1. Kapitel Aloysia Beck und die Entstehung der „Höheren Leitung“
Der Mystizismus in Bayern
Es scheint, dass das katholische Bayern in den 30er- und 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts für außergewöhnliche religiöse Ereignisse besonders empfänglich war. So stößt man zu dieser Zeit auf den Segenspfarrer Franz Handwercher in Oberschneiding bei Straubing, der durch seine Krankenheilungen und Exorzismen großes Aufsehen erregte. Zur gleichen Zeit waren an verschiedenen Orten Bayerns Frauen anzutreffen, die außergewöhnliche „mystische“ Begabungen zeigten. Der Moraltheologe Magnus Jocham stellte in seinen Erinnerungen fest:
„Man glaubte erst dann ein rechter Seelsorger zu sein, wenn man einige oder wenigstens eine auserlesene Seele unter seiner Leitung hätte, die, selber in einen höheren Zustand versetzt, auf die Umgebung und auf den Geistlichen selbst einen außerordentlich heilsamen Eindruck machen sollte. Da war Eine, die schon jahrelang nur von Luft und Wasser lebte; dort war eine Andere, die, in einen sogenannten höheren Zustand versetzt, den Leuten gar eindringliche Mahnungen gab. An einem anderen Ort sprach man von Visionen und außerordentlichen Wirkungen.“
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch ein Bericht des Münchener Domvikars Joseph Glink über eine derart begnadete Jungfrau. Die „Kranke“, wie er sie nennt, habe
„wütend mit den Teufeln, dann bei eintretender Beruhigung mit Engeln und ihrer plötzlich verstorbenen Schwester verkehrt, und alles mit geschlossenen Augen, wobei sie wahrhaft salbungsvoll von religiösen Dingen mit einer Vollendung der Form sprach, dass jedes Wort hätte gedruckt werden können, obwohl das Mädchen nur den gewöhnlichsten Elementarunterricht genossen hatte“.
Glink bemerkt, der bekannte Mediziner und Jugendfreund König Ludwigs I., Johann Nepomuk von Ringseis, sei davon überzeugt gewesen, dass sie „tatsächlich in einem Verkehr mit der Geisterwelt stehe“.
Diese Hinweise, die noch vermehrt werden könnten, zeigen, wie spätestens seit den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts auch in Bayern der Glaube an wunderbare Fähigkeiten sogenannter somnambuler Frauen, wie sie der protestantische schwäbische Arzt und Dichter Justinus Kerner als „Hereinragen einer höheren Geisterwelt in unsere Sinnenwelt“ geschildert hatte, fast zum Alltag der Katholiken gehörte. Was Joseph von Görres in dem monumentalen Werk „Die christliche Mystik“ beschrieb, war für die Menschen um die Mitte des 19. Jahrhunderts nichts Ungewöhnliches. Und nicht nur für die Katholiken. Geisterglaube und Spiritismus erreichten auch in Bayern einen ersten Höhepunkt.
Zu ebendieser Zeit nun, im April 1841, ging für den Orden der Redemptoristen ein langgehegter Wunsch in Erfüllung. Die Patres, unter Leitung von P. Dr. Franz Ritter von Bruchmann, der nach dem Tod seiner Frau Juliane ins Kloster eingetreten war, konnten endlich in eine bayerische Niederlassung einziehen, und zwar im altehrwürdigen Marienwallfahrtsort Altötting. Schon bald wurden auch sie mit merkwürdigen „übernatürlichen“ Ereignissen konfrontiert. So berichtet die Altöttinger Chronik von Teufelsaustreibungen, die von den Patres vorgenommen wurden. Besonders P. Glaunach, ein ehemaliger Mediziner, befasste sich intensiv mit „Kranken“, „Tollen“, „Irrsinnigen“ und „Besessenen“. Allerdings waren die Ordensoberen nicht sehr erbaut darüber. Sie befürchteten, dass die Redemptoristen dadurch „ins Geschrei“ kämen und ihr Ruf Schaden leide. P. Dr. Franz Seraph Vogl, einer der engsten Mitarbeiter des Altöttinger Rektors und späteren Provinzials Bruchmann, war der Ansicht: „König Ludwig wird leichter alles ertragen als die Teufelsbeschwörungen.“ Dies aber hinderte P. Vogl und P. von Bruchmann nicht, einer höheren mystischen Führung zu folgen. Medium dieser „Höheren Leitung“ war Fräulein Louise Beck.
Die Ereignisse um Louise Beck
a) Herkunft und Entwicklung der Seherin
Aloysia Beck, genannt Louise, wurde am 19. April 1822 als jüngstes Kind des Gerichtsarztes und Apothekers Dr. Benno Beck in Altötting geboren. Sie hatte vier Geschwister, einen Bruder Benno, der 1845 in jungen Jahren starb, und drei Schwestern. Ihre Erziehung erhielt sie bei den Englischen Fräulein in Burghausen, wo sie streng religiös erzogen wurde. Vor allem eine Erzieherin war bestrebt, sie zu einer ganz besonderen Frömmigkeit hinzuführen.
Louise war ein begabtes, aber schüchternes und ängstliches Kind. Wenn Besuche in das elterliche Haus kamen, pflegte sie sich zu verstecken. Doch fällt bereits in ihre Kindheit der Beginn außergewöhnlicher Erscheinungen. Ihrem Beichtvater erzählte sie später, sie habe als Kind häufig ihren Schutzengel, Arme Seelen und Heilige gesehen.
1841, im Alter von 19 Jahren, kehrte Louise Beck ins elterliche Haus nach Altötting zurück. Sie hatte die Absicht, in ein Kloster einzutreten. Die Krankheit ihrer Mutter und deren Tod 1842 verzögerten jedoch den Eintritt. Schließlich verhinderte ihr Vater die bereits bewilligte Aufnahme bei den Barmherzigen Schwestern. Als Begründung führte er an, sie sei wegen eines „Augenleidens“ für den Ordensberuf nicht geeignet.
Wenig später lernte sie den jungen protestantischen Grafen Clemens von Schaffgotsch, den unehelichen Sohn eines preußischen Adeligen, kennen, der ihm 1845 vor seinem Tod Namen und Güter vererbte. Schaffgotsch war der Freund von Louises Bruder Benno. Beide hatten sich an der Universität in München kennengelernt und Benno hatte ihn ins elterliche Haus eingeführt. Schaffgotsch verliebte sich in Louise und bat um ihre Hand. Um ihr nahe zu sein, bewarb er sich um eine Stelle beim Altöttinger Forstamt. Louise erwiderte seine Liebe und gelobte ihm Treue. Beide machten eine Reise zu den „Hauptstädten Bayerns“. Zu einer Ehe konnte sich Louise jedoch nicht entschließen.
b) Dämonenspuk
Die Jahre 1845 und 1846 brachten für Louise eine schwere seelische Belastung. Ihr Bruder Benno erkrankte nach siebenmonatiger Ehe und starb im Juli 1845. Da seine junge Frau die Apotheke zu versorgen hatte, musste sich Louise nicht nur um ihren kranken Vater, sondern auch um das Kind ihres Bruders kümmern. Dazu kam die leidenschaftliche Liebe des jungen Schaffgotsch, der ihr auf Schritt und Tritt folgte. Dies stürzte sie bei ihrer Veranlagung und Erziehung in schwere Gewissenskonflikte, die ihr Seelenführer P. von Bruchmann kaum behoben, sondern eher vermehrt haben dürfte.
Die Überbelastung des nervenschwachen Mädchens führte zu einer seelischen Erkrankung, die sich in „somnambulischen“ Erscheinungen äußerte. Sie litt an schweren Depressionen und äußerte: „Ich habe fast keinen Mut und kein Vertrauen mehr.“ Während des Gebetes aber quälten sie Glaubenszweifel und sexuelle Zwangsgedanken.
In der Karwoche 1846 bekam sie ein „heftiges Nervenfieber“, das bis in den Mai hinein anhielt. Krämpfe und Konvulsionen setzten ein. Dann entstand an ihrer linken Brust eine eigenartige Wunde, die nach einer ärztlichen Aussage die „Form eines rechten Kreuzes hatte, als hätte man sie mit einem glühenden Eisen gebrannt“. Die Wunde veränderte sich tagsüber. Am Abend war sie vernarbt, am Morgen jedoch zeigte sie sich entzündet und eiterte. Auch von zwei Wunden, links und rechts, wird berichtet.
Eben um diese Zeit setzen nun Vorgänge ein, die untrennbar mit den Redemptoristen verbunden sind. Nach ihrer Rückkehr von Burghausen hatte sich Louise Beck nämlich P. Rektor von Bruchmann zu ihrem Beichtvater und Seelenführer gewählt. Ihre bescheidene Art und ihre Frömmigkeit machten auf ihn großen Eindruck. Schon bald offenbarte sie ihm, dass sie schon als Kind Erlebnisse mit ihrem Schutzengel und mit den Armen Seelen hatte. P. von Bruchmann war zunächst vernünftig genug, diese Aussagen nicht zu ernst zu nehmen. Er schrieb später:
„Ihre aufrichtige und vollkommene Bereitwilligkeit, nach meinem Urteile hierin allein sich zu richten, ließen mich auf diese Tatsache kein anderes Gewicht legen, als dass ich mich nur umso mehr bemühte, Louise auf dem gewöhnlichen Wege einfacher gründlicher Frömmigkeit zu erhalten.“
Mit diesen Bemühungen war es jedoch mit dem Jahr 1846 zu Ende. Bruchmann konnte sich die seelische Krise Louises nicht anders erklären, als dass teuflischer Einfluss vorliegen müsse. Um diesen Einfluss zurückzudämmen, behandelte er sie mit Weihwasser und mit geweihtem Öl. Doch die Besprengungen mit Weihwasser vermehrten eher ihre Ängste. Das geweihte Walpurgisöl ließ ihre Wunde neu aufbrechen.
Da die „dämonischen Angriffe“ nicht nachließen, erbat P. von Bruchmann vom Passauer Bischof Heinrich von Hofstätter für sich selbst,...