Weihnachten
Weihnachten, oder: Das Wunder menschlicher Vergöttlichung
Mit dem Weihnachtstag beginnt das Wunder menschlicher Vergöttlichung. Seit diesem Tag sehen wir den Menschen mit anderen Augen, und es ist die Frage, wie man mit den Augen eines Engels sieht, oder wenigstens, wie man der Botschaft eines Engels Glauben schenkt, um in einem Stall die göttliche Geburt unseres Erlösers wahrzunehmen. Inmitten der Niedrigkeit, dort, wo man es nicht vermutet, abseits vom Goldglanz der Paläste, außerhalb der Thronräume der Mächtigen, in der kleinsten der Fürstenstädte Judas, wie es der Prophet verheißen hat, kommt unser Erlöser zur Welt.
Die christliche Legende formt sich aus allen wesentlichen Elementen, und sie hat Recht. Mitten in der Nacht, sagt sie, in Sternendunkel und in Finsternis kommt der Herr in unsere Welt. So muss es sein. Denn anders könnte er niemals verstehen, wie er es später in seiner ganzen Botschaft zu erkennen gibt: wie sehr uns Nacht und Dunkelheit und Aussichtslosigkeit verfolgen können. Später wird er seinen Vater um Vergebung bitten für all das, was wir tun wie in Umnachtung unseres Geistes, unbewusst und immer wie verzweifelt, oft das Beste wollend und dennoch außerstande, klar zu sehen. Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun, wird er selber sagen in der Stunde, da die Welt sich noch einmal verfinstert. Verständnis haben wird er für all die Stunden, da wir keine Aussicht haben und keinen Ausweg sehen, für all die Augenblicke, wo wir uns selber nicht mehr kennen und im eigenen Herzen uns nicht mehr zurechtfinden. Wo wir nichts Menschliches mehr fühlen und begreifen, da wird er sagen, dass mitten in der Nacht, im Unbegreifbaren Gott menschliche Gestalt gewinnt und an seiner Armseligkeit nichts zu verleugnen, nichts zu verachten und nichts zurückzuweisen ist.
Kalt war es, sagt die Weihnachtslegende und hat recht damit, denn anders würde unser Erlöser für unsere Herzenskälte nicht Verständnis haben, wie wir es brauchen, um gegen die Einsamkeit, um gegen den schneidenden Wind, um gegen die Beraubung wärmender Güte, um gegen das Erfrieren jedes zärtlichen Wortes dennoch das Vertrauen zu setzen, die Milde und die Güte. Das sanfte Gesetz des Unscheinbaren wird stärker sein als die schneidenden Befehle, die klirrenden Gewalttaten, die Herzenserfrierungen der Angst. Es hätten, sagt die Legende mit Bezug auf einige Prophetenworte, die Tiere mit der Wärme ihres Atems an der Krippe unserem Erlöser ein erstes Zeichen kreatürlichen Mitleids und geschöpflicher Barmherzigkeit gegönnt, wie um zu sagen, dass alles, schon weil es lebt, dazu bestimmt ist, gut zu sein, nicht zu zerstören, sondern schon mit seiner Leibeswärme gut zu sein. Grade die animalische Sprache, die sozusagen unverstellte, tierische, instinktive Vernunft ist viel richtiger als das so Ausgeklügelte, Ausgedachte. Und auch dieses Bild brauchen wir für unser Leben, kommen wir uns doch selber oft genug vor wie Esel, die man bepackt und schindet und für ihre Dummheit mit Sklaverei und nicht endender Mühsal durch das Leben treibt. – Gehören diese geduldigen Esel des Daseins nicht als Erste an die Krippe? Und gibt es in unserem eigenen Leben nicht genug, wofür wir uns selber beschimpfen möchten wegen unserer ochsengleichen Langsamkeit – die Fehler, die wir begehen, nicht aus üblem Willen, aber aus Kurzschlüssigkeit, aus minderer Einsicht, aus Versagen, dessen Lehre wir erst viel zu spät imstande sind zu ziehen? Gehört weiß Gott nicht unsere Ochs- und-Eselei als Erstes an die Krippe, um uns zu sagen, dass wir Menschen sind und sein dürfen, inklusive all dessen, was der Menschen Hochmut oft genug als tierisch abdrängen und mit Füßen treten möchte?
Die Legende sagt, dass für Gott kein anderer Weg in unser Leben war als in der Gestalt eines Kindes, um uns den Mut zu machen, gerade das Unfertige, das noch nicht Ausgestaltete, noch Unerwachsene als das schönste Gleichnis Gottes wahrzunehmen. In einem jeden Menschenherzen wartet ein Kind, das noch nie leben durfte, darauf, angenommen zu werden. Auf ihm ruht alle Verheißung – unendlich mehr als auf der angsterzwungenen Erwachsenengestalt. Ein Kind muss man liebhaben, einfach weil es da ist. Es kann gar nichts, besitzt gar nichts, hat gar nichts. Auf sein Wimmern, sein Schreien, sein Lächeln antworten wir im Reflex, den die Natur einem jeden vermittelt hat. So sicher führt die Sprache der Kreatürlichkeit uns zur Güte, wenn wir sie verstehen. Keine Menschenarmut mehr sollte seit dieser Weihnachtsnacht außerhalb des Menschlichen stehen, vielmehr dass über jedes Menschen Haupt wir einen Stern aufgehen sähen, leuchtend in der Nacht, und nur der Augen bedürften wir, die fähig sind, inmitten menschlichen Leids, inmitten menschlichen Elends die göttliche Gestalt, ihren Leib, ihr Wachstum, ihre reifende Vollendung gewinnen zu sehen. Der Engel Augen bedürfen wir. Da werden die Skeptiker fragen, ob nicht der Traum der Hirten in der Nacht verdächtig sei. Zu tröstlich ist ihnen vielleicht die Botschaft dieser Weihnachtsnacht. Wie beweist man, dass ein Engel redet, wenn er sich zurückzieht in den Himmel? Wie beweist man, dass man Engel hören und mit Engelaugen sehen kann? Die Skeptiker finden in der äußeren Wirklichkeit unendlich viele und schwer zu widerlegende Beweise, wie gemein, wie hässlich, wie armselig, wie vertan das Menschenleben ist. Recht haben sie, bis auf den Punkt, dass sie nur am Tage richtig sehen, wie Erwachsene schauen, Recht haben, in der Sprache ihrer Vernunft sich großtun mögen mit dem Skeptizismus und der schneidenden Kritik. Die dunklen Augen sehen wirklicher, das träumende Herz sieht wahrer, denn nur mit einem Herzen der Sehnsucht wird man fähig sein, einen Engel reden zu hören.
Wie denn, wenn grade die Sterneneinsamkeit, die Trennung von Gott um Lichtjahre der Entfernung uns diesem Weihnachtsmorgen nur umso näher brächte? Wie denn, wenn es stimmen würde, dass grad im tiefsten Elend, in der dunkelsten Nacht und in der kältesten Stunde die Wärme und das Licht unseres Gottes nur umso klarer scheinen? Wie vertrauen wir einem Engel, und wie gehen wir hin nach Betlehem? Es heißt im Evangelium, die Heerschar der Gottesboten habe sich zurückgezogen in die Sphären des Himmels, aber einfache Hirten seien zu Boten an ihrer Stelle geworden, und ihre Augen hätten in einem Viehtrog das Göttliche wahrnehmen können. Dies ist die Botschaft, die sie durch Jahrtausende an uns zu richten haben: In jedem Menschen wartet Gott, von Neuem die Augen aufzuschlagen, und wird es tun, wenn Augen ihn anschauen, die das Göttliche in ihm wahrzunehmen imstande sind. Und nichts am Menschen verdient, ungelebt und ausgesperrt zu bleiben, dass unter den Menschen kein Unterschied mehr sei und Trennung nicht mehr bestehe zwischen Gott und Mensch und grenzenlos die Güte sei gegenüber aller Kreatur, dass die Zonen des Liebenswerten am Menschen nicht Halt machen, sondern alles umgreifen, das ärmste Tier, das Tierisch-Ärmste auch am Menschen; in allem lebt von diesem Tag an Göttliches und spricht zu uns als nie vergehendes Wort Gottes an uns.
Ein Kind ist keines Menschen Eigentum
An keinem Tag des Jahres sehnen wir uns so sehr nach Frieden und Geborgenheit wie am Heiligen Abend. Denn zu keiner Zeit des Jahres gehen unsere Erinnerungen so weit zurück bis in die Zeit, wo wir selber als Kinder Frieden und Geborgenheit erfahren oder doch mindestens erhofft haben. Deshalb bemühen wir uns nirgendwann sonst im Jahr so sehr wie in den Tagen der Vorweihnacht, Menschen, mit denen wir uns verbunden fühlen, zu sagen, dass wir sie lieben, und sie auf das Herzlichste zu bitten, dass sie uns lieben möchten. Denn wir brauchen das Gefühl des Friedens und der Geborgenheit, und wir finden es auf der Welt nirgendwo sonst als im Herzen anderer Menschen. Große Mühe geben wir uns deswegen, liebenswert zu sein.
Und doch ist es paradox: Je kostbarer wir unsere Geschenke einrichten, je verzweifelter wir uns oft anstrengen, desto mehr rücken wir von der einfachen Wahrheit dieses Tages ab, denn sie besteht darin, uns als Kinder leben zu lassen und uns die Chance zurückzugeben, Kinder zu werden. Unsere Erlösung beginnt damit, dass Gott auf die Welt kommt in der Gestalt eines Kindes. Und einem jeden, der es in seinem Herzen aufnimmt, wird es später die Möglichkeit verleihen, selber ein Kind Gottes zu werden.
Worin liegt dieses Wunder unserer Befreiung am Weihnachtstage, und durch welches Wunder kann es geschehen, dass Gott selber unser Herz als seine Krippe erwählt, um darin seiner wahren Gestalt und unserer Menschlichkeit entgegenzureifen?
Im Grunde sind es nur zwei Dinge, die wir am Weihnachtstag zu lernen brauchen, allerdings auch zu lernen haben. Das Erste ist die Heilung der Ehrfurcht. Wir nennen die Geburt Jesu in Betlehem ein göttliches Wunder, und das war sie in der Tat. Aber in unserem eigenen Leben kann dieses Wunder sich nur wiederholen, wenn wir die gesamte Haltung aller Beteiligten in Betlehem uns selbst zu eigen machen. Das Wunder der jungfräulichen Geburt bestimmt seitdem, wenn von Erlösung die Rede ist, unser Verhalten...