BÄRTIGE IKONEN
(GEGENWART)
Conchita says: »Respect!«
Jean Paul nennt ihn »die junge Kaiserin«. Der französische Designer und Ruderleiberl-Träger Jean Paul Gaultier ist nicht der Einzige, der von ihm nicht genug bekommen kann. Designerkollege Karl Lagerfeld hat ihn fotografiert, und sogar im berühmten Pariser Etablissement »Crazy Horse« durfte er auftreten. Dort tanzt sonst Burlesque-Star Dita Von Teese.
Ein ganzes Rondo-Heft widmete die Wiener Tageszeitung Der Standard im Oktober 2014 dem Modeschul-Absolventen Tom Neuwirth, der neuen »Queen of Austria«. Die Song-Contest-Siegerin von 2014, die sich laut eigener Aussage gern als »moderne Sisi« darstellen lässt, hieß damals noch Conchita Wurst. Heute nennt sie sich fast nur noch Conchita – das kommt international einprägsamer. Der weibliche Vorname Conchita ist in Spanien recht geläufig, er leitet sich vom Wort »concepción« ab und bezieht sich auf die unbefleckte Empfängnis. »Conchita« ist aber auch ein spanisches Kosewort für die Vulva.
Und genau darum geht es der Künstlerin Conchita, die viel mehr ist als eine Travestie-Sängerin. Sie trägt lange Haare, gelegentlich einen Bob. Dieser galt in den 1920er-Jahren als Signal für Emanzipation und Eigensinn. Ausladende Haarflechten haben eine Karriere hinter sich, die vom früheren Kennzeichen männlicher Freiheit und männlichen Kriegertums bis zum Inbegriff weiblichen Daseins reicht.
Conchita (Wurst) ist ein Symbol für die Annäherung der Geschlechter. Schminken, Parfümieren, Tätowieren: All diesen Jahrtausende zurückreichenden Praxen wohnt ein geschlechtsverändernder Aspekt inne. Mittlerweile lassen sich Frauen häufiger tätowieren als Männer. Conchita schminkt sich für Fotos und TVKameras stärker als die Durchschnittsfrau, sie braucht dafür – unterstützt von Make-up-Artists – eine Stunde. Ihr Ziel definiert sie folgendermaßen: »Ich will, dass mich Frauen beneiden.« Conchita wirkt auf viele Frauen attraktiver als jede »echte« Frau – darin liegt ihre Anziehungskraft. Sie wird als fast unerreichbares Role Model wahrgenommen. Frauen wollen sein wie sie, denn sie ist ein Mann, der schöner ist als eine Frau. Das ist das verwirrend Spektakuläre an Conchitas Auftreten und ihrem Erscheinungsbild.
Rund um das Jahr 2010 hat Tom Neuwirth die Entscheidung getroffen, eine Frau mit Bart sein zu wollen. Journalisten fragen gern: Wie hält es Conchita mit der Rasur? Ganz echt ist die Barttracht jedenfalls nicht, sagt sie dann. Sprießen die Stoppeln an manchen Stellen unregelmäßig oder spärlich, hilft sie einfach mit dunklem Lidschatten nach.
Nach dem Song-Contest-Sieg in Kopenhagen war Conchitas Newswert so enorm wie ihre Vorbilder alt. Bärtige Frauen treiben sich in der Kulturgeschichte nämlich schon sehr lange herum. Kurz gesagt: die (Kunst-)Figur hat einen langen Bart.
EIN BOY-GIRL-CONUNDRUM
Ihr fast 1000 Jahre altes Urbild dürfte in der Toskana zu finden sein. Dort entdeckt man im Dom von Lucca den sogenannten »Volto Santo«. Das »heilige Antlitz« – mit Bart. Und prächtige Kleidung trägt diese Frau mit Gesichtsbehaarung auch noch! Oder ist es doch ein Mann im langen Kleid? Fummel, würde man im queeren Sprachgebrauch sagen.
Beim »Volto Santo« handelt es sich um ein hölzernes Kruzifix aus dem 12. Jahrhundert. Der gekreuzigte Christus wird hier nicht als leidender Mensch, sondern als triumphierender König dargestellt. Er trägt ein prächtiges langes Gewand und eine Krone auf dem Haupt. Auch in der sehr alten Martinskirche in Linz, die vermutlich auf das 10. Jahrhundert zurückgeht, findet man eine Wandmalerei mit dieser auf den ersten Blick weiblich aussehenden Figur. Doch hat auch sie einen Bart.
Nördlich der Alpen dürfte aufgrund der ungewöhnlichen Darstellung eines Mannes in langen Gewändern die Legende einer gekreuzigten jungen Frau in Umlauf gekommen sein. Sie ist keine kanonisierte Heilige, sondern eine im Volksglauben verhaftete Figur, deren Geschichte je nach Region variiert. Sie kann auch verschiedene Namen tragen, etwa »heilige Kümmernis« oder »heilige Wilgefortis«. Diese Frau mit Bart taucht erstmals um 1400 auf, besonders verehrt wurde sie bis in die Barockzeit. Im »Sankt-Wilgefortis-Triptychon« des genialen niederländischen Künstlers Hieronymus Bosch konnte jüngst der spontane Bartwuchs wieder sichtbar gemacht werden. Das Werk, das sich in der Galleria dell’Accademia in Venedig befindet, hatte unter einer Alterung der Farbschicht gelitten, sodass der Bart des langhaarigen Mädchens am Kreuz nur noch rudimentär zu sehen war. Für die große Bosch-Retrospektive 2016 in den Niederlanden war das Altarbild aufwendig restauriert worden. Es stammt in etwa aus den Jahren 1495 bis 1505.
Doch wer ist diese »heilige Conchita«? Möglicherweise war sie die fromme Tochter eines portugiesischen Königs, die den ihr zugedachten Prinzen aus religiösen Gründen nicht zu ehelichen gedachte. Sie betete zu Gott um eine Verunstaltung ihres Gesichts, sodass der Prinz das Interesse an ihr verlöre. Ihr Flehen wurde in Gestalt eines Bartwuchses erhört. Der erzürnte Vater ließ die bärtige Jungfrau ans Kreuz nageln. Sogar mit Musik hat diese Geschichte zu tun: Am Fuß des Kreuzes soll ein armer Spielmann für die Verurteilte gespielt haben. Sie warf ihm zum Dank ihren goldenen Schuh zu. Da diese Begebenheit eine gar so traurige war, trug die arme Jungfrau fortan den Namen »Kümmernis«.
Wie bei tradierten Legenden üblich, gibt es auch andere Versionen. In manchen Gegenden Mitteleuropas sprechen die Leute eher von einer »Wilgefortis« und weniger von der »Kümmernis«. »Die Leute« sind im Fall dieser Volkshelferin mehrheitlich die Frauen, die sich bei alltäglichen Leibes- und Seelennöten an die »Entkümmerin« wenden. »Wilgefortis« könnte ein Name sein, der auf den lateinischen Ausdruck »virgo fortis« hinweist: tapfere Jungfrau oder starke Frau. Auf jeden Fall eine weibliche Person, mit der die römische Amtskirche wenig anzufangen wusste. Bilder der »tapferen Jungfrau« beziehungsweise der »Kümmernis« wurden im Mittelalter gelegentlich verbrannt.
Die Bilderstürmereien hingen damit zusammen, dass alte Vorstellungen von »starken Frauen« im Volksglauben weiterlebten. Geschichten von Amazonen und Walküren finden sich in den Götter- und Heldensagen der Griechen und nordeuropäischen Völker. Diesen unchristlichen Traditionen wurde erst zu Beginn der Neuzeit in den Hexen- und Zaubererverfolgungen endgültig der Prozess gemacht. Im Mittelalter waren die Glaubensvorstellungen der verschiedenen germanischen und slawischen Völker noch durchaus sichtbar. So heißt es in der »Weltchronik« des deutschen Humanisten Hartmann Schedel aus dem Jahr 1493: »Frauen gibt es mit Bärten bis zur Brust.«
Eine »Transgender-Heilige« wäre demnach nichts Ungewöhnliches. Aus Kleinasien waren unterschiedliche hermaphroditische Kulte an den Nil und nach Europa gekommen und quasi »eingebürgert« worden, soll heißen, sie wurden mit den eigenen religiösen Vorstellungen verwoben. Im alten Ägypten und später in Griechenland tauchten sie vielerorts auf.
Androgyne Kultfiguren, also göttliche oder halbgöttliche Wesen mit männlichen und weiblichen Körpermerkmalen, findet man in allen vorchristlichen Religionen. Sie vereinen die menschlichen Gegensätze in sich und sind somit Symbole für überirdische Vollkommenheit.
Die »Kümmernis« verschwand im Lauf des 19. Jahrhunderts aus der Erinnerung der rechtgläubigen Katholiken. Die Bart-Frauen mussten sich nun mit neuen Bühnen zufriedengeben. Schaulustige zahlten Eintritt, um Frauen ohne Unterleib oder mit Bart in Freakshows und auf Jahrmarkt-Buden zu sehen. In Wien erreichte eine ursprünglich aus Mexiko stammende bärtige Tänzerin einen unerhörten Bekanntheitsgrad: Julia Pastrana. 1860 starb die zwergenhafte Schaustellerin im Alter von 26 Jahren. Begraben wurde sie jedoch erst 2013.
DIE MEXIKANISCHE BARTFRAU IN WIEN
Zeitlebens litt Julia Pastrana an Hypertrichose – übermäßigem Haarwuchs. Ein amerikanischer Impresario kaufte sie einst ihrer Mutter ab und ließ sie in seinen Shows amerikaweit, aber auch in Europa auftreten. Das behaarte Mädchen mit starkem Bartwuchs gelangte bis nach Wien und gastierte im Wiener Prater. Sie beherrschte drei Sprachen in Wort und Schrift, tanzte grandios und war 1858 die Pressesensation in Wien. Charles Darwin durfte sie gegen Entgelt untersuchen. Er war auf der Suche nach dem »Missing Link« zwischen Affen und Menschen.
Der Mensch in seinen verschiedenen Varianten gehörte im 19. Jahrhundert zum Grundinventar...