2
Bildungspolitische Meilensteine der schulischen Inklusion
Bei Integration und Inklusion handelt es sich keineswegs um neue Phänomene der letzten Jahre. Schon lange, bevor die Bundesregierung die UN-BRK im Jahr 2009 ratifizierte, war diese Thematik Teil des Diskurses der Bildungslandschaft.
Ein Blick in die Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik offenbart verschiedene Entwicklungslinien und Meilensteine, die wegweisend für heutige Umsetzungsformen gemeinsamer Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf waren.
2.1 Neuausrichtung der Heilpädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1970
Als am 8. Mai 1945 die von Deutschland unterzeichnete Kapitulationserklärung in Kraft trat, endete der Zweite Weltkrieg. Der Schulbetrieb in der direkten Nachkriegszeit war stark eingeschränkt, da zerstörte Schulgebäude, fehlende Möbel sowie ein Mangel an Material und ausgebildeten Lehrkräften den Unterricht erheblich erschwerten. Besonders kompliziert gestaltete sich die Lage der Hilfsschulen. »Der Nationalsozialismus widerrief die in 150 Jahren aufgebaute Heilpädagogik« (Möckel 2007, 187) und stufte behinderte Menschen als bildungsunfähig ein. Zudem wurde der Verband der Hilfsschulen im September 1933 aufgelöst.
Verdrängung der NS-Zeit und Orientierung an der Weimarer Republik
Im Rahmen der Re-Education-Policy unternahmen die Alliierten nach der NS-Diktatur den Versuch, demokratische Werte in Deutschland zu etablieren und die Bevölkerung zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu bewegen (Widmaier 2012, 10). In der Heil- und Sonderpädagogik fand ein solcher Aufarbeitungsprozess jedoch nur unzureichend statt. Beobachtbar waren verschiedene Verdrängungsmechanismen, die große Teile der Heilpädagogik erfassten. Die eigene Rolle wurde dabei nicht reflektiert, in offiziellen Veröffentlichungen findet sich kein Wort des Bedauerns über das Schicksal der Opfer der Euthanasie, obwohl sich die Heilpädagogik dem Schutz behinderter Menschen verschrieben hatte.
Ein eindrückliches Beispiel ist der Fall von Edwin Singer, ab 1934 Direktor der Taubstummenanstalt in Heidelberg und dort mitverantwortlich für die Durchführung von Zwangssterilisationen. Auch nach dem Krieg blieb Singer im Amt, ohne jemals zu den Menschenrechtsverletzungen Stellung zu beziehen.
Direkt nach Kriegsende formulierte er die Neuausrichtung seiner Institution im Namen der Menschlichkeit, was im Licht der Zwangssterilisationen zynisch anmutet: »Die Trümmer sind gesichtet. Schart die tauben Kinder um euch, entzündet ihre Seelchen, lehrt sie reden und erwärmt ihre Herzen, damit auch sie Menschen werden« (Singer 1946, zit. nach Biesold 1988, 120). Bis zu seinem Tod entwickelte der Anstaltsdirektor weder Unrechtsbewusstsein noch Schuldgefühl.
Als sich ein Opfer der Sterilisationen 1960 in einem Brief mit schweren Vorwürfen und Schuldzuweisungen an Singer wendet, zeigt dessen Antwort, dass ein Prozess der Aufarbeitung oder eine Auseinandersetzung mit der Schuldfrage nicht stattgefunden haben. Die Taten werden gerechtfertigt und das Opfer ermahnt, mit seinem Leben zufrieden zu sein.
»Herrn …, … Lieber …!
Zu den erwachsenen Gehörlosen sage ich nicht Du, sondern Sie. Aber in diesem Brief, will ich Du sagen wie früher, dann verstehst du mich besser. Also. Du hast mir geschrieben, daß Du vor 26 Jahren sterilisiert worden bist. Das habe ich nicht gewusst. Aber ich bin garnicht erstaunt. Denn alle Erbkranken sollten damals unfruchtbar gemacht werden. Du fragst: Wer ist schuldig? Wer ist dafür verantwortlich, daß du sterilisiert worden bist? So können viele 100 000 fragen, die alle unfruchtbar gemacht wurden. Ich antworte: der damalige Staat. Es war das nationalsozialistische deutsche Reich. An der Spitze der Regierungspartei standen Hitler, Himmler, Göbels, Frick und andere. Sie sind alle tot. Willst Du sie in der Hölle verklagen? Dann antworten sie: der Reichstag (die Abgeordneten des Volkes) hat das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses beschlossen. Die Ärzte mussten gehorchen und das Gesetz ausführen. Lieber …, solche Klagen sind zwecklos. Es geht Dir nicht schlecht. Du bist aber unzufrieden. Vergleiche Dich doch mit anderen. Viele Millionen sind gefallen oder umgebracht worden. Du lebst! Du kannst arbeiten und genügend verdienen. Daß du keine Kinder hast, das sollst Du nicht als Unglück ansehen. Lieber keine Kinder als ein blindes, ein taubes oder ein epileptisches. Du warst schon als Bub oft unzufrieden. Aber wenn ich mit Dir gesprochen hatte und Du überlegtest, dann warst Du wieder froh. So soll es jetzt auch sein. Also … Kopf hoch! Und Glück auf! Mit herzlichem Gruß« (erstellt nach Biesold 1988, 121 f.)
Neben der Verdrängung der NS-Zeit war in der Nachkriegszeit unter den Heilpädagogen der Wunsch verbreitet, zu den pädagogischen Konzepten der Weimarer Republik zurückzukehren. Deutlich machte dies der erste Verbandstag des 1949 neu gegründeten Hilfsschulverbandes. Schon das Einführungsreferat brachte den Stolz auf die bisherigen Leistungen der Heilpädagogik zum Ausdruck und gab die Richtung für die kommenden Jahre vor: »Wir müssen wieder dort anknüpfen, wo wir 1932 aufgehört haben« (Spieler 1949, zit. nach Ellger-Rüttgardt 1998, 50). Begleitend zum Verbandstag erschien eine Ausgabe der heilpädagogischen Blätter, dem Publikationsorgan des Hilfsschulverbandes. Dort wurde das Selbstverständnis der Heilpädagogik nach 1945 deutlich formuliert:
»Die deutsche Hilfsschulpädagogik hat eine gute Tradition [Hervorhebungen im Original] gehabt bis 1932. Sie hatte als tragendes Fundament eine echt heilpädagogische Gesinnung und edelmenschliche Verpflichtung aus dem Wertereich des Religiösen, Karitativen, Humanen und Sozialen erkannt. Die Heilpädagogischen Blätter wollen das Gute und Bleibende in dieser Tradition pflegen« (Dohrmann/Lesemann 1949, zit. nach ebd.).
Mangel an Internationalität und die Rolle des Verbandes deutscher Hilfsschulen
Aus dieser ›guten Tradition‹ heraus gestaltete sich die Neuausrichtung der Heilpädagogik vor dem Hintergrund personeller Kontinuität. Nach wie vor war das Selbstverständnis der Führungsposition der 1920er Jahre vorherrschend. Als Folge wurden internationale Entwicklungen nur wenig oder gar nicht zur Kenntnis genommen.
Dieser Mangel an Internationalität sorgte für einen starken Selbstbezug der deutschen Heil- und Sonderpädagogik, die darauf bedacht war, das Besondere der eigenen Disziplin herauszustellen.
Vereinzelte Berichte über heilpädagogische Arbeit in anderen Ländern legten allerdings nahe, dass das deutsche System durchaus einer Überarbeitung bedurfte. So berichtete Karl Ederer, Schulrat aus München, 1950 begeistert über das amerikanische Bildungs- und Erziehungssystem:
»Das ganze amerikanische Erziehungsdenken und Erziehungsprogramm dünkt mich Ausfluß eines breiten Humanismus mit seinem lebhaften Interesse am Nächsten und mit seinem Gefühl der Verpflichtung gegenüber den weniger Begünstigten. […] Uns begegnet hier der einnehmende Gedanke im Bereich der Erziehung und der Demokratie: dem Menschen dazu zu helfen, daß er sich selbst helfen kann, dem Hilfsbedürftigen hilfreich zu Seite zu stehen, aber nichts unversucht zu lassen, seine Selbstertüchtigung zu fördern, um ihn so von der Hilfe der anderen unabhängiger werden zu lassen« (Ederer 1950, 10 ff.)
Scheinbar waren in den USA bereits kurz nach dem Krieg erzieherische und heilpädagogische Vorstellungen verbreitet, die in Deutschland erst rund zwanzig Jahre später Fuß fassen sollten. Dazu gehörte zum Beispiel die Orientierung an personellen Stärken und Ressourcen mit dem Ziel einer möglichst selbstständigen Lebensführung bei subsidiärer Rolle der Heil- und Sonderpädagogik.
In Deutschland war die Entwicklung des sonderpädagogischen Schulsystems eng mit dem Verband deutscher Hilfsschulen verbunden (1955 in den Verband Deutscher Sonderschulen umbenannt). Aus seiner 1954 veröffentlichten Programmatik entstand die Denkschrift zu dem Ausbau des heilpädagogischen Sonderschulwesens. In dieser wurde die dauerhafte Beschulung behinderter Kinder und Jugendlicher in eigenständigen Sonderschulen gefordert. Als Begründung diente der Verweis auf das seelische Wohl der Schüler: »Die gemeinsame Unterrichtung und Erziehung mit den normal begabten Mitschülern bringt die hilfsschulbedürftigen Kinder in eine schwere...