Forschungen zu Translokalität und Transnationalität wichtige Impulse gegeben, um das nationalstaatliche Paradigma zu überwinden und damit eine regelrechte historiografische Revolution auszulösen. Anstelle internalistischer Erklärungen trat die Erforschung von Austauschbeziehungen, und statt linearer Prozesse werden nun eher synchrone Entwicklungen und globale Konstellationen untersucht. Aber auch die Grenzen der historischen Regionen wurden relativiert, indem sie heute als Zonen des Kontaktes und der Übergänge erscheinen.[2] Diese Ansätze sind mittlerweile so einflussreich geworden, dass man von einem «neuen Konsens» in der Geschichtswissenschaft sprechen kann, der Interaktionen zwischen Gesellschaften als treibende Kräfte des Wandels identifiziert hat.[3] Mit Christopher Bayly lässt sich schließen, «dass alle lokalen, nationalen und regionalen Geschichten in wichtiger Hinsicht Globalgeschichten sein müssen».[4]
Die Geschichte Südosteuropas einmal aus der ungewohnten Perspektive weltweiter Verflechtungen zu erzählen, bietet Vorteile. Viele Vorgänge lassen sich gar nicht verstehen, wenn man sie nur im geschichtsregionalen oder nationalen Rahmen behandelt, zumal in einem Zeitalter wachsender globaler Zusammenhänge. Außerdem entsteht durch die Betrachtung von grenzüberschreitenden Interaktionen, Verflechtungen und Erfahrungen ein neues, facettenreiches Bild von Südosteuropa, das populäre Vorstellungen und Stereotype vom rückständigen und ewig gewalthaften «europäischen Anderen» konterkariert. So mancher vermeintliche Exzeptionalismus wird im globalen Kontext als regionale Ausformung übergeordneter Prozesse erkennbar. Die dunklen Seiten der Geschichte wollen auch in diesem Buch beschrieben und erklärt werden, aber vollständiger wird das Bild, wenn man darüber hinaus intellektuelle, wissenschaftliche und kulturelle Leistungen, politische Gestaltungsentwürfe sowie nicht zuletzt die Handlungsfähigkeit der historischen Akteure einbezieht. Deswegen führen die genannten Ansätze auch zu ganz neuen Fragen und Themen. Wie manifestierten sich grenzüberschreitende Prozesse und die Globalisierung im engeren Sinn in den Ländern Südosteuropas? Wer und was beförderte Verflechtung und Austausch? Wie ordnete sich die Region in die Strukturen der Weltwirtschaft ein, und wie wirkte sich das Zusammenwachsen der Welt auch in politischer und kultureller Hinsicht aus? Und wie stark waren die Beharrungskräfte, wie bedeutend war die Zahl derer, die sich der Einbindung in übergreifende Zusammenhänge entzogen?
«Südosteuropa» zu definieren ist ein uferloses Unterfangen. Schließlich lässt sich ja schon «Europa» räumlich nur schwer bestimmen, weil es mit ganz unterschiedlichen Bedeutungs- und Sinnzuschreibungen versehen ist. So gibt es auch kontroverse Ansichten darüber, welche Länder und Regionen genau zu Südosteuropa zu rechnen sind. Definitionen gibt es viele, aber weder geografische noch politische, kulturelle oder historische Abgrenzungen vermögen vollkommen zu überzeugen. Einige Historiker plädieren dafür, nur den byzantinisch-osmanisch geprägten Teilraum als zusammengehörig zu betrachten und die ehemals habsburgischen Gebiete auszuklammern, weil sie strukturell eher zu Mitteleuropa gehörten. Wenngleich das Argument etwas für sich hat, steht zu bedenken, dass die Großreiche durch die Jahrhunderte dauernd ihre Grenzen veränderten und viele Regionen mal hier- und mal dorthin gehörten. Deswegen muss jeder, der eine Geschichte...