ZUM THEMA
Das Erscheinen des Typus des modernen Dirigenten im 19. Jahrhundert vollzog sich auf italienischem Boden auf eine Weise, die nur in enger Korrelation mit den prävalenten Kompositionsprinzipien der landesspezifischen Opernproduktion betrachtet werden kann. Dabei darf die schrittweise Öffnung der tradierten Form einer Arie als viersätzige Folge von Scena, Cantabile, Tempo di mezzo und Cabaletta zu höherer Geschlossenheit und Individualisierung im musikdramatischen Kontext nicht intentional im Sinne einer teleologischen Entwicklung verstanden werden. Dafür ist allein schon die beherrschende Figur Verdis ein Garant, der die altbewährten Genres des italienischen Operntheaters niemals infrage stellte, sondern der mit seinen Bühnenwerken über Jahrzehnte derart erfolgreich war, dass er die Gattung der italienischen Oper von innen heraus zu verwandeln vermochte. Betrachtet man darüber hinaus die praktische Leitung des musikalischen Geschehens sozusagen als Außenseite der Werkentstehung, wird andererseits der »absichtslos« experimentelle Charakter der schrittweisen Übernahme anderer Strukturen wie etwa der Integration alles Rezitativischen in den orchestralen Erzählfluss deutlich, wie sie von jenseits der Alpen Einzug in die italienische Operndramaturgie gehalten hat. Das Accompagnato fällt in der Tat als Erstes ins Auge, wenn es um die Notwendigkeit geht, solche musikdramatisch bedeutsamen Momente nicht mehr vom Instrument aus, sondern mit der Hand allein zu leiten. Taktfiguren mussten erfunden werden. Doch wie verhielt es sich überhaupt mit der Einführung des aufrecht stehenden Dirigenten in Italien? Verlief sie parallel zu den anderen europäischen Kulturen?
Mit zunehmender Artikulation des »Besonderen« eines Werkes stiegen, von den Ausführenden selbst teilweise unbemerkt, ganz selbstverständlich auch die Anforderungen an dessen Wiedergabe. Bis zur Übernahme der nicht zuletzt durch Verdi angeregten Reformen zunächst der 1840er-, dann auch der 1870er-Jahre spielten die italienischen Orchester eine mehr oder minder »dekorative« Rolle im Gesamtereignis Oper, weil der Instrumentierung der Partituren noch geringe Bedeutung beigemessen wurde, der Probenaufwand infolgedessen gering ausfiel und das Personal außerdem nur teilweise mit professionellem Hintergrund musizierte. In Deutschland und Frankreich wurden Opernaufführungen längst von einem »instrumentfrei« agierenden Musiker – es sei denn, man wollte den Taktstock oder die Notenrolle als ein solches ansehen – geleitet, während in Italien niemand erstaunt war, wenn zu Beginn einer Vorstellung in den frühen 1860er-Jahren kein musikalischer Direktor heutiger Prägung an ein Extrapult trat, sondern der erste Geiger scheinbar allein für die Aus- und Aufführung verantwortlich war. Dass dieser bei der Einstudierung von einem Kollegen unterstützt wurde, der zeitweilig auch während des Abenddienstes noch am Tasteninstrument saß, häufig ohne zu spielen, konnte dabei weithin unbemerkt bleiben. Der Automatismus der Verteilung auf mehrere Rollen bei der Realisierung einer Opernaufführung – zur doppelten Orchester- und Sängerführung vor der Bühne gesellte sich zeitweilig noch ein kostümierter Chorleiter auf der Bühne – wich dem Bewusstsein höherer Verantwortung für die Individualkompetenz eines einzigen musikalischen Leiters. Italien wird damit zum Sonderfall innerhalb des europäischen Dirigentenpanoramas, weil die Verzahnung mit den Spezifika der landesüblichen Opernproduktion auch für eine entscheidende Verzögerung gegenüber den Dirigiertraditionen anderer Nationen sorgte. Namen, die der Entstehung des heutigen Dirigenten anderswo Vorschub leisteten wie jene von Habeneck, Berlioz, Spohr oder Mendelssohn sucht man in Italien vergeblich. Das hat folgenden Grund: Eine Situation, wie wir sie heute von jedem Opernhaus kennen und erwarten – mit dem Dirigenten als alleinigem Herrscher über alle musikalischen Komponenten einer Aufführung, Sänger wie Orchester, von einer Position aus mit dem Rücken zum Publikum Orchester und Bühne überschauend –, wurde in Italien erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts Realität. Warum perpetuierte man eine Tradition in Italien, die diesseits der Alpen Jahrzehnte früher aufgegeben worden war? Ging vom italienischen Violinmeister eine besondere Art der Suggestion aus, oder bedurften italienische Opern einfach nicht der gleichen musikalischen Kontrolle wie die Werke deutscher oder französischer Provenienz? Diese Fragen müssen mithilfe der Angaben zur musikalischen Leitung in den überlieferten Libretti, aus ikonografischem Material, aus theoretischen und ästhetischen Schriften sowie aus Besprechungen, Reiseberichten, Briefen und Theaterchroniken heraus beantwortet werden.
Die Geschichte des Dirigierens insgesamt ist natürlich kein linearer Prozess technischen Fortschritts. Der vom Lesepult aus agierende, allein verantwortliche musikalische Leiter erscheint als Endprodukt eines langsamen Ineinandergreifens verschiedener Praktiken über Generationen hinweg, abhängig jeweils von den Aufführungsorten, dem Genre und dem Land der musikalischen Darbietung. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts koexistierten hörbares Taktklopfen, verschiedene Ausprägungen der geteilten Direktion mit und ohne Spielbeteiligung der leitenden Musiker, unterschiedliche Dirigierwerkzeuge vom Geigenbogen bis zu einer Art Marschallstab und schließlich mannigfaltigste Standorte und Positionen. Auch als der Professionalisierungsprozess des Dirigierens in ganz Europa bereits weit vorangeschritten war, standen die ersten bekannten italienischen Dirigenten Angelo Mariani oder Franco Faccio nicht auf gleicher Bedeutungsebene wie Hans von Bülow, Arthur Nikisch oder Hans Richter. In Italien, wo die Oper erfunden worden war, hielt sie sich für mehr als 300 Jahre als dominierende musikalische Kunstform allen politischen Umwälzungen zum Trotz. Nach der italienischen Einigung von 1861 übernahm sie zudem die Funktion der Stifterin einer Art nationaler kultureller Identität und wurde schnell zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor. Von Cavour, dem ersten Ministerpräsidenten des neuen Königreichs, stammt das Wort von der »Opernindustrie«, das seither eine Standardformulierung in der Forschung geworden ist.1
Die vollständige Identifizierung alles Musikalischen mit dem Gesanglichen herrschte in Italien nicht zuletzt deshalb vor, weil die brillanten Anfänge des barocken Konzerts, also, wenn man so will, der Gegenposition zur Oper, im 18. Jahrhundert – sämtlich Exponate hoher instrumentaler Virtuosität – durch die Abwanderung der potenziellen Fortführer dieser Tradition – Boccherini nach Spanien, Clementi nach England und Cherubini nach Paris – nicht weiter vertieft werden konnten. Kompositorische Errungenschaften wie beispielsweise das Prinzip der sinfonischen Entwicklung gerieten dabei fast vollständig aus dem Blickfeld und wurden zunehmend als Bedrohung des melodischen Einfalls gesehen, des Kernelements italienischen Musikempfindens. Paris blieb auch in der Mitte des 19. Jahrhunderts europäischer Kristallisationspunkt der musikalischen Innovation und entzog Italien weiterhin wichtige Impulse, weil sich Rossini, Donizetti und Bellini der nördlichen Zentripetalkraft nicht verweigern wollten und deshalb die Erwartungshaltung des heimatlichen Publikums vom Formelhaften des ererbten Opernschematismus nur bedingt abzubringen vermochten.2 Kraft der überschau- und vorhersehbaren kompositorischen Muster einerseits und der sich ständig erneuernden Produktion für den Stückemarkt auf der anderen Seite blieb die Art und Weise der tradierten Ausführung der Werke im Schatten der Aufmerksamkeit und verließ sich auf die spezifisch italienische Variante der Doppeldirektion, ausgehend von der bereits im Barockzeitalter entstandenen Aufgabenteilung mit dem Geiger als Leiter von Instrumentalensembles und dem Komponisten am Cembalo, zuständig für das Opernorchester und die Gesangsstimmen.3
Während die Erforschung des Produktionssystems der italienischen Oper gut dokumentiert erscheint4, bleiben Art und Weise der musikalischen Leitung in den betreffenden Darstellungen unterrepräsentiert. Hier haben in besonderem Maße amerikanische Publikationen der letzten Jahrzehnte Abhilfe geleistet5, gefolgt von italienischen Beiträgen aus jüngster Zeit6, die sich jedoch auf Einzeldarstellungen beschränken. In der ersten Hälfte des Ottocento maß die interne Erwartungshaltung an eine italienische Oper der Partitur nicht denselben Stellenwert zu, wie ihn der interessierte zeitgenössische Besucher aus dem europäischen Ausland unter dem Vorbild der sinfonischen Tradition der Wiener Klassik auch auf der Halbinsel vorzufinden wünschte. Auskünfte aus den Lebensbeschreibungen Hector Berlioz’ und Louis Spohrs sind unter diesem Gesichtspunkt besonders ergiebig.7 Eine erste Zusammenfassung der europäischen Orchestersituation im 19. Jahrhundert von grundlegendem Charakter lieferte Adam Carse.8 Sie fand sinnvolle Ergänzung in umfassenden Studien zur...