Erinnerungen
Zu Hause. Ein bewegendes Wort, das Wärme, Liebe und Geborgenheit heraufbeschwor. Die Erinnerung an ewigen Sonnenschein und kindliche Vergnügungen – und an etwas Dunkles hinter der hellen Sonne, etwas, das ich erst jetzt, nach vielen Jahren , allmählich zu verstehen begann. Erinnerung an meine Kindheit, an mein Zimmer im ersten Stock mit dem kleinen Spielklavier, dass ich mehr liebte als all meine Puppen, an meine Tante mit Ihrem Bernhardiner, der zu gerne unter unserem wackeligen Wohnzimmertisch lag ,oder an meine Freundin von gegenüber. Mit ihr erlebte ich die tollsten und spannendsten Abenteuer . Aber auch traurige Erinnerungen prägten meine Kindheit. Ich hatte einen wunderbaren kleinen Bruder, der 1 Jahr jünger war als ich. Gemeinsam spielten wir unserer Mutter viele Streiche. Es gab immer was zu lachen und wir waren zwei fröhliche Kinder. Aber eines Morgens war mein kleiner Bruder nicht mehr. Er war in der Nacht gestorben. Friedlich eingeschlafen und nicht mehr erwacht. Ursache unbekannt.
Stundenlang lag ich in seinem kalten Bett und habe nach ihm gerufen, wollte nicht verstehen dass ich meinen geliebten Bruder nie mehr sehen würde, nie wieder sein Lachen hören würde. Meine Mutter versuchte mich zu trösten, meinte dass unser Sonnenschein jetzt bei den Engeln sei und auf uns herunter schauen würde. Wir konnten ihn zwar nie wieder sehen oder hören, aber in unseren Herzen würde er weiter leben. Und doch liefen Ihr dabei Tränen herunter.
Tränen die nur ein Mutterherz weinen konnten. Tränen die von unglaublichem Leid und Trauer zeugten. Was blieb war sein Geruch und seine Liebe. Stets in unseren Herzen verankert. Unvergessen. Aber am meisten kann ich mich an die Liebe meiner Mutter erinnern.
Ihre wunderbaren gute Nacht Lieder und Geschichten. Ihr Lachen und Ihre unendliche Geduld. Ihre starken Arme wenn sie mich getragen hat, ihre samtweiche Haut unter meinen Fingern und vor allem, bis heute unvergesslich, ihre tiefblauen Augen, mit denen sie bis in meine Seele sehen konnte. Nach meinem dritten Geburtstag lernte ich das wirkliche Leben kennen. Meine Mutter und ich waren alleine, zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nichts von meinem Vater, und sie begann wieder zu arbeiten. Nun hieß es um 6.00 Uhr aufstehen, mit dem Bus in die Stadt zur neuen Arbeitsstelle, 7.oo Uhr in die Kindertagesstätte. Am Abend um 17.00 Uhr holte mich meine Mutter, die ich so sehr vermisste den ganzen Tag, wieder ab. Müdigkeit war nun mein steter Begleiter, die Tage waren einsam und anstrengend. Keine Gute Nacht Geschichten , kein Lachen und keine Streiche , keine Erinnerungen, Sehnsüchte und Träume. Was uns blieb war das Wochenende. Aber an den meisten Wochenenden musste meine Mutter Samstagabend bedienen und ich blieb bei einer Nachbarin, die schon sehr alt war. Oft vermisste ich meine Mutter ganz schrecklich aber meine frohe Natur und meine Lebensfreude halfen mir über diese schwere Zeit. Nach drei Monaten hatte ich mich an die ungewöhnliche neue Situation gewöhnt und meine Fröhlichkeit kehrte zurück. Nun sang ich mit vier Jahren am Morgen im Bus schon Lieder, lachte und unterhielt die anderen Fahrgäste. Meine Mutter war sehr stolz auf mich und immer wieder erwischte ich sie dabei wie sie sich heimliche Lachtränen aus ihren Augenwinkeln strich. Meine Streiche spielte ich meiner geliebten Mutter am ihren freien Tagen, sodass wir trotz den vielen Entbehrungen immer was zum Kichern und Strahlen hatten. Wir Beide, meine liebe Mutter und ich, wir waren schon ein besonderes Team und das allerbeste war, dass wir glücklich waren.
Mit dem Beginn der Schulzeit stand ein Wohnungswechsel in die Stadt an. Eine kleine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus. Und genau in diesem Haus wohnte ein Mädchen in meinem Alter. Nun konnte ich Kind sein, endlich war ich nicht mehr alleine. Puppen und Barby spielen, im Garten mit der Flöte musizieren, im Zelt übernachten, stundenlang draußen rumstrolchen und verrückte Dinge machen, all das war jetzt ein Teil meines Lebens und es war aufregend und wunderschön. Auch meine Mutter war ganz glücklich, dachte ich zum damaligen Zeitpunkt. Als erwachsene Frau musste ich dann das Gegenteil erfahren, was ich bis zum heutigen Tage nicht verkraftet habe.
Und dann veränderte sich meine Kindheit mit einem Schlag. Mein 8. Geburtstag stand vor der Tür. Meine Mutter versprach mir für diesen besonderen Tag eine großartige Überraschung. Den ganzen Tag lächelte sie geheimnisvoll. Meine kindliche Neugier war kaum zu bremsen und ich zählte die Minuten. Am Abend war es dann soweit. Es klingelte an unserer Wohnungstüre. Meine Mutter schaute mich gespannt an und ich traute mich kaum die Türe zu öffnen. Es klingelte nochmals! Entschlossen riss ich die Wohnungstüre auf und vor mir stand ein fremder Mann. Aber dieser Mann ging in die Knie, nahm mich in den Arm und weinend nannte er mich seine Tochter. Es war mein Vater ! Kurz nach meiner Geburt hatte er unter Alkohol Einfluss mit dem Auto eine junge Frau so schwer verletzt, dass sie für immer behindert war. Für diese schreckliche Tat musste er sieben Jahre in den Strafvollzug. Jetzt da er für seine Schuld genug gebüßt hatte, wollte er die verlorene Zeit mit mir und meiner Mutter wieder aufholen. Aber wie kann man die Zeit zurückdrehen, wo doch so viel geschehen ist. Menschen verändern sich und Liebe lässt sich nicht erzwingen. Vor allem musste ich immer an die behinderte Frau denken. Was wäre wenn meiner geliebten Mutter solch schreckliches wiederfahren wäre. In meinem Herzen konnte ich meinem Vater nie richtig vergeben und ich denke das hatte er auch bemerkt. Jedoch ahnte ich damals nicht, wie wenig Zeit uns füreinander bestimmt war. Sonst wäre unsere Beziehung vielleicht inniger gewesen. Was nun folgte war eine ganz neue Erfahrung. Meine Mutter und mein Vater lachten sehr viel, wir unternahmen Ausflüge und mein Vater lernte mir ein gutes Herz zu haben und füreinander da zu sein. Jetzt lass er mir abends Geschichten vor oder erzählte die unglaublichsten Abenteuer. Er war ein wunderbarer Koch und immer wieder überraschte er uns mit ausgefallenen Gerichten. Eine kurze Zeit waren wir eine ganz normale fröhliche Familie. An meinem neunten Geburtstag zogen dunkle Wolken auf und es geschah etwas das mein junges Leben veränderte. Es war ein Montag. Oh wie glücklich war ich ! An diesem Tag sollte ich ein Fahrrad bekommen, welches ich schon eine Ewigkeit im Schaufenster bewundert hatte. Es war gelb und glänzend, aber immer bekam ich zu hören: Du musst noch warten, du bist noch zu klein. Aber jetzt war es soweit ! Heute sollte ich dieses wunderschöne, heiß begehrte Fahrrad bekommen. Gleich nach der Schule traf ich mich mit meinem Vater in der Stadt. Er wartete schon, stand auf dem gegenüberliegendem Gehweg, winkte mir zu, rief mich und die Freude über mein Lachen stand ihm im Gesicht . Auch ich rief und winkte, konnte es nicht erwarten bei meinem Vater zu sein. Schnell wollte er mir entgegen kommen, aber er verfehlte den Tritt des Bordsteines, knickte mit dem Fuß ein. Ein Lastwagen kam auf seiner Seite der Straße, konnte nicht schnell genug bremsen, erfasste ihn, überfuhr ihn. Bremsen quietschen, Menschen schreien . Aber wo war mein Vater ? Ich lief um den Lastwagen herum, meine Beine wollten diese Schritte nicht gehen, mein Herz raste in meiner Brust, in meinem Kopf setzte sich ein Gedanke ab, den ich nicht wahr haben wollte, und dann sah ich ihn. Da lag er. Halb unter dem Vorderrad des Lastwagen. Blut ! Überall Blut ! Sein schönes Gesicht verzerrt. Menschen, die stehen bleiben, meine eigenen Schreie. Ich halte ihn, halte seine Hand, rede mit ihm, und mein Vater ? Er lächelt, schaut mir in die Augen und sagte, wie am ersten Tag: meine geliebte Tochter. Eine Woche später starb er. Riss ein Loch in unsere Herzen und raubte meiner Mutter das wichtigste im Leben, ihr Lachen und ihre Liebe. Die Trauer war unbegreiflich, der Schmerz kaum zu ertragen und nächtelang musste ich diesen schrecklichen Tag immer wieder durchleben. Jede Nacht verlor ich meinen Vater in meinen Träumen aufs Neue. Wie sollte ich diese schreckliche Erinnerung je vergessen ? Und wie sehr er mir fehlte. Erst als ich Ihn verlor, wusste ich was er mir bedeutet hatte. Jetzt hatte er wirklich gebüßt. Gebüßt für die Behinderung der fremden Frau, gebüßt dafür dass wir so viele lange Jahre ohne Ihn waren, gebüßt für etwas, dass er in einer großen Dummheit verbrochen hatte. Aber das Leben musste weitergehen und es ging weiter. Meine geliebte Mutter hatte nie wieder einen Mann an Ihrer Seite. Zu stark war der Schmerz, zu schmerzhaft die Erinnerungen. Aber auch das Lachen war verloren, die Lebensfreude. Wie dringend war schon damals der Wunsch ihr zu helfen, ihr Freude zu bereiten, sie glücklich zu sehen. Aber diesen Kampf habe ich nie gewonnen.
So wurde aus mir ein junges Mädchen. Mit Höhen und Tiefen. Mein Wille zum Glücklich sein war stark, mein Frohsinn ungebrochen und Streiche spielte ich weiterhin. Meine schulischen Leistungen waren überdurchschnittlich gut. Gelernt habe ich sehr wenig und doch war mein Lebensweg spannend und interessant und ich liebte dieses Leben. Und die Menschen liebten mich. Und kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag sollte sich mein Leben ändern und ein langer Leidensweg begann.
Misshandelt !
Es war der erste November 1984. Ein aufregender und spannender Tag. Am Abend war eine Disco im Neben Ort. Alle meine Fußball Kolleginnen ( ich spielte zu dieser Zeit fleißig Mädchenfußball) waren dort und vor allem viele Jungs ! Die Stimmung bei der Disco war ausgelassen und fröhlich. Es wurde getanzt, es wurde getrunken und natürlich wurde auch geflirtet. Auf der Disco waren wirklich ein paar Prachtburschen von jungen Männern...