6. Aufmerksamkeit und Raum – auf kreativen Pfaden zum Dri-Raumkonzept©
Wie in Kap. 5 von den Autoren bereits angeführt worden ist, dreht sich im Fußball auf dem Spielfeld immer alles um die Spielsituation und das Herausfinden der besten Lösung. Der Preis, den die Spieler im Training dafür zahlen müssen, ist Mühe und Anstrengung und der Wille, Traditionen zu verändern. Dafür müssen sich Spieler und Trainer mit den bisherigen Dribbeltechniken in Theorie und Praxis auskennen, sie beherrschen und lernen, um neue Dribbelelemente zu kreieren und in einen situativen Kontext zu stellen.
Das Kapitel von René Meulensteen stellt eigene Basistechniken und Übungen zum Dribbling bereit, die die Autoren durch die Hyballa/te Poel-Fintenkarte© mit aktuellen Feints/Finten komplettieren (vgl. Kap. 8.1 und Kap. 8.2). Die Autoren bauen hierauf auf und präsentieren einen neuen Ansatz, der die Ausdrucksform eines kreativen Prozesses darstellt und von den Autoren als Hyballa/te Poel-Dri-Raumkarte© bezeichnet wird.
Die Bezeichnung Karte soll verdeutlichen, dass der Trainer/Lehrer wie bei einer Speisekarte Inhalte vorfindet, die er für sein Training auswählen, aber auch neu zusammenstellen kann. Wie in einem „Restaurant“ üblich. Doch hierzu an anderer Stelle mehr.
Grundvoraussetzung eines jeden Lernprozesses, auch für Fußballtrainer/-lehrer, ist die Tatsache, dass wir den zu erlernenden Informationen, hier das moderne Dribbling im 1-gegen-1-offensiv, unsere Aufmerksamkeit schenken. Neben den kognitiven Fähigkeiten der Antizipation, Wahrnehmung und Spielintelligenz[23], die wir an dieser Stelle einmal außer Acht lassen, trägt die Aufmerksamkeit entscheidend dazu bei, dass kreative Entwicklungen, demnach neue Ideen, stattfinden können, ohne dass große, wahrnehmbare Anstrengungen erforderlich wären. Was heißt das konkret für unsere Themenstellung des modernen Dribblings?
Szenario 1: Der Außenverteidiger, der sich beispielhaft im Dri-Assistraum© (vgl. Kap. 8.2.3) befindet, erhält den Ball und richtet nun seine Aufmerksamkeit auf den Ball, den Raum und die Spieler um ihn herum. Um zwischen zwei Objekten mit den Augen hin- und herzuwechseln, benötigt der Spieler in Ballbesitz ca. 130-160 ms (vgl. Memmert, 2014, S. 117). Ferner ist zu bedenken, dass der Spieler die große Fläche um ihn herum nur peripher, und damit unscharf, wahrnimmt.
Besitzt der Spieler ein enges Aufmerksamkeitsfenster[24], wird er grundsätzlich zwei weit voneinander entfernte Reize/Objekte nicht wahrnehmen und z.B. den Wechsel-Pass im Sinne einer Spielverlagerung oder den tödlichen Pass in die Schnittstelle in den Lauf des 9ers nicht anbahnen können und ausschließlich ein Kurz-Passspiel oder ein Dribbling 1-gegen-1-offensiv im Spielraum durchführen. Es ist ersichtlich, dass die Größe des Aufmerksamkeitsfensters die Anzahl der Spieloptionen des Außenverteidigers bestimmt.
Szenario 2: Derselbe Spieler erhält den Ball erneut im Assistraum und dribbelt in den Dri-Verbindungsraum© (Mitte; vgl. Kap. 8.2.2), nachdem ihn der 8er hinterlaufen hat. Im mittlere Verbindungsraum muss das Dribbling sehr sicher vorgetragen werden, da der Druck auf den Ball nunmehr von allen Seiten erfolgen kann: 6er, 10er, Innenverteidiger etc. Ballbesitz und Ruhe am Ball haben nun absolute Priorität.
Und hierin liegt oftmals das Problem: Die Spieler geraten auf ungewohntem Terrain unter hohen Raum-, Zeit- und damit psychischen Druck und richten ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf den Ausführungsprozess. Dadurch schränken sie ihre natürlichen Freiheitsgrade ein. Kommunizieren und coachen Trainer/Lehrer am Spielfeldrand zusätzlich noch fehlerorientiert, wird dieser Prozess noch (negativ) verstärkt.
Zumeist tritt dann ein sogenanntes Choking under Pressure ein, das dem Versagen unter Druck im Sinne des Explicit-Monitoring-Ansatzes von Gray (2004) entspricht. Dieser ist nach Einschätzung der Autoren jedoch nicht der einzige Erklärungsansatz für nicht situationsadäquate Entscheidungen.
Oftmals liegt es einfach an einer fehlenden Schulung im Spielraum. Das heißt, dass der Spieler in diesem (und auch in anderen Räumen (vgl. Kap. 8.2)) im Rahmen seiner Fußballausbildung wenig(er) Erfahrung sammeln konnte und er insbesondere in Drucksituationen, die ja im heutigen leistungsorientierten Fußball immer zugegen sind, seine Aufmerksamkeit auf Aspekte fokussiert, die von geübten Spielern im mittleren Verbindungsraum nicht als bedeutend für die Bewegungsausführung wahrgenommen werden.
Die fehlerhafte Lösung liegt demnach häufig in der geringen Vertrautheit mit den Handlungen im entsprechenden Spielraum begründet. Anders formuliert heißt das: „Es ist wichtig für Spieler, in jungen Jahren zunächst in kleinen Vereinen zu spielen. Da dürfen sie sich mehr trauen als in großen.“
(Basketball-Bundestrainer Chris Fleming am 17.06.2015, S. 30)
An dieser Stelle setzen die Autoren mit ihrem eigenen Schulungsansatz an: mit der Hyballa/te Poel-Dri-Raumkarte© (vgl. Kap. 8.2).
Gemeinsam mit dem Kognitions- und Sportspielforscher Prof. Dr. D. Memmert (2014, S. 118) sind die Autoren der Auffassung, dass Spieler durch ein entsprechendes Training, Coaching und Testing (Diagnostik)[25] in die Lage versetzt werden sollen, ihre Aufmerksamkeitsrichtung (und die damit verbundene Wahrnehmung, Antizipation, Kreativität und Spielintelligenz) derart zu steuern, dass sie bedeutende von weniger bedeutenden Informationen für ihre Entscheidungsfindung unterscheiden können. Das trifft insbesondere in Situationen zu, in denen Variabilität und Kreativität gefragt sind. Hier benötigen die Dribbler einen möglichst breiten Aufmerksamkeitsfokus.
Legen wir diese empirisch abgesicherte Expertise als ein wichtiges theoretisches Element der Hyballa/te Poel-Dri-Raumkarte© zugrunde, kann man vier Subprozesse der Aufmerksamkeit unterscheiden, die die Autoren nachfolgend in einer Abbildung praxisrelevant für das offensive Dribbling verdeutlichen:
[26]Abb. 2: Anforderungen an die Aufmerksamkeit des dribbelnden Spielers (vgl. Furley & Memmert, 2009)
© picture-alliance/dpa
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Welche praktischen Konsequenzen für das Aufmerksamkeitstraining im Dribbling 1-gegen1-offensiv kann man daraus ableiten (vgl. Memmert, 2014, S. 117-133)?
Zur Aufmerksamkeitsorientierung: Die Hinweise des Trainers/Lehrers sollen einfach zu verstehen und klar formuliert sein. Die Orientierungshinweise sind der jeweiligen Spielsituation zuzuordnen und durch ein gezieltes Wiederholen zu verstärken. Das trifft insbesondere für das Anfängertraining zu.
Zur selektiven Aufmerksamkeit: Die Entwicklung von Trainingsarrangements (taktische Marschrouten und Ablaufbewegungen), damit der Aufmerksamkeitsfokus auf bestimmte Bereiche gelenkt werden soll. Die selektive Wahrnehmung ist häufig an räumliche Prozesse gebunden. In vielen Fällen kann die Fokussierung auf das Bewegungsziel (externaler Aufmerksamkeitsfokus), statt auf die Bewegung selbst (internaler Aufmerksamkeitsfokus), von Vorteil sein. Achtung: Die Flexibilität der Aufmerksamkeit der Spieler soll nicht zu sehr reduziert werden. Das bewusste, unbewusste und entdeckende Lernen soll für die Spieler möglich bleiben (Stichworte Ganzheitlichkeit und Kindertraining).
Zur geteilten Aufmerksamkeit: Spielformen entwickeln, die die Aufmerksamkeitsressourcen des Dribblers auf zwei Bereiche verteilen.
Beispiele:
Ballhalten und neuartige Finte für den Durchbruch in den freien Raum kreieren.
Variationen bei der Wahl der Mit- und Gegenspieler, der Anzahl der Bälle, der Farben der Leibchen, der Anzahl und Größe der Räume etc.
Zur Konzentration: Übungs- und Spielformen entwickeln, die die Aufmerksamkeit über einen gewissen Zeitraum hochhalten. Lang anhaltende Aufmerksamkeitsprozesse sind oftmals an zeitliche Prozesse gebunden.
Beispiele:
Audiovisuelle Störquellen einbeziehen.
Provokationsregeln einsetzen: 1-2 Minuten vor Schluss, in der Nachspielzeit, in der Verlängerung, nur in der eigenen oder gegnerischen Spielfeldhälfte, nur am Mittelkreis etc.
In jedem dieser Spielräume kommen demnach auf den Spieler fußballspezifische Anforderungen zu, die er mithilfe der Aufmerksamkeit unterschiedlich bewältigen kann.
Konkret: Wie bereits hervorgehoben, laufen die Prozesse in einem Fußballspiel zwischen ca. 130-160 Millisekunden ab, manche sogar noch viel schneller. Diese basieren auf zweidimensionalen Bilddaten der Augen. Daraus wird im Gehirn ein dreidimensionaler Sehraum konstruiert. Hierzu müssen folgende Voraussetzungen geschaffen werden: In welchem Raum befinde ich mich als Spieler, wo sind der Ball und der/die Mitspieler und wohin soll gedribbelt, gepasst, eingeworfen oder geschossen werden?
Danach folgt die motorische Umsetzung, zunächst vollkommen unbewusst (vgl. Karnath & Thier, 2012). Diese hat jedoch ein vollkommen anderes Koordinatensystem: Skelettelemente und Muskulatur. Da die Kapazität unseres Seh- und Aufmerksamkeitssystems begrenzt ist und die übergroße Zahl der Freiheitsgrade bei der motorischen Realisierung ein weiteres Problem für den Spieler darstellt, muss sich das ZNS entscheiden.
Ortszellen[27] und Spiegelneurone[28] können helfen,...