Drei Konzepte fürs Leben
9. Februar 2003
Letzter Sonntag nach Epiphanias
Matthäus 17,1-9
Mose, Elia und Jesus - drei Männer, drei Epochen, drei Konzepte. Wie im Zeitraffer, als Lichtgestalten, begegnen sie einander auf einem Berg. Sie sprechen miteinander.
Petrus, Jakobus und Johannes, drei der Jünger Jesu, hätten wohl gern gewusst, worüber sich die drei unterhielten. „Lass uns doch hier drei Hütten bauen“, sagt Petrus, „für dich, Jesus, für Mose und für Elia.“ Er hätte das erlesene Trio wohl gern für etwas länger festgehalten.
Mose, Elia und Jesus - sie verkörpern drei Konzepte, drei Konzepte für den Umgang mit dem Menschen, für den Umgang mit den Problemseiten des Menschen insbesondere.
Mose bringt das Gesetz, die Gebote: Das darfst du, das darfst du nicht. Nun weißt du, Mensch, wie du dich zu verhalten hast.
Elia, der Prophet, mahnt. Er droht Unheil an bei Fehlverhalten und stellt Heil in Aussicht bei Wohlverhalten.
Jesus bringt Liebe und Vergebung als Geschenk und Auftrag.
Die drei Männer handeln im Auftrag Gottes, ja, Gott selbst spricht und handelt durch sie, so schildern es uns die biblischen Texte. Und wenn sie es so schildern, dann wollen sie uns damit sagen: Die Botschaft, die durch diese drei an uns ergeht, ist von sehr grundsätzlicher Art, diese Botschaft ist von existentieller Bedeutung, sie beansprucht höchste Aufmerksamkeit, größten Respekt, hat den höchsten Grad der Verbindlichkeit.
Drei Männer, drei Konzepte; es sind nicht alternative Konzepte im Sinne von „entweder - oder“. Vielmehr ergänzen sie einander. Sie sind eine Fortentwicklung.
„Kein Tüttelchen vom Gesetz soll verloren gehen“, sagte Jesus einmal. Aber das Gesetz ist nicht alles. Es reicht einfach nicht als Antwort auf das fortgesetzte Fehlverhalten des Menschen.
Wenn wir ein Kind zu erziehen haben und das Kind lügt, werden wir sagen: „Du sollst nicht lügen.“ Das entspricht dem 8. Gebot des Mose. Für das Kind ist es wichtig zu wissen: Ich darf nicht lügen. Es wird allerdings trotz dieses Wissens möglicherweise doch noch einmal lügen. Dann mag es für das Kind eine weitere Hilfe sein, wenn wir es ermahnen und es auf die problematischen Folgen des Lügens hinweisen: „Wenn du lügst, verlierst du das Vertrauen des Menschen, den du anlügst. Der glaubt dir künftig auch dann nicht mehr, wenn du die Wahrheit sagst. Also lass das Lügen, dann bewahrst du dir das Vertrauen deiner Mitmenschen.“
Ein solcher mahnender Hinweis ist für das Kind gewiss eine zusätzliche Hilfe - über die bloße Kenntnis des Gebotes hinaus.
Aber trotz der Kenntnis des Gebotes und trotz des mahnenden Hinweises auf die Folgen des Lügens, wird das Kind möglicherweise doch noch einmal lügen. Was dann?
Was tun, wenn weder die Kenntnis von Gut und Böse noch die Folgen des Verhaltens - im Guten wie im Bösen - zu einem generellen Wohlverhalten führen? Wenn sich also herausstellt, dass das Kind in seinem Wesen letztlich unbelehrbar und unverbesserlich ist?
Dann werden wir vielleicht zu der Einsicht gelangen, dass wir die Beziehung zu unserem Kind nur fortsetzen können, wenn wir uns zweierlei sagen:
1. Es gibt für uns noch etwas Wichtigeres als das Wohlverhalten unseres Kindes. Wichtiger ist uns nämlich, dass es unser geliebtes Kind ist, unser liebes Kind - nicht ein liebes Kind, das ist es ja oftmals eben nicht, aber unser liebes Kind, unser, von uns geliebtes Kind. Das ist uns wichtig, erstens.
Und 2.: Da wir erkannt haben, dass konsequentes Wohlverhalten nicht zu erwarten ist, machen wir immer wieder einen Schnitt im Verlaufe der Beziehung zum Kind und sagen: „So, das war nicht gut. Aber morgen fangen wir noch einmal neu an.“ Und wir gehen davon aus, dass wir übermorgen auch wieder neu anfangen und überübermorgen auch, dass dies also eine fortwährende Sache sein wird.
In unserem Verhältnis zu unserem Kind werden wir also erstens immer wieder die Gebote des Mose zur Geltung bringen, wir werden zweitens immer wieder im Sinne des Elia mahnen und auf die Folgen des Tuns hinweisen und werden ggf. auch Strafen auferlegen. Aber wir werden drittens im Sinne Jesu nicht nachlassen, unserem Kind immer wieder unsere Liebe zu bezeigen und ihm die Chance zur Besserung zu eröffnen.
Mose, Elia, Jesus - drei Männer, drei Konzepte, die gleichzeitig ihre Gültigkeit haben. In Bezug auf den Umgang mit den eigenen Kindern und den uns ganz nahestehenden Menschen ist uns dieses dreifache Konzept geradezu eine Selbstverständlichkeit. Im Umgang mit uns fernerstehenden Menschen allerdings wird die Realisierung dieses Konzeptes zu einer enormen Herausforderung. An eben diesem Punkt erlangt das in Jesus Christus verkörperte Konzept seine große Bedeutung, seine Größe, seine Brisanz.
Der liebevolle, vergebende Umgang mit dem Fremden, mit dem Menschen schlechthin, ist das, was Jesus zum Christus macht. Denn in seinem Konzept steckt etwas Befreiendes, etwas Erlösendes. Es sprengt Fesseln und löst einen Knoten, an dem es bis dahin so schlecht weiterging. Denn Jesus, der Christus, macht mit seiner Art aus Fremden Freunde, macht aus Fremden Brüder und Schwestern. Er macht aus Fremden unsere Nächsten.
Ja, zunächst einmal - und das ist für uns das Schöne - zunächst einmal dürfen wir selbst uns seiner Freundschaft, seiner Liebe gewiss sein, dürfen wir selbst uns als seine Brüder und Schwestern verstehen, als seine Nächsten. Das ist sein Zuspruch an uns. Das ist entlastend für uns. Das befreit uns von der Fremdheit gegenüber dem Rest der Welt, die die Schöpfung des einen Gottes ist, des Vaters Jesu Christi, des Vaters aller Menschen.
Wir dürfen uns also zunächst selbst seiner Freundschaft und Liebe gewiss sein. Daraus erwächst dann auch ein Auftrag an uns, den Fremden als unseren Nächsten anzunehmen, dem Fremden so liebevoll zu begegnen, als wäre er einer unserer Lieben. Das ist natürlich ein ganz großer Auftrag. Dem können wir niemals gerecht werden. Das soll uns aber nicht erschrecken und kleinmütig machen. Mit diesem großen Auftrag ist uns die Richtung gewiesen auf ein Ziel hin, das zu erreichen nicht in unserer Hand liegt. Es geht um die Richtung, um den Weg.
Wir dürfen die liebevolle Art Jesu - und in ihr erkennen wir die Liebe Gottes zu uns - wir dürfen die liebevolle Art Jesu für uns selbst annehmen. Aber wir sollen sie nicht wie einen Raub festhalten. Wir sollen sie weitergeben. Wir sollen auch selbst Liebe üben. Das ist unser Auftrag für den Umgang mit den Menschen in unserem unmittelbaren Umfeld. Das ist unser gesellschaftlicher Auftrag. Das ist auch unser weltweiter Auftrag.
Auch auf die weltweite Dimension dieses Auftrags muss ich jetzt zu sprechen kommen. Das ist in diesen Wochen einfach immer wieder nötig.
Denn wir fragen uns ja: „Was sollen wir halten von dem, was da vor sich geht, wie sollen wir uns verhalten?“ Wir suchen nach Maßstäben, nach Orientierung. Das dreifache Konzept der drei Lichtgestalten Mose, Elia, Jesus Christus kann für uns eine Hilfe sein.
Das achte Gebot des Mose gilt unveränderlich: „Du sollst nicht lügen.“ Du sollst die Wahrheit sagen. Und das bedeutet ebenso: Wir sollen uns weder selbst etwas Unwahres vormachen, noch uns von anderen etwas Unwahres vormachen lassen. Wir müssen auf Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit dringen, auch und gerade in der Überlebensfrage von Krieg und Frieden. Ein Angriffskrieg ist ein Angriffskrieg. Ein Rechtsbruch ist ein Rechtsbruch. Das Gebot des Mose gilt. Und ebenso gelten die Gebote und Gesetze, auf die sich die Völkergemeinschaft aus jahrhundertelangen bitteren Erfahrungen heraus über viele Jahrzehnte hinweg in zähem Ringen verbindlich geeinigt hat. Das Recht des Stärkeren auf willkürliche Durchsetzung seiner eigenen Interessen ist durch die Satzung der Vereinten Nationen abgeschafft worden. Dazu haben sich auch die Vereinigten Staaten bekannt. Die derzeitige amerikanische Regierung nimmt aber das Recht des Stärkeren für sich in Anspruch. Da sollten wir uns nicht täuschen lassen. Das achte Gebot gilt.
Wir sollten uns auch nicht einreden lassen, dass es bei dem in die Wege geleiteten Krieg gegen den Irak um den Kampf gegen den Terrorismus ginge. Es geht um wirtschaftliche und militärische Interessen der Vereinigten Staaten. Das sollten wir deutlich sagen. Das achte Gebot gilt. Der Terrorismus erhält durch das Vorgehen der amerikanischen Regierung unendlich viel neue Nahrung.
Wir sollten auch Elia hören, der damals den König Ahab vor den Folgen seines Handelns warnte. Es weiß niemand, welche Folgen ein Krieg gegen den Irak haben wird. Die Warnung, dass es nicht nur dem irakischen Volk weiteres großes Leid zufügen wird, sondern auch andere Nationen und viele Menschen in aller Welt in Mitleidenschaft ziehen wird, dürfen wir nicht in den Wind schlagen.
Wir stehen vor dem Tatbestand, dass es ein Unrechtsregime in Bagdad gibt, dass es den Terrorismus gibt, dass es eine auf Krieg drängende Weltmacht gibt - und dass es weitere Atommächte gibt, dass...