In den folgenden drei Unterkapiteln soll im Rahmen der eingangs erwähnten soziologischen Definition von Diskriminierung veranschaulicht werden, in welcher Form Diskriminierung gegenüber Sinti und Roma gegenwärtig in Deutschland in Erscheinung tritt. Die im Folgenden ausgewählten Diskriminierungskategorien entsprechen den im politischen Kontext bedeutsamen Kategorien der individuellen, institutionellen und strukturellen Diskriminierung (vgl. Degener et al. 2008, S. 66). Im Kontext Sozialer Arbeit sind besonders diese Kategorien von großer Bedeutung, da sie die Schnittstelle zwischen Sozialer Arbeit und Politik markieren. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), welches semantisch von folgenorientierter Benachteiligung spricht, differenziert nach mittelbarer und unmittelbarer Form, also nach direkter und indirekter Form von Benachteiligung und Diskriminierung.
„Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen“ (§1 AGG).
Ungeachtet dieser uneindeutigen Begriffslage werden im Folgenden Diskrimi-nierungen im Sinne von intentionalem Ungleichbehandeln aufgeführt, welche das Aberkennen von Ansprüchen und desselben Wertes des betroffenen Menschen mit negativen Folgen für eben diesen beinhalten. Diskriminierungen sind häufig mehr-dimensional oder treten als Mehrfachdiskriminierung auf, was oftmals eine eindeutige Zuschreibung einer Ebene der Diskriminierung erschwert (vgl. IntQ 10: Anti-diskriminierungsstelle des Bundes 2013).
Die folgende Darstellung versteht sich nicht als abschließend, sondern soll als exemplarische Funktion zum Verweis auf die vorhandenen Diskriminierungen dienen.
3.1 Diskriminierung auf der individuellen Ebene
Unter individueller Diskriminierung werden vorurteilsbehaftete Handlungen und Haltungen zusammengefasst (vgl. Degener et al. 2008, S. 66), die sich in konkreten Handlungen auf interaktioneller Ebene ausdrücken. Da die individuelle Diskriminierung auf Vorurteilen und Stereotypen fußt, ist diese Diskriminierungsform häufig rational nicht zu erklären. Individuelle Diskriminierungsformen können mit strukturellen und institutionellen Diskriminierungsformen zusammenhängen, aus diesen resultieren oder sie bedingen (vgl. IntQ 10: Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2013).
Unter dem Titel „Zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung“ wurde 2014 im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) eine der ersten umfangreichen und repräsentativen Erhebungen zur Bevölkerungseinstellung zu Sinti und Roma veröffentlicht (vgl. IntQ 11: Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2014). Die Studie, welche von dem Zentrum für Antisemitismusforschung und dem Institut für Vorurteils- und Konfliktforschung erarbeitet wurde, gibt Aufschluss darüber, dass den Sinti und Roma im Vergleich zu anderen Minderheiten die geringste Sympathie entgegengebracht wird. So lehnt laut der vorliegenden Studie jeder dritte Deutsche Sinti und Roma als Nachbarn ab; 20 % der Befragten geben eine klare Abneigung Preis. Im Unterschied zu Abneigungen gegenüber anderen Minderheiten (vgl. IntQ 12: Mediendienst Integration: Attamann/Ghelli 2014) zieht sich die Ablehnung gegenüber Sinti und Roma durch alle Bevölkerungsschichten und geht einher mit der Auffassung, von 49 % der Befragten, dass die Minderheit durch ihr Verhalten Feindseligkeit hervorriefe (vgl. IntQ 11: Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2014, S. 18). Auf die Frage, was zum adäquaten Zusammenleben nötig sei, gaben 80 % ein rigoroseres Vorgehen gegen Sozialleistungsmissbrauch und 78 % gegen Kriminalität an. So hat offenbar der öffentlich geführte Diskurs über Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien – medial oftmals gleichgesetzt mit Roma – bereits vorhandene Stereotype neu entfacht oder neue Stereotype aufkommen lassen. Die Erhebung lässt allerdings auch erkennen, dass sich in den Bevölkerungseinstellungen gegenüber der Minderheit der Sinti und Roma kein fester Vorurteilsbestand ausmachen lässt. „Aktiviert werden die existierenden Vorurteilsmuster in Momenten des realen oder vorgestellten Kontaktes mit dem Thema“ (IntQ 11: Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2014, S. 13). So dienen Missstände, die im politischen, gesellschaftlich wie auch im medialen Diskurs, unter Zuhilfenahme von Stereotyp-Bildern und Gleichsetzung von Nationalität und Ethnie, angeführt werden als Nährboden zur Reproduktion von Vorurteilen und sozialen Missständen. Die ambivalenten Forderungen der Befragten geben Aufschluss über eine der zentralen Aussagen der Studie, welche ein breites Unwissen über die Bevölkerungsgruppe in der Mehrheitsbevölkerung bestätigt. So nimmt jeder zweite Befragte die Minderheit als benachteiligte Gruppe wahr, assoziieren jedoch ca. 20 % mit dem herabwürdigenden Begriff „Zigeuner“ sowohl Kriminalität als auch Schmarotzertum. Die Projektleiter der Studie Prof. Dr. Wolfgang Benz[11] und Prof. Dr. Werner Bergmann sehen den Grund dafür, dass sich die Befragten nicht weiter mit den Entstehungsmechanismen für diese Assoziationen – also den Vorurteilen – beschäftigen, nicht nur in der weit verbreiteten Unwissenheit der Bevölkerung und den extern projizierten Stereotypen. Sie machen den Auslöser in der Schnittstelle der Ablehnung und der Gleichgültigkeit aus, „da die Gleichgültigkeit, die dem Thema und der Minderheit entgegengebracht wird, keine weitere Auseinander-setzung notwendig erscheinen lässt“ (IntQ 11: Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2014, S. 13). Das generelle Unwissen über die Ethnie zeichnet sich darin ab, dass nur 7 % der Befragten den Unterschied von Sinti und Roma benennen konnten. Darüber hinaus wurde die Zahl der in Deutschland lebenden Sinti und Roma zwischen 250.000 und eine Million geschätzt, wohingegen sich die tatsächliche Anzahl auf schätzungsweise 80.000 bis 140.000 beläuft (vgl. IntQ 8: Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2014). Der Fakt des Völkermordes an den Sinti und Roma während des Nationalsozialismus ist in der Bevölkerung oftmals bekannt, jedoch lässt sich hier ein klarer Generationenunterschied ausmachen; so ist dieses Thema lediglich jedem dritten Deutschen unter 34 Jahren unbekannt. Auffallend für das Zusammenspiel von Antipathie, sozialer Distanz und Unwissenheit ist das Ergebnis, dass unter der generationenübergreifenden Personengruppe, die die größte soziale Distanz zu Sinti und Roma aufwies, 38 % deren Verfolgung nicht bekannt war, wohingegen unter der Personengruppe die keine soziale Distanz zu Sinti und Roma aufwies, 14 % deren Verfolgung nicht bekannt war (vgl. IntQ 11: Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2014, S. 50 f.).
Subsummierend lässt sich sagen, dass anhand der Ergebnisse der vorliegenden Studie Unwissenheit, teils offene Ablehnung und emotionale sowie soziale Distanz gegenüber Sinti und Roma das öffentliche Leben im Hinblick auf Bevölkerungs-einstellungen bestimmen. Besonders deutlich wird dies durch das Ergebnis der Umfrage, dass sämtliche Sinti und Roma ungeachtet ihrer Staatsbürgerschaft und obwohl sie zum Teil seit ca. 600 Jahren auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands beheimatet sind, als extern eindringende Fremdlinge wahrgenommen werden. Nach Aussage von Christine Lüders, Leiterin der ADS, bilden diesbezüglich Gleichgültigkeit, Ablehnung und Unwissenheit eine gefährliche Mischung, welche Nährboden[12] für Diskriminierungen gegenüber Sinti und Roma bieten (vgl. IntQ 13: Lüders 2014). Diskriminierendes Gedankengut ist somit Wegbereiter für diskriminierende interaktionelle Handlungen, in deren Rahmen Romgruppen als „Zigeuner“ beschimpft werden (vgl. Jonuz[13] 2009, S. 290) und auf Grundlage des Stigmas Ethnizität Ungleichbehandlungen und Übergriffen[14] ausgesetzt sind.
3.2 Diskriminierung auf der institutionellen Ebene
Unter Diskriminierung auf der institutionellen Ebene werden die Ergebnisse aus diskriminierenden, organisatorischen Handlungen im Rahmen von gesellschaftlichen Institutionen subsummiert. Als solche können sie in Form von Regelungen, Praktiken und politischen Maßnahmen auf der Ebene von Organisationen individuelle Haltungen beeinflussen, welche dann in individuelle Diskriminierung münden können (vgl. Degener et al. 2008, S 66). Betrachtet man den Organisationsbegriff,[15] so können institutionelle Diskriminierungen sowohl in organisierten Strukturen der gesellschaftlichen Teilhabe wie Bildung, Arbeitsmarkt oder Stadtentwicklung, aber auch in Handlungsstrukturen der Wohnungspolitik, dem Gesundheitswesen, oder des Polizeiapparates stattfinden. Obgleich Sinti und Roma in vielen Bereichen institutionelle Diskriminierungserfahrungen angeben (vgl. Strauß 2011, S.45), wird sich dieser Abschnitt zur institutionellen Diskriminierung am Beispiel behördlicher Vorgehensweisen bedienen.
Um ein transparentes Bild zu...