Martin Walser, geb. 1927 in Wasserburg am Bodensee, beginnt seine literarische Karriere in der bereits wieder konsolidierten Nachkriegsgesellschaft der frühen 1950er Jahre. Als Mitglied der Gruppe 47 wendet sich Walser kritisch den Defiziten und Verkehrtheiten zu, die er in der Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft der Ära Adenauer feststellt; damit erweist sich Walser schon in seiner frühen Schaffensphase als ein am Geschick der Nation leidenschaftlich interessierter und engagierter Schriftsteller. In seinem Erstlingsroman Ehen in Philippsburg (1957) beschreibt Walser – festgemacht an der Realität der bundesdeutschen Gesellschafts- und Mentalitätsgeschichte – das Innenleben leidender (Klein-)Bürger. Jene literarischen Grundsätze, die für das Gelingen eines solchen Romans wirkmächtig sind und die die Ehen in Philippsburg mitgeprägt haben, sollen nicht unerwähnt bleiben.
Für Walser ist Anlass oder Thema der Literatur traditionell immer das, was dem Autor bzw. seiner Klasse noch fehlt an menschlicher Bedingung, oder das, worunter er und seinesgleichen deshalb zu leiden haben.[97] Walser reagiert schreibend auf die Mängel der alltäglichen Wirklichkeit. Er selbst hat unter den historischen Bedingungen seiner Zeit gelitten. In einem Interview aus dem Jahr 2002 formuliert Walser diesen Umstand so für sich: „Ich bin erst mit mir zufrieden, wenn ich mein Leben, meine Frequenz, mein Wundsein im Schreiben erkenne. Das ist dann etwas von diesem Schmerz, den einfach das Leben macht. Wenn die Welt so wäre, wie sie sein sollte, würde ich sicher nicht schreiben.“[98] Die Kategorie der Erfahrung, die das Verhältnis vom Bewusstsein des Schreibenden zur Realität markiert, nimmt in der Konzeption Martin Walsers einen zentralen Stellenwert ein und bildet folglich die Basis seiner Realismusvorstellungen: Walser sieht in seiner Aufgabe als Schriftsteller die Notwendigkeit, seine Mangelerfahrung durch das Schreiben auszuarbeiten und damit zu zeigen, dass es ein Bedürfnis nach Veränderung gibt. Für ihn antwortet die Literatur somit immer als „Gegenwehr“. Wie sich der Autor durch das Schreiben verändere, so könne sich auch der Leser – weil Lesen nur eine andere Art von Schreiben ist – verändern.[99]
Walser sympathisiert mit Menschen, deren Leben sich schwierig gestaltet, die zu den sog. „Verlierern“ bzw. zu den „Unterliegenden“ zählen. Zu den Unterliegenden gehört für ihn auch das Kleinbürgertum, dem er selbst entstammt und dem er sich in seinem Roman Ehen in Philippsburg wie in seinen übrigen Texten in besonderem Maße zugewandt hat.[100]
Was die Poetologie des Autors im engeren Sinne betrifft, so ist Walser einer realistischen Literaturvorstellung treu geblieben. Unter realistischer Schreibart versteht er „die auf ihren Anlaß bezogene“;[101] ihre Tendenz sei kritisch.[102] Die jeweiligen Anlässe zum Schreiben seien dabei nicht in der Literatur, sondern in der Realität zu suchen. Die realistische Ausdruckspraxis stelle an sich selbst den Anspruch, als Ausdruck eines historischen Moments nachprüfbar zu sein und ist ohne eine gesellschaftliche Funktion für Walser nicht gerechtfertigt.[103] Weiterhin hält Walser daran fest, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit konkret und nicht als allegorisches oder symbolisches Modell Romangegenstand sein kann. So sehr Walser am realistischen Ansatz seines Schreibens festhält, so wenig leugnet er gleichzeitig dessen autobiographische Notwendigkeit, so dass seine Texte in unterschiedlich starker Ausprägung das Innenleben ihres Verfassers enthüllen.[104]
Die realistische Literatur Walsers beabsichtigt aufzuzeigen, was wirklich geschieht. Die Gestaltung einer positiven Perspektive als solcher bleibt in seinen Romanen ausgespart. Vielmehr wird das Positive gerade durch die Darstellung des Negativen in der Literatur hervorgebracht und es bedarf somit keiner Lösungsvorschläge im Sinne von Alternativen oder Identifikationsfiguren. Der Leser ist gezwungen, Zusätzliches wahrzunehmen und wird so in einen Prozess seiner Bewusstseinsbildung über die Wirklichkeit hineingezogen.[105]
Um sich beruflich zu etablieren kommt Hans Beumann, ein junger Mann aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, nach Philippsburg, einer Metropole des deutschen Wirtschaftswunders. Durch die Beziehung zur Fabrikantentochter Anne Volkmann werden Beumann unverhofft die Türen zur „ehrenwerten Gesellschaft“ geöffnet: Annes Vater bietet ihm an, für dessen Firma die Öffentlichkeitsarbeit zu übernehmen. Es handelt sich jedoch nur um eine als Pressedienst getarnte Industriewerbung, und Hans wirft seine journalistischen Ideale schnell über Bord. Durch die zweckgebundene Verlobung mit Anne vollzieht sich für Hans innerhalb eines Jahres der Aufstieg in die vornehmsten Kreise der Philippsburger Gesellschaft; eine Gesellschaft, die das Prinzip des Kampfes aller gegen alle als Freiheit bestimmt. Zwei weitere Hauptfiguren, der Arzt Dr. Alf Benrath und der Rechtsanwalt Dr. Albert Alwin, werden als bereits etablierte Mitglieder der Philippsburger Gesellschaft vorgeführt. Die Schilderung ihrer Ehen erfolgt als Zweck- und Gewohnheitsbündnisse, die jedoch schon lange im Schatten ihrer diskret verschwiegenen Affären stehen. Als ein Resultat seines Anpassungsprozesses betrügt auch Beumann Anne mit einem Barmädchen und scheint in seiner Lebenslüge erfolgreich. Was geschieht, wenn man sich den Spielregeln der Philippsburger Gesellschaft nicht unterwirft, wird an der Außenseiterfigur Berthold Klaff dargestellt. Klaff, anders als Beumann unbeugsam, wählt als letzten Protest des Subjekts gegen die gewalttätig herrschenden Normen und Konventionen dieser Gesellschaft den Freitod.
In den Ehen in Philippsburg zeichnet Walser unter soziologischen und psychologischen Aspekten ein breit angelegtes Gesellschaftspanorama der 1950er Jahre. Der Roman lässt sich als Produkt der deutschen Verhältnisse dieser Zeit beschreiben. Walser zielt dabei kritisch auf die bundesrepublikanische Wiederaufbaumentalität und Karrieregesellschaft, auf korrumpierte Moral und zerfallende soziale Beziehungen. Den kritischen Zustand dieser bereits wieder restaurativ stabilisierten Gesellschaft zeigen insbesondere die Ehen der Erfolgreichen. Die Verdinglichung der zwischenmenschlichen Beziehungen geht auf den fanatischen Willen zurück, hochzukommen; dies macht nicht nur jeden anderen Menschen zum Instrument, sondern fordert auch bedingungslose Anpassung und führt letztlich zum Identitätsverlust. Bei der Textanalyse wird deutlich, dass Walser, wenn er auch zunächst die individuellen Auswirkungen der Lebensverhältnisse in Szene setzt, seine Helden dennoch in die Bedingungszusammenhänge einbettet, die sie hervorgerufen haben.
Eine Frage, die sich immer wieder hinsichtlich der Literatur des 20. Jahrhunderts stellt: Welche Anbindungsmöglichkeiten an kulturelle Traditionen können aufgrund massiver historischer Einschnitte – gerade in Deutschland – Bestand haben?[106] Der Roman Ehen in Philippsburg steht in der Tradition des in den 1950er Jahren entwickelten bundesdeutschen gesellschaftskritischen Realismus. Damit nimmt Walser in moderner Ausprägung die Fragestellung des kritischen Realismus wieder auf, wie sie für Deutschland und Westeuropa seit dem 19. Jahrhundert charakteristisch war. So gibt Walser eine widerspruchvolle, gesellschaftliche und psychologische Wirklichkeit in ihrer ganzen Vielfalt wieder, wie es bereits vor ihm bedeutende Vertreter realistischer Romankunst des bürgerlichen 19. Jahrhunderts getan haben.[107]
Neben der gesellschaftskritischen Absicht scheinen in den Ehen in Philippsburg spezifische literarische Muster hindurch, die eine Zuordnung zu tradierten Romangenres zur Diskussion stellen. In Hinblick auf den Stoff sowie auf die satirischen Elemente ergeben sich einerseits zahlreiche Parallelen zu Heinrich Manns Parvenüroman Im Schlaraffenland aus dem Jahre 1900.[108] Im Vergleich und in der Kontrastierung etwa zu Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/1796) können die „Ehen“ andererseits auch als Anti-Bildungsroman gelesen werden. Eine genaue literaturwissenschaftliche Analyse gelangt jedoch zu dem Ergebnis, dass eine Zuordnung zu tradierten Romangenres nie vollständig gelingen kann. Dieses jedoch als Mangel zu bewerten, hieße, die Literatur normativ auf bestimmte Erzählweisen festzulegen.[109]
Obwohl die Ehen in Philippsburg bezüglich ihrer Gestaltungsmomente von einigen Kennzeichen der modernistischen Romanform durchzogen sind, versteht sich Walser überwiegend auf das Erzählen im traditionellen Sinn. Was den Aufbau bzw. die Form des Werkes betrifft, so handelt es sich um keinen geschlossenen Roman in herkömmlicher Art, denn der Roman erzählt keine lineare Geschichte, sondern...