Vorwort
Dom Helder Camara1 (1909‒1999) ist im Laufe seines Lebens zwischen den 1920er- und den 1960er-Jahren einen langen Weg der Entwicklung in seinem Denken und Handeln zum prophetischen Anwalt der Armen gegangen, den er selbst als eine Folge von Bekehrungen bezeichnet hat. Dieser Weg wird im vorliegenden Band beschrieben und analysiert. Es handelt sich dabei um den vollständigen Nachdruck des zweiten Teils meiner Dissertation über das Leben und die Reden Dom Helder Camaras, die am 7. Februar 1984 an dessen 75. Geburtstag von der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg/Schweiz angenommen worden ist.2 Die Publikation des biografischen Teils der Dissertation wird durch die Erstveröffentlichung des Gesprächs erweitert, das ich mit Dom Helder am 15. März 1979 in Paris führen konnte. Ein Jahr nach Erscheinen der Dissertation wurde am 10. April 1985 dem altersbedingten Rücktrittsgesuch von Dom Helder Camara durch den Vatikan entsprochen. Er musste noch miterleben, dass nicht der von ihm gewünschte Weihbischof José Lamartine Soares, sondern der unbekannte und konservative Bischof von Minas Gerais, José Cardoso Sobrinho, sein Nachfolger wurde.3 Unter diesem wurden 1989 das Regionalseminar des Nordostens und das Theologische Institut von Recife (ITER) geschlossen.4 Im Alter von über neunzig Jahren ist Dom Helder Camara am 27. August 1999 gestorben.
Vor allem aus zwei Gründen wird der biografische Teil der vergriffenen Dissertation neu herausgegeben. Der erste Grund ist die Veröffentlichung der deutschen Übersetzung der Briefe von Dom Helder Camara aus dem Konzil.5 Der vorliegende Band zeigt zum einen auf, welchen Weg Dom Helder bis zum Konzil gegangen ist und was er weswegen auf dem Konzil einbringen wollte. Zum andern wird über den Weg berichtet, den er nach dem Konzil als prophetischer Anwalt der Armen gegangen ist.6 Der zweite Grund ist der am 3. Mai 2015 in der Erzdiözese Olinda und Recife offiziell eröffnete Seligsprechungsprozess von Dom Helder Camara. Das ist Zeichen der Anerkennung seines Lebens und Wirkens auch vonseiten der Kirche.
Im Bereich von Wissenschaft und Universität wurde die Bedeutung von Dom Helder Camara schon früher erkannt und gewürdigt. Bereits 1971 verlieh ihm die Universität Freiburg/Schweiz das erste von insgesamt 32 Ehrendoktoraten. Die Rede des damaligen Dekans, Professor Dr. Alois Müller, bezeugt das und ist es wert, vollständig wiedergegeben zu werden:
„Herr Bischof, lieber Bruder in Christus, seit dem 27. Juni 1970 steht Ihr Name in den Akten der Theologischen Fakultät. Damals fasste der Fakultätsrat einen Beschluss über Ihre Person, doch war dieser abhängig von Ihrer Anwesenheit in Freiburg, mit der man für den Dies academicus 1970 rechnete. Da sich jener Plan nicht verwirklichen ließ, blieb auch unser Beschluss unwirksam, bis wir erfuhren, dass Sie zum 50-Jahr-Jubiläum von Pax Romana nach Freiburg kommen würden. Augenblicklich erneuerte die Fakultät ihren Entscheid, nämlich Ihnen den theologischen Doktorgrad honoris causa zu verleihen. In kürzester Zeit wurde unser Gesuch von der römischen Studienkongregation gutgeheißen, und besonders der Großkanzler unserer Fakultät, der Generalmagister des Predigerordens, begrüßte den Beschluss.
Dieser Akt, Herr Bischof, verlangt nach einer Interpretation. Die Fakultät ist sich klar, dass es eher ihre eigene Ehre ist, wenn sie Sie zu ihren Doktoren zählt. Indes gehen wir damit auch eine theologische Verpflichtung ein. Dieser Akt bedeutet, dass Sie durch Ihr Leben, durch Ihr pastorales Wirken, durch Ihr Zeugnis ein Lehrer des Glaubens sind, ein wirklicher Ausleger der Wahrheit des Evangeliums, vor welchem die Inhaber theologischer Lehrstühle sich erheben und verneigen. Die Verleihung des theologischen Doktorats an Sie bedeutet eine Ausrichtung der Theologie selber nach der gelebten Wahrheit Jesu Christi, des Propheten der Liebe Gottes, seines Vaters, des Dieners der Menschen, seiner Brüder, des Schlachtopfers für den Frieden und die Gerechtigkeit.
Ihre Ehre, Herr Bischof, ist das lautere Zeugnis für Christus, das Sie vor der ganzen Welt ablegen; wir aber sind glücklich, sie zu verbriefen und zu verkünden durch unser akademisches Diplom, dessen Wortlaut ich hiermit bekanntgebe:
Aus Liebe zu einem verstehenden Glauben bleibt er der Theologie zugetan, auch wenn die apostolische Liebe ihn drängt, sich ganz in Arbeit und Mühen aufzuopfern;
Er arbeitet unermüdlich daran, seine einfache Landbevölkerung zu schulen, ihr Arbeitstalent auszubilden, ihre Menschenwürde und ihren christlichen Adel zu fördern;
Im Verein mit dem ganzen lateinamerikanischen Bischofskollegium widmet er sich der Entwicklung besserer Seelsorgestrukturen durch Förderung der Mitverantwortung aller Gläubigen;
Kraftvoll nach Gerechtigkeit rufend, spricht er allerorts für die zum Schweigen Verurteilten, damit in den Herzen und den Sitten, aber auch in den Gesetzen und den Strukturen zwischen Völkern und Nationen brüderliche Freundschaft herrsche und die Rechte aller, besonders der Armen, geachtet werden;
Er hört nicht auf, mit der Kühnheit eines Propheten die Reichen und Mächtigen zu mahnen, begegnet aber auch seinen Widersachern mit Liebe und kämpft für den Frieden stets nur mit den Waffen des Friedens.“7
Aus Anlass des 100. Geburts- und 10. Todestages von Dom Helder Camara erschien im Jahre 2009 ein Heft der Zeitschrift Concilium mit dem Titel „Kirchenväter Lateinamerikas“. Darin wird neben den Bischöfen Leonidas Proaño, Méndez Arceo, Aloisio Lorscheider und Oscar Arnulfo Romero auch Dom Helder Camara als Kirchenvater Lateinamerikas gewürdigt. In der Einleitung des Heftes heißt es: „Manche Bischöfe der Generation des Konzils und der Versammlungen von Medellín und Puebla, oftmals von der eigenen Hierarchie geächtet und bekämpft, gewannen allgemein Anerkennung als ‚Glaubenslehrer‘ und in einigen Fällen als Märtyrer. Einige Bischöfe der Generation des Konzils, der Versammlungen von Medellín und Puebla sind für die Christen Lateinamerikas und nicht nur für diese tatsächlich zu Bezugspersonen von grundlegender Bedeutung geworden, und zwar durch das von ihnen hervorgebrachte Glaubensmilieu, durch die von ihnen angeregten Stil- und Praxisformen, durch die von ihnen geschaffene Solidarität, durch das Erbe, das sie für das kirchliche Leben und die Theologie der folgenden Zeit hinterlassen haben. Gelegentlich ist vorgeschlagen worden, diese Generation von Bischöfen den Vätern der Kirche des Ostens und des Westens an die Seite zu stellen, die im 4. und 5. Jahrhundert gewirkt haben und von der Alten Kirche als ‚Normen der Theologie‘ und ‚Autoritäten des Glaubens‘ betrachtet wurden. Mit diesem Heft von CONCILIUM wollten wir diesen Vorschlag aufgreifen, weil wir überzeugt sind, dass die Lehre und die martyria mancher dieser ‚Väter der Kirche‘ – nicht nur der lateinamerikanischen, sondern der universalen Kirche – nicht einer chronologisch abgeschlossenen Phase angehören. Vielmehr repräsentieren sie, auch wenn wir heute in einem zutiefst andersartigen historischen Kontext leben als vor einigen Jahrzehnten, in augustinischem Sinne ‚die Gegenwart der Vergangenheit‘, die immer noch Möglichkeiten einer Relektüre bietet, die es versteht, sich deren fortdauernde Fruchtbarkeit als inspirierende Quelle der Inspiration zur Erschließung neuer Wege der Nachfolge eines Lebens im Geist des Evangeliums zunutze zu machen – und dies nicht nur in Lateinamerika.“8
Von den Kirchenvätern der lateinamerikanischen Kirche sagt José Comblin: „Sie hatten alle Eigenschaften von Kirchenvätern: 1. Sie zeichneten sich durch eine offensichtliche Heiligkeit aus. Um nur ein Beispiel zu nennen: Dom Hélder Câmara lebte wirklich arm. Er wohnte in der Sakristei einer alten Kapelle aus der Kolonialzeit. Er hatte kein Auto und keine Hausangestellte. Er aß im Imbiss an der Ecke, wo auch die Arbeiter dieser Gegend ihre Mahlzeit einnahmen. Er öffnete selbst die Tür und empfing alle Bettler, die vorbeikamen. Dom Hélder war ein Mystiker, der ständig in der Gegenwart Gottes lebte und Glaube und Hoffnung ausstrahlte. Er stand jede Nacht um zwei Uhr früh auf, um zu beten, und oftmals schrieb er seine Gebete nieder. Er hinterließ sechstausend Seiten mit Gebeten. […]
2. Sie hingen dem Evangelium in größtmöglicher Treue an, widmeten alle Minuten ihres Lebens diesem Evangelium, ohne jemals Zeit für ihre persönlichen Bedürfnisse zu reservieren.
3. Sie verstanden die Zeichen der Zeit in tiefer Weise und richteten ihr gesamtes Leben daraufhin aus, den Herausforderungen ihres Volkes zu entsprechen.
4. Sie wurden und werden immer noch von all denen, die sie kannten, als Heilige verehrt. Alle wurden sie von der Zivilgesellschaft und den kirchlichen Amtsinhabern verfolgt. Alle machten sie Zeiten der Verlassenheit...