Kapitel 2
Das Vermögen des menschlichen Herzens, heimzufinden
Das Schlüsselwort für meinen Zugang zum geistlichen Leben heißt Horchen. Damit ist eine besondere Art des Horchens gemeint, ein Hinhorchen des Herzens … Um mit dem Herzen zu horchen, müssen wir immer wieder zu unserem Herzen zurückkehren, indem wir uns die Dinge zu Herzen nehmen. Wenn wir mit dem Herzen horchen, werden wir Sinn finden.
Aus: Achtsamkeit des Herzens, 13f.
Meiner Überzeugung nach steckt im Kern jeder religiösen Tradition eine uns allen zugängliche Erfahrung, sofern wir unser Herz für sie öffnen. Das Herz jeder Religion ist die Religion des Herzens.
Herz steht hier für den Kern unseres Wesens, in dem wir mit uns selbst eins sind, eins mit allen, eins sogar mit dem göttlichen Grund unseres Wesens. Deswegen ist ein Schlüsselwort für das Verständnis des Herzens der Begriff Dazugehören – das Einssein im grenzenlosen Dazugehören. Ein zweites Schlüsselwort ist Sinn, denn das Herz ist das Organ für den Sinn. Wie das Auge Licht wahrnimmt und das Ohr Klang, so nimmt das Herz Sinn wahr. Gemeint ist hier nicht Sinn mit der Bedeutung, wie wir im Wörterbuch den Sinn eines Begriffs nachschlagen, sondern Sinn als das, was wir meinen, wenn wir eine Erfahrung als zutiefst sinnvoll bezeichnen. Sinn mit dieser Bedeutung ist das, worin wir Ruhe finden.
Der großer Lehrmeister bezüglich des Herzens ist in der christlichen Tradition der heilige Augustinus. Dass er Afrikaner war, mag ein Grund dafür sein, dass er besonders achtsam mit Seele und Herz umging. Er lebte zur Zeit des Zusammenbruchs des Römerreichs an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert – was den Zusammenbruch der damals bekannten Welt bedeutete −, wandte sich nach innen und entdeckte das Herz. In der christlichen Kunst wird er so dargestellt, dass er mit der Hand ein Herz hochhält.
Der heilige Augustinus schrieb: »In meinem innersten Herzen ist Gott mir näher als ich mir selbst nahe bin.« Paradoxerweise schrieb er auch: »Ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir, o Gott.« Das erste dieser beiden Zitate bringt unsere tiefste Sehnsucht zum Ausdruck, das zweite unsere rastlose Sehnsucht nach endgültigem Sinn. Am Ende unserer Suche entdecken wir den Sinn unseres Dazugehörens. Und die Antriebskraft der spirituellen Suche ist unsere Sehnsucht nach dem Dazugehören.
Wer das anhand seiner eigenen Erfahrung konkreter überprüfen möchte, könnte einfach versuchen, sich jetzt einmal aus seiner Erinnerung einen seiner lebendigsten, wachsten Augenblicke zu vergegenwärtigen. Die Psychologen bezeichnen solche Augenblicke als »Gipfelerfahrungen«; im religiösen Sprachgebrauch nennt man solche Erfahrungen »mystische Augenblicke«. Die mystische Erfahrung ist ein (oft plötzliches) Gewahrwerden, dass man mit dem Unendlichen eins ist, oder wenn man so will, sie ist ein Empfinden grenzenlosen Gehörens zu Gott. Man fühlt sich da plötzlich einen kurzen Moment lang nicht mehr »draußen«, wie wir das so oft tun, wenn wir uns im Universum wie Waisen fühlen. Es fühlt sich an wie ein Heimkommen an den Ort, wohin man gehört.
Wir alle haben schon solche Augenblicke erlebt, auch wenn wir uns scheuen mögen, sie als »mystisch« zu bezeichnen. Richtig verstanden, ist der Mystiker keine besondere Art von Mensch, sondern jeder Mensch ist eine besondere Art von Mystiker. Das ist letztlich unsere Berufung. In Gipfelerfahrungen erhaschen wir einen Blick darauf, wie das Leben aussehen könnte, wenn die Menschen in echter Beziehung zueinander und zu allem Seienden wären, und das nicht in einem Klima der Entfremdung, sondern mit dem tiefen Gefühl, zusammenzugehören. Wir alle werden von dem kurzen Aufblitzen, das wir in unseren besten Augenblicken erleben, herausgefordert. Diejenigen, die sich auf diese Herausforderung einlassen, werden Mystiker.
Entsinnen Sie sich, wie solche Augenblicke kurzen Aufblitzens uns gerade dann überraschen, wenn wir sie am wenigsten erwarten? Thomas Merton empfand sich an einer Straßenecke in Louisville in Kentucky jäh mit allen Menschen eins, obwohl er dort bloß gerade unterwegs war, weil er zum Zahnarzt gehen musste. Er schrieb: »In Louisville, an der Ecke von Fourth und Walnut Street, mitten in der Einkaufspassage, überwältigte mich plötzlich das Bewusstsein, dass ich alle diese Menschen liebte, dass sie mir gehörten und ich ihnen, dass wir einander nicht fremd sein konnten, obwohl wir ganz und gar Fremde füreinander waren. Es war, als erwachte ich aus einem Traum des Abgeschiedenseins, des Isoliertseins als Partikel in einer Eigenwelt für mich, in der Welt der Entsagung und der vorgeblichen Heiligkeit.«2
Man kann dieses grenzenlose Dazugehören auf einem Berggipfel empfinden, oder beim Musikhören. Aber man kann davon auch genauso überrascht werden, wenn man mit seinem Auto im dichten Berufsverkehr steckt oder die Windeln seines Kleinkinds wechselt. Sooft es einen trifft, weiß man: Das ist es! Das ist sozusagen die Antwort auf eine Frage, die wir dauernd mit uns herumtragen, sie nicht in Worte fassen, aber auch nicht einfach in den Wind schlagen können. Vielleicht können wir auch die Antwort gar nicht in Worte fassen – denn wer kann schon den Sinn eines Sonnenaufgangs in Worte fassen? −, aber wir können in ihr ruhen. Wir sind heimgekommen. Wir haben Sinn gefunden.
Jede religiöse Tradition beginnt mit der mystischen Einsicht ihres (bekannten oder unbekannten) Gründers. Jede von ihnen hat als höchstes Ziel, ihre Anhänger zum mystischen Einswerden mit der letzten Wirklichkeit zu führen.
Das sorgfältige Achten auf unsere Augenblicke des Sinns, so flüchtig sie auch sein mögen, kann uns sogar noch weiter führen. Sie bescheren uns ein kurzes Verschmecken des Nektars und der Süße aller der verschiedenen Religionen, die im Garten der Welt blühen, genau wie die vielen Blumen, die es gibt. Unsere Augenblicke der Sinn-Erfahrung liefern uns zudem einen Raster zum Verständnis der Unterschiede – und auch der wechselseitigen Beziehungen – zwischen den Weltreligionen. Um diesen Raster genauer zu erkennen, müssen wir tiefer blicken. Wir müssen sorgfältig einige subtile Aspekte der Erfahrung ins Auge fassen, auf die wir vielleicht noch gar nicht geachtet hatten.
Wenn wir eine bedeutungsvolle Begegnung haben oder etwas für uns tief Sinnvolles lesen oder sehen, können wir sagen: »Das spricht mich an.« Was immer das sein mag, was da für uns Sinn ergibt, sagt uns etwas, hat eine Botschaft für uns; und von daher gesehen nenne ich es Wort. Damit ist offensichtlich nicht von einem Wort aus einem Wörterbuch die Rede. »Wort« steht hier im weitesten Sinn für etwas, das Sinn verkörpert – zum Beispiel für die Kerze, die man auf einem festlich gedeckten Tisch zur gemeinsamen Mahlzeit mit einem Freund anzündet. Sooft wir Sinn »finden«, fällt es uns nicht schwer, zu sehen, dass es etwas geben muss, das Sinn »hat«.
Etwas schwieriger wird es, wenn wir uns einem zweiten Aspekt jeder sinnvollen Erfahrung zuwenden, einem, dem wir weniger Aufmerksamkeit zu widmen neigen: dem Schweigen. Dafür mag uns ein Beispiel helfen: Wir können ziemlich rasch unterscheiden zwischen einem bloßen Austausch von Worten und einem sinnvollen Gespräch. In einem echten Gespräch teilen wir etwas miteinander, das tiefer als Worte geht: Wir ermöglichen es dem Schweigen unseres Herzens, zu Wort zu kommen. Im Gegensatz zu einem Austausch von Worten ist ein echter Dialog zwischen Freunden eher ein Austausch von Schweigen mit Schweigen mittels Worten.
Wort und Schweigen in diesem Sinn haben wir schon erfahren. Indem wir unsere Aufmerksamkeit darauf konzentrieren, können wir beides als wesentliche Aspekte alles Sinnvollen unterscheiden. Aber wir müssen noch einen dritten Aspekt erkunden: das Verstehen. Wollen wir etwas als sinnvoll bezeichnen, setzt das Verstehen voraus. Ohne Verstehen haben weder das Wort noch das Schweigen Sinn. Was genau ist also das Verstehen? Wir können es uns als Prozess vorstellen, durch den das Schweigen ins Wort kommt und das Wort, indem es verstanden wird, ins Schweigen zurückkehrt.
In der amerikanischen Umgangssprache gibt es eine eigenartige Redewendung: Wenn uns etwas – sagen wir ein Musikstück oder ein bewegender Augenblick (also etwas, das »Wort« ist) recht sinnvoll erscheint, sagen wir womöglich: »This really takes me …« oder »transports me …« oder »sends me …«3 Hier gibt uns die Sprache einen Hinweis. Wenn das Wort uns tief anrührt, packt es uns und schickt uns ins praktische Tun. Paradoxerweise stimmt da beides: Wird das Wort verstanden, so kommt es im Schweigen zur Ruhe; aber diese Ruhe ist kein Nichtstun, sondern ein recht dynamisches Tun. So ereignet sich also Verstehen dann, wenn wir derart bereitwillig auf das Wort hören, dass es uns zum Tun bewegt und uns dadurch ins Schweigen zurückführt, aus dem es kam und zu dem es zurückkehrt. Durch Tun verstehen wir.
Da jede religiöse Tradition Ausdruck der ewigen Suche des menschlichen Herzens nach Sinn ist, zeichnen diese drei Aspekte des Sinns – Wort, Schweigen und Verstehen – auch die Weltreligionen aus. Alle drei stecken in jeder Tradition, weil sie für den Sinn wesentlich sind, aber wir können damit rechnen, dass sie unterschiedliche Schwerpunkte setzen. In den Urreligionen – zum Beispiel der Einwohner Afrikas oder Ureinwohner Amerikas – werden unsere drei Sinn-Aspekte immer noch ziemlich...