1 Das Verbrechen
28. Mai 2015, Donnerstag.
15.00 Uhr.
Außerordentliche Sitzung im fünften Stock der Zeitung Cumhuriyet, in dem Büro, in dem seinerzeit der langjährige Chefredakteur Ilhan Selçuk saß.
Als die bleisicheren Vorhänge zugingen, wurde auch die stickige Luft im Raum »schwer wie Blei«.[3]
Wir waren zu siebt.
Vier Redaktionsmitglieder: Tahir Özyurtseven, Murat Sabuncu, Doğan Satmış und ich.
Auf der »Gegenseite« drei Rechtsanwälte: Akın Atalay, Bülent Utku, Abbas Yalçın.
Später stieß noch der Journalist und Kolumnist Hikmet Çetinkaya zu uns.
Auf der Tagesordnung stand ein Video, das eine Straftat zeigte.
Zwar hatte nicht ich die Straftat verübt, aber weil ich beschlossen hatte, die Aufnahmen zu veröffentlichen, sollte ich dafür vor Gericht.
Auf dem Video war ein Lastwagen des Geheimdienstes MIT zu sehen.
Die Gendarmerie hielt den Lkw an.
Es kam zum Streit zwischen Geheimdienstlern und Gendarmen.
Die Gendarmerie holte die MIT-Leute aus dem Lkw und durchsuchte ihn auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft. Als die Stahltüren geöffnet wurden, stießen die Gendarmen zunächst auf Kisten mit Medikamenten, die zur Tarnung geladen waren. Darunter auf schwere Munition: Mörsergranaten, Kanonenkugeln u.a.
Die Aufnahmen stammten vom 19. Januar 2014.
Sechzehn Monate waren seither vergangen, die Sache war an die Presse, an die Justiz, ans Parlament gegangen, es hatte Diskussionen und Kritik gegeben.
Alles zu einer Zeit, als darüber spekuliert wurde, die Regierung unterstütze Al-Kaida und lasse den IS-Kämpfern Hilfe zukommen. Nun war sie in flagranti ertappt worden.
Das war das »Irangate der Türkei«.
Die Behauptung, humanitäre Hilfe zu leisten, war in sich zusammengebrochen.
Die Verteidigung, die Waffenlieferung ginge an die Turkmenen, war von turkmenischer Seite dementiert worden.
Die Staatsanwälte, die den Stopp des Lkw-Konvois veranlasst hatten, hatten geredet, Aussagen waren an die Öffentlichkeit gelangt, Fotos verbreitet worden. Neu war das Video.
Der von der Gendarmerie gedrehte Film dokumentierte eindeutig, um welche Fracht es sich tatsächlich gehandelt hatte.
Es war nichts Geringeres als ein internationaler Skandal.
Und die Wahlen standen unmittelbar bevor.
Die Cumhuriyet beobachtete die Sache seit Langem. Am 8. März 2015 hatte der Journalist Ahmet Şık mit dem suspendierten Staatsanwalt Aziz Takçı gesprochen, wir hatten mit dem Interview aufgemacht. Wir spürten, damit waren wir dem, was die Aufnahmen von der Razzia zeigten, sehr nahegekommen.
Am Nachmittag des 27. Mai brachte ein befreundeter linksgerichteter Abgeordneter die Videoaufnahmen vorbei.
»Was du wissen willst, ist auf diesem USB-Stick«, sagte er.
Als ich das Video ansah, waren alle Zweifel fortgewischt:
Der Geheimdienst MIT lieferte Waffen nach Syrien.
Wenn Sie Chefredakteur einer Zeitung sind, bekommen Sie tagtäglich eine Vielzahl von Informationen und Dokumenten in die Hände.
Mal zweifelt man an der Echtheit der Unterlagen, mal an der Absicht des Informanten.
Das Risiko, für eine Operation instrumentalisiert zu werden, ist hoch.
In einer solchen Situation stellen Sie sich zwei Fragen:
Ist das zugespielte Dokument echt?
Ist seine Veröffentlichung im Interesse der Öffentlichkeit?
Lautet die Antwort auf beide Fragen »Ja«, dann wäre nicht die Publikation Verrat an Ihrem Beruf, sondern wenn Sie die Sache in die Schublade stecken würden.
Ich gab die Aufnahmen unverzüglich unserem Redaktionsteam zur Kenntnis, es herrschte große Aufregung.
Was die Veröffentlichung anging, zögerten wir keinen Augenblick. Doch es war spät, wir beschlossen, den Bericht auf den Folgetag zu verschieben.
Am nächsten Tag hockten wir uns im entlegensten Winkel des vierten Stocks vor einen Computer und entwarfen die Seite eins. Noch wussten nur sehr wenige von dem uns zugespielten Material.
Wir wählten die deutlichsten Aufnahmen aus dem Video aus und setzten sie auf die Seite.
Die Schlagzeile dokumentierte eine Lüge:
»Hier sind die Waffen, die Erdoğan leugnet!«
Zu diesem Zeitpunkt kam ich auf die Idee, unsere »Bombe« dem Vorsitzenden des Exekutivausschusses, Akın Atalay, zu zeigen.
Akın bekleidete die Position des Herausgebers im Namen der Cumhuriyet-Stiftung.
Ein Manager, der sorgsam auf die sensible Linie zwischen Redaktion und Stiftung achtgab. Zudem vertrat er sowohl die Zeitung als auch mich persönlich als Anwalt. Bei heiklen Berichten pflegte ich ihn um Rat zu fragen.
Als er das Video sah, reagierte zunächst der Journalist in ihm mit Empörung, dann rief der Anwalt zur Besonnenheit.
»Hast du an die Konsequenzen gedacht?«, fragte er.
Da schrillte bei mir die Alarmglocke.
So gingen wir in die eilig einberufene Sitzung am 28. Mai.
Anwälte und Journalisten nahmen in einander gegenüber aufgestellten schwarzen Ledersesseln Platz.
Die Anwaltsriege der Cumhuriyet verstand aufgrund jahrelanger Erfahrung »die Sprache der Journalisten«. Üblicherweise listeten sie die Risiken auf und überließen die Entscheidung der Redaktion. So hielten sie es auch diesmal.
Einleitend sagte Akın unmissverständlich: »Sie werden sagen, es handele sich um ein Staatsgeheimnis. Gegen Staatsanwälte und Soldaten, die den Lkw-Konvoi stoppten, wurden Haftbefehle erlassen. ›Aufdeckung von Staatsgeheimnissen‹ ist eine schwerwiegende Straftat. Haft ist unausweichlich. Ich persönlich bin nicht gegen die Veröffentlichung, aber ich bin verpflichtet, die Risiken zu nennen. Das solltet ihr berücksichtigen.«
Ich wandte mich an Bülent Utku, den erfahrenen Strafverteidiger im Team.
»Das Risiko ist hoch, Can«, sagte er. »Ich denke, ihr solltet es sein lassen.«
Der stellvertretende Chefredakteur Tahir Özyurtseven ergriff das Wort: »Ich bin für die Veröffentlichung. Aber wenn es Can ist, der dafür geradestehen muss, dann sollte er entscheiden.«
Unser Nachrichtenchef Murat Sabuncu war der Meinung, dass man eine Woche vor den Wahlen am 7. Juni die Cumhuriyet und mich nicht antasten würde.
»Bei Erdoğan ist alles möglich«, mahnte Akın.
Murat schlug vor: »Und wenn wir alle unsere Unterschrift darunter setzen, wenn wir den Bericht mit unser aller Namen herausbringen?« Doch Doğan hielt dagegen:
»Dann ist das kein Journalismus, dann geben wir uns den Anschein einer Organisation.«
»Wie wäre es, das Video auf YouTube hochzuladen?«
»Das wäre Betrug.«
Am besten war also, transparent, offen und ehrlich zu sein.
Wir glaubten nicht, eine Straftat zu begehen, im Gegenteil, wir würden eine Straftat aufdecken.
Der Geheimdienst maßte sich ohne Wissen des Parlaments eine Kompetenz an, die ihm gesetzlich nicht zustand, und lieferte Waffen in ein Nachbarland.
Die Waffen gingen vermutlich an radikal-islamistische Organisationen. Damit ergriff die Türkei Partei im syrischen Bürgerkrieg. Die Öffentlichkeit hatte ein Recht darauf, davon zu erfahren und sich an der Wahlurne entsprechend zu verhalten. Denn sie würde die Rechnung zu bezahlen haben.
Meine Masterarbeit an der Middle East Technical University hatte ich zufälligerweise über »Staatsgeheimnisse und Pressefreiheit« geschrieben. Ich kannte internationale Beispiele dazu wie auch die Gesetzeslage. Ich wusste, dass eine Straftat kein Geheimnis sein konnte. Watergate, Irangate, Pentagon Papers, Wikileaks, stets war enthüllt worden, dass schmutzige Operationen der politischen Machthaber mit dem Stempel »streng geheim« in Geheimakten verschwanden, letztlich landeten aber nicht die Journalisten, sondern die Regierenden, die sich strafbar gemacht hatten, vor Gericht. Unser Bericht war stark. Mein Gewissen rein.
Es gab ein öffentliches Interesse an diesen Informationen. Dafür traten wir ein.
»Was kann schlimmstenfalls passieren?«, fragte ich.
»Sie führen nachts eine Razzia in der Druckerei durch, beschlagnahmen die Zeitung, nehmen dich fest und erlassen einen Haftbefehl«, sagten die Anwälte.
»Gut, dann drucken wir«, sagte ich.
Die Besorgnis im Raum war mit Händen greifbar, alle sorgten sich um mich.
Ich respektierte ihre Sorge, wusste aber, jetzt galt es nicht, sich zu sorgen, sondern zu informieren.
Kurz vor Ende der Sitzung kam ein letzter Vorschlag: »Wenn du das wirklich durchziehen willst, geh wenigstens nicht das Risiko der Verhaftung ein. Geh ins Ausland.«
»Wann?«
»Sofort. Jetzt.«
Es waren noch zehn Tage bis zu den Wahlen. Auf dem Weg zu den Wahlurnen schien eher unwahrscheinlich, dass die Regierung sich einen Übergriff auf die renommierteste Zeitung des Landes erlauben würde. Doch bei Erdoğan konnte man nie wissen.
Es machte Sinn, bis zu den Wahlen vorsichtig zu sein und die darauffolgenden Entwicklungen zu beobachten.
Wir fassten mehrere Beschlüsse:
Auf der Website würde die Ankündigung stehen: »Die Cumhuriyet lässt die Bombe platzen«, aber die Nachricht selbst sollte bis zum Morgen zurückgehalten werden.
Beschluss-Sitzung (von links): Hikmet Çetinkaya, Murat Sabuncu, Can Dündar, Tahir Özyurtseven, Akın Atalay, Bülent Utku, Doˇgan Satmı¸s, Abbas...