Armin Nassehi
Die große Weltveränderung
Eine Collage in sieben Bildern
Erstes Bild: Veränderung ist unvermeidlich
Veränderung ist ein starker Imperativ. Veränderung ist ein unvermeidlicher Imperativ, meist gepaart mit der Idee, dass die Veränderung auf Verbesserung gerichtet ist. Der Blick in die Vergangenheit verheißt eine bessere Zukunft, weil die Vergangenheit den Maßstab für die Veränderung liefert und damit auch Verheißungen fürs Zukünftige. Bildungsverläufe, Produktzyklen, Problemlösungen aller Art reagieren auf und erzeugen Veränderungen. Nichts soll bleiben, wie es ist, bisweilen auch darum, damit manches bleiben kann, wie es ist. Veränderung ist der Normalfall der Welt, den einen zu schnell, den anderen zu langsam, aber allen plausibel. Aber eben: unvermeidlich.
Zweites Bild: Die Vermeidung von Veränderung
Es ist sicher keine Übertreibung, zu behaupten, dass der größte Teil der Menschheitsgeschichte davon geprägt war, Veränderungen zu vermeiden und dafür zu sorgen, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind. Ohne dies hier systematisch zu entfalten, kann man etwa an Jan Assmanns Rekonstruktion der altägyptischen Gesellschaft denken. Selbstverständlich hat auch Altägypten Bewegung wahrgenommen, etwa die Bewegung der Sonne und der Gestirne ebenso wie die Bewegungen des Alltags und der weltlichen Ereignisse. Aber gerade in der rituellen Wiederholung der Bewegungen der Sonne im Sonnenkult wird letztlich eine stationäre Welt erzeugt, deren Perfektion darin besteht, dass Bewegung am Ende doch zur Permanenz hin strebt und, so Assmann, besonders in den Monumentalbauten dieser frühen Hochkultur zum Ausdruck kommt, als Verhältnis von »Stein und Zeit«.1 Überhaupt haben die klassischen Hochkulturen sich mit großen metaphysischen Entwürfen der Permanenz gegen die physischen Plagen der Veränderung gewehrt. Im europäischen Denken kommt das sicher im Platonismus am ehesten zum Ausdruck. Die Vergänglichkeit des Seienden und die Bewegungen in der Welt sind für Platon, wie man im Timaios (38a) nachlesen kann, keineswegs Anlass dafür, eine sich verändernde Welt anzunehmen. Die vom uneigentlichen Wandel der Welt getrennte Sphäre des Unwandelbaren ist semantischer Ausdruck einer Welt, die sich letztlich nicht dem Imperativ der Veränderung unterwirft, sondern Veränderung möglichst entdramatisieren wollte. Aristoteles konnte die Bewegung der Welt nur auf einen unbewegten Beweger zurückführen.
Erst mit der Idee der Heilsgeschichte des jüdischen und christlichen Denkens kam so etwas wie Beweglichkeit in die Welt, als Heilsgeschichte freilich kein innerweltliches Veränderungsprinzip. Erst mit der Neuzeit und langsamer, als wir uns heute vorstellen können, hat sich mit der Emanzipation des Neuen in Spezialbereichen der Gesellschaft ein Sensus für Veränderung, und zwar für gewollte Veränderung durchgesetzt. Das Neue in Wissenschaft, Wirtschaft, Pädagogik, Politik, im Künstlerischen und sogar im Religiösen wird unmerklich zum eigentlichen Ziel von Wissenschaft, Wirtschaft, Pädagogik, Politik, Kunst und sogar der Religion. Die Welt begann modern zu werden und erzeugte eine Veränderungsdynamik.
Schon im späten Mittelalter wird der Begriff »modern« benutzt, um ein zeitliches Verhältnis zu beschreiben. Die Unterscheidung zwischen den antiqui und den moderni dient etwa dazu, sich theologisch von den Kirchenvätern oder den Juden des Alten Testaments abzusetzen. Modernus war bis dahin nur ein Ausdruck für das Heutige, das Gegenwärtige, ohne dass damit eine weitere qualitative Dimension angesprochen wäre. Später kommt der Begriff des Modernen dann vor allem in Diskursen der Renaissance vor, in denen es um das zeitliche und qualitative Verhältnis zur Antike geht. Besonders bedeutsam für den Begriffsgebrauch war die »Querelle des Anciens et des Modernes«, ein literarischer Streit in Frankreich gegen Ende des 17. Jahrhunderts, in dem es ebenfalls um die Frage des qualitativen Verhältnisses von antiker und »moderner« Dichtung ging.2 Zunächst als reiner Zeitbegriff verstanden, wandelte sich der Begriff des Modernen in der Querelle zu einem Begriff, der eine »neue Zeit« bezeichnet, oder, wie Reinhart Koselleck schreibt, »nämlich neu zu sein in dem Sinne des ganz Anderen, gar Besseren gegenüber der Vorzeit. Dann indiziert die neue Zeit neue Erfahrungen, die so zuvor noch nie gemacht worden seien, er gewinnt eine neue Emphase, die dem Neuen einen epochalen Zeitcharakter beimißt.«3 Wenn es etwa bei Michel de Montaigne noch vorsichtig heißt: »Eine Wahrheit ist nicht deshalb vernünftiger, weil sie alt ist«4, heißt es bei Francis Bacon schon: »Das günstige Vorurtheil für die Alten ist aber ganz grundlos und steht fast mit dem Worte selbst in Widerspruch. Denn es gebührt dem spätern mündigern Alter der Welt, also unsern und nicht jenen jüngern Zeiten, worin die sogenannten Alten lebten, der Name des Alterthums. Jene Zeit ist in Rücksicht auf die unsrige zwar älter, aber in Rücksicht der Welt selbst jünger.«5 Während bei Montaigne Epochen noch prinzipiell und potenziell gleich gut und gleich schlecht sein können, was sich schon von der Heilsgeschichte der göttlichen kairoi wie von der Begeisterung der Renaissance für die Antike absetzt, wird Wahrheit bei Bacon verzeitlicht: Die Abfolge der Epochen ist ein Reifungsprozess von der jungen Antike zur älteren Gegenwart, wobei die Geschichte selbst als Mutter der Wahrheit betrachtet wird. Bacon nennt »die Wahrheit eine Tochter der Zeit, nicht des Ansehns«6. Hier beginnt dann die Idee der Zukunftsorientierung, des Immer-Mehr und Immer-Besser der Moderne und damit die Unvermeidlichkeit der Veränderung – zunächst tatsächlich noch als Fortschrittsglaube an eine bessere, später dann als Risikobewusstsein einer unsicheren Zukunft.7
Drittes Bild: Evolution vs. Planung
Planung ist eine Idee davon, was geschehen soll. Evolution ist das, was geschieht. Beides findet in konkreten Gegenwarten statt, und beides verändert die Welt. Wer die Welt planend verändern will, muss in einer gegenwärtigen Gegenwart eine Idee einer zukünftigen Gegenwart haben, zugleich auch eine Idee davon, wie man die zukünftige Gegenwart erreichen kann. Planung muss also in der Lage sein, mithilfe von erklärbaren Kriterien, nachvollziehbaren Rationalitäten und verfügbaren Ressourcen die Zukunft so zu binden, dass die erwünschte Wirkung erzielt werden kann. Übrigens entscheidet sich die Güte von Planung zunächst in der planenden Gegenwart, denn wer plant, muss jetzt überzeugen, also glaubhaft machen, dass die Dinge sich so entwickeln, wie man es erwartet, wenn bestimmte Mittel eingesetzt werden. Man muss jetzt die Berechnungsgrundlagen plausibel machen, jetzt in der Lage sein, Gefolgschaft für Planungen zu bekommen oder finanzielle Mittel dafür zu akquirieren. Planungen sind paradoxe Veranstaltungen, weil sie etwas wissen müssen, was man nicht wissen kann. Das heißt übrigens nicht, dass man nicht planen kann. Die Formel lautet vielmehr: Je komplexer, also je uneindeutiger, je weniger monokausal eine Situation ist, desto schwieriger dürfte Planung sein.
In den Reflexionstheorien des Planens hat man sich deshalb inzwischen von strikten Kausalitäten und Eindeutigkeiten auf Szenarien verlegt.8 Szenarien gehen stets davon aus, dass sich aus einer bestimmten Situation mehrere unterschiedliche Folgen ergeben können. Das Unerfreuliche am Kausalitätsschema ist nämlich, dass es nur im Nachhinein funktioniert. Wir kennen das aus der Forschung über große technische Systemunfälle. Man kann im Nachhinein fast immer ziemlich genau kausal rekonstruieren, warum ein Atomkraftwerk havariert, ein Flugzeug abstürzt, ein Börsenkurs crasht oder ein Flughafenbau nicht fertig wird. Aber aus den Elementen solcher Systeme lässt sich eben nicht im Vorhinein bestimmen, welche Art von Störung beziehungsweise ob überhaupt eine Störung auftaucht. In Szenarien zu denken ist natürlich ein selektives Geschehen, weil man auch nur jene Szenarien in den Blick nehmen kann, auf die man vorher kommt oder die auf bestimmte Parameter reagieren, aber letztlich hat man schon auf die Idee der Kausalität und der strikten Planung verzichtet, wenn man Szenarien überhaupt in Erwägung zieht. Die Planungseuphorie in der Mitte des letzten Jahrhunderts hat jedenfalls nicht aus theoretischen oder akademischen Gründen Schaden gelitten, sondern schlicht deswegen, weil sich beim Versuch, die Welt planend zu verändern, ganz andere Veränderungen eingestellt haben.
Man musste also beginnen, mit Evolution zu rechnen, das heißt nicht nur damit, was man will, sondern vor allem damit, was tatsächlich geschieht. Als grundlegende evolutionäre Mechanismen gelten Variation und Selektion. Dieses Modell hat Donald T. Campbell für die soziokulturelle Evolution um eine dritte Kategorie erweitert, die Restabilisierung nämlich.9 Campbell war es vor allem darum zu tun, neben der Variation und Selektion auch den Mechanismus der (Re-)Integration des Neuen in ein System beschreibbar zu machen. Ein erfolgreicher Evolutionsschritt ist erst dann erfolgt, wenn das Neue so auf Dauer gestellt werden kann, dass seine Struktur gesichert bleibt, etwa durch Institutionen oder andere Formen der Stabilisierung von Erwartungen. Einfacher gesagt: wenn sich die Welt durch Restabilisierung verändert hat. Evolution ist ein blindes Geschehen, das sich in Echtzeit, gegenwartsbasiert, unmerklich ereignet. Und das ist eine der Grunderfahrungen...