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Die ungleiche Welt

Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht

AutorBranko Milanovi?
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl360 Seiten
ISBN9783518747827
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR

Extreme soziale Ungleichheit ist eines der drängendsten Probleme der Gegenwart. Anhand neuer, haushaltsbasierter Daten zu Einkommen und Vermögen untersucht Branko Milanovi? ihre Ursachen und Folgen differenzierter als alle anderen Forscher vor ihm. Er zeigt, dass zwar der Abstand zwischen armen und reichen Staaten geringer geworden ist, das Gefälle innerhalb einzelner Nationen jedoch dramatisch zugenommen hat. Zudem analysiert er den Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Migration und plädiert für ein liberales Einwanderungsrecht. Ein aktuelles, ein engagiertes Buch, das die Art und Weise, wie wir über unsere ungleiche Welt denken, verändert.




<p>Branko Milanovi?, geboren 1953, ist Wirtschaftswissenschaftler und z&auml;hlt zu den weltweit angesehensten Experten auf dem Gebiet der Einkommensverteilung. Er war unter anderem leitender &Ouml;konom der Forschungsabteilung der Weltbank. Milanovi? hatte Gastprofessuren an der University of Maryland, College Park, an der Johns Hopkins University und arbeitet seit 2014 als Visiting Presidential Professor am City University of New York Graduate Center.</p>

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Leseprobe

EINLEITUNG


 

 

 

Dies ist ein Buch über die Ungleichheit in der Welt. Ich untersuche sowohl die ungleiche Verteilung der Einkommen als auch die damit zusammenhängenden politischen Fragen in einer globalen Perspektive. Doch da es keine Weltregierung gibt, können wir nicht umhin, uns auch mit den einzelnen Nationalstaaten zu beschäftigen. Tatsächlich werden die politischen Antworten auf viele globale Fragen auf einzelstaatlicher Ebene gesucht. Daher wirkt sich größere Offenheit (ein intensiverer wirtschaftlicher Austausch zwischen Personen aus verschiedenen Ländern) nicht auf einer abstrakten globalen Ebene, sondern in den Ländern politisch aus, in denen die von diesem Austausch betroffenen Menschen leben. Beispielsweise könnte die Globalisierung dazu führen, dass chinesische Arbeiter von ihrer Regierung verlangen, ihnen das Recht zum gewerkschaftlichen Zusammenschluss zuzugestehen, und amerikanische Arbeiter könnten ihre Regierung drängen, Schutzzölle zu verhängen.

Aber obwohl die Entwicklungen in den einzelnen Volkswirtschaften wichtig sind und fast alle politischen Maßnahmen auf dieser Ebene ergriffen werden, hat die Globalisierung zusehends Folgen für unser Einkommen, unsere Berufsaussichten, den Umfang unseres Wissens und unserer Information, die Kosten unserer Verbrauchsgüter und die Verfügbarkeit frischen Obstes im tiefsten Winter. Und die Globalisierung ändert die Spielregeln, indem sie die im Entstehen begriffene globale Governance fördert, sei es durch die Welthandelsorganisation, Vereinbarungen über den Klimaschutz oder Maßnahmen gegen die internationale Steuerhinterziehung.

Daher dürfen wir die Einkommensungleichheit nicht länger nur als nationales Phänomen betrachten, wie wir es in den vergangenen hundert Jahren getan haben. Sie ist ein globales Problem. Ein Grund dafür, dass wir diese Perspektive wählen sollten, ist die Neugierde (ein Wesenszug, den Adam Smith sehr schätzte), das heißt, der Wunsch zu wissen, wie andere Menschen in anderen Ländern leben. Aber neben bloßer Neugier dienen Erkenntnisse über das Leben und Einkommen anderer Menschen auch einem praktischen Zweck: Sie können uns die Entscheidungen darüber erleichtern, was wir wo kaufen oder verkaufen sollen, sie können uns helfen zu lernen, wie wir Aufgaben besser und effizienter erfüllen können, und sie können nützlich sein, wenn wir darüber nachdenken, in welches Land wir auswandern sollen. Oder wir können daraus lernen, wie die Dinge anderswo in der Welt gemacht werden: wenn wir mit unserem Chef über eine Gehaltserhöhung verhandeln, wenn wir uns gegen das Passivrauchen wehren oder wenn wir im Restaurant die Essensreste mit nach Hause nehmen wollen (die Doggy Bag hat sich von Land zu Land ausgebreitet).

Ein weiterer Grund dafür, dass wir uns auf die globale Ungleichheit konzentrieren sollten, ist einfach, dass wir mittlerweile die Möglichkeit dazu haben: In den letzten zehn Jahren sind erstmals in der Geschichte der Menschheit Daten verfügbar geworden, die uns in die Lage versetzen, die Einkommen von Menschen in aller Welt miteinander zu vergleichen.

Ich bin jedoch überzeugt, dass die Leser wie ich der Meinung sein werden, dass der wichtigste Grund für die Auseinandersetzung mit der Ungleichheit in der Welt darin besteht, dass uns ihre Entwicklung in den vergangenen zwei Jahrhunderten und insbesondere im letzten Vierteljahrhundert vor Augen führt, wie sich die Welt verändert hat. Die Veränderungen der globalen Ungleichheit geben Aufschluss über den wirtschaftlichen (und oft politischen) Aufstieg und Niedergang von Nationen, über die Entwicklung der Ungleichheit innerhalb der einzelnen Länder und über die Verdrängung eines gesellschaftlichen oder politischen Systems durch ein anderes. Der Aufstieg Westeuropas und Nordamerikas nach der industriellen Revolution verschärfte die globale Ungleichheit. In jüngerer Zeit hat das rasche Wachstum mehrerer asiatischer Länder eine ähnlich große Wirkung gehabt und die Ungleichheit in der Welt wieder verringert. Und das Ausmaß der nationalen Ungleichheit hat sich global ausgewirkt, zum Beispiel, als sie in England zu Beginn der Industrialisierung oder in China und den Vereinigten Staaten in den letzten Jahrzehnten zunahm. Die Entwicklung der Ungleichheit ist ein wichtiger Bestandteil der Wirtschaftsgeschichte der Welt.

Am Anfang dieses Buchs steht eine Beschreibung und Analyse der bedeutsamsten Veränderungen in der globalen Einkommensverteilung seit 1988. Dabei stützen wir uns auf Daten aus Haushaltserhebungen. Das Jahr 1988 ist ein geeigneter Ausgangspunkt, weil ziemlich genau zu diesem Zeitpunkt die Berliner Mauer fiel und die kommunistischen Volkswirtschaften wieder in die Weltwirtschaft eingegliedert wurden. Wenige Jahre zuvor hatte die ökonomische Öffnung Chinas begonnen. Dass heute mehr Haushaltserhebungen zur Verfügung stehen, die wiederum die entscheidende Quelle zur Erforschung der globalen Ungleichheit sind, hängt mit diesen Entwicklungen zusammen. Gegenstand der Untersuchung in Kapitel 1 sind insbesondere (1) der Aufstieg der »globalen Mittelschicht«, die überwiegend in China und anderen aufstrebenden asiatischen Ländern zu Hause ist, (2) die Stagnation jener Gruppen, die im globalen Vergleich wohlhabend sind, in den reichen Ländern jedoch als Mittel- oder untere Mittelschicht eingestuft werden, und (3) die Entstehung einer globalen Plutokratie. Diese drei herausragenden Entwicklungen im vergangenen Vierteljahrhundert werfen bedeutsame Fragen zur Zukunft der Demokratie auf, mit denen ich mich in Kapitel 4 beschäftigen werde. Aber bevor wir beginnen können, über die Zukunft nachzudenken, müssen wir verstehen, wie sich die Ungleichheit in der Welt langfristig entwickelt hat.

Die globale Ungleichheit, das heißt die Einkommensungleichheit zwischen den Bürgern der Welt, kann formal als Gesamtheit der Ungleichverteilungen innerhalb der einzelnen Länder plus die Summe der Unterschiede zwischen den Durchschnittseinkommen der verschiedenen Länder betrachtet werden. Der erste Bestandteil ist die Ungleichverteilung der Einkommen zwischen reichen und armen Amerikanern, reichen und armen Mexikanern usw. Der zweite Bestandteil entspricht den Einkommensunterschieden zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko, Spanien und Marokko usw. In Kapitel 2 werden wir uns die Ungleichheit innerhalb der Länder, in Kapitel 3 die Ungleichheit zwischen den Ländern ansehen.

Bei der Analyse in Kapitel 2 stütze ich mich auf Langzeitdaten zur Einkommensungleichheit. Diese Daten reichen in einigen Fällen bis ins Mittelalter zurück. Das Ergebnis dieser Analyse ist eine Neuformulierung der Kuznets-Hypothese, die so etwas wie das Arbeitspferd der Ungleichheitsforschung ist. Die in den fünfziger Jahren von dem Nobelpreisträger Simon Kuznets formulierte Hypothese besagt, dass Industrialisierung und steigende Durchschnittseinkommen zunächst mit wachsender Ungleichheit einhergehen; anschließend nimmt diese jedoch wieder ab. Setzt man die Ungleichheit in Beziehung zum Einkommen und stellt das Verhältnis grafisch dar, so erhält man eine umgekehrte U-Kurve. In den letzten Jahren hat sich jedoch gezeigt, dass die Kuznets-Hypothese nicht geeignet ist, ein neues Phänomen in den Vereinigten Staaten und anderen reichen Ländern zu erklären: Nachdem die Einkommensungleichheit über weite Strecken des 20. Jahrhunderts zurückging, nimmt sie seit einigen Jahren wieder zu. Diese Entwicklung ist nicht mit der Kuznets-Hypothese in ihrer ursprünglichen Form vereinbar: Träfe sie zu, hätte es nicht zu dieser Zunahme der Ungleichheit in den reichen Ländern kommen dürfen.

Auf der Suche nach einer Erklärung für die jüngste Zunahme der Ungleichheit und für ihre Entwicklung in der Vergangenheit gehe ich bis in die Zeit vor der industriellen Revolution zurück und führe das Konzept der Kuznets-Wellen (oder Kuznets-Zyklen) ein. Tatsächlich können die Kuznets-Wellen nicht nur die jüngste Zunahme der Ungleichheit erklären, sondern sie eignen sich auch, um die zukünftige Entwicklung in reichen Ländern wie den Vereinigten Staaten und in Schwellenländern wie China und Brasilien vorauszusagen. Ich unterscheide bei der Anwendung der Kuznets-Zyklen zwischen Ländern mit stagnierendem Einkommen (vor der industriellen Revolution) und Ländern mit stetig steigendem Durchschnittseinkommen (in der Moderne). Sodann unterscheide ich zwischen zwei Arten von Kräften, die der Ungleichheit entgegenwirken: Dies sind »bösartige« Kräfte wie Kriege, Naturkatastrophen und Epidemien sowie »gutartige« Kräfte wie eine Ausweitung der Bildung, erhöhte Sozialtransfers und eine progressive Besteuerung. Insbesondere widme ich mich der Rolle von Kriegen, die in einigen Fällen das Ergebnis einer ausgeprägten Ungleichheit in den Ländern, einer zu geringen aggregierten Nachfrage und des Bemühens sind, andere Länder unter Kontrolle zu bringen, um neue Profitquellen zu erschließen. Kriege können die Ungleichheit verringern, führen jedoch auch zu einer Verringerung der Durchschnittseinkommen.

Kapitel 3 ist den Einkommensunterschieden zwischen Ländern gewidmet. Hier stoßen wir auf die interessante Tatsache, dass die globale Ungleichheit zum ersten Mal seit der industriellen Revolution vor zwei Jahrhunderten nicht in erster Linie die Folge eines wachsenden Einkommensgefälles zwischen den Ländern ist. Mit dem Anstieg des Durchschnittseinkommens in einigen asiatischen Staaten ist die Kluft zwischen den Ländern kleiner geworden. Setzt sich die wirtschaftliche Konvergenz fort, so wird nicht nur die globale Ungleichheit abnehmen, sondern die Ungleichheit innerhalb der einzelnen Länder wird deutlicher zutage treten. Möglicherweise werden wir...

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