I. Kindheit und Jugend bis zum
Klostereintritt
Die Niederlande im 15. Jahrhundert. Die burgundische Herrschaft. Nördliche Niederlande in jeder Hinsicht eine abgelegene Gegend. Die Devotio moderna, die Brüder vom gemeinsamen Leben und die Windesheimer Kongregation. Erasmus’ Geburt. Seine Verwandten. Sein Name. Schulzeit in Gouda, Deventer und Herzogenbusch. Er tritt ins Kloster ein.
Holland war Mitte des 15. Jahrhunderts erst zwanzig Jahre Teil des Gebietes, das die Herzöge von Burgund unter ihre Herrschaft gebracht hatten: eine Ansammlung von Ländern, teils mit französischer Bevölkerung wie Burgund, Artois, Hennegau, Namur, teils mit niederländischer wie Flandern, Brabant, Zeeland, Holland.2 Lange vor der burgundischen Zeit waren Holland und Zeeland bereits viel mehr als die östlichen Gebiete der nördlichen Niederlande nach Süden und Westen orientiert. Sie wurden als Erste in den Einflussbereich der burgundischen Politik gezogen. Sobald die Herzöge in Holland und Zeeland die Herrschaft hatten, richteten sie von da aus ihren Blick nach Osten und Norden. Im Bistum Utrecht hatte Philipp der Gute bereits seinen unehelichen Sohn David installiert, und die Eroberung von Friesland, ein Erbe aus der Politik des Hauses Bayern-Hennegau, schien nur eine Frage von Zeit und Gelegenheit zu sein. Das Herzogtum Geldern bewahrte noch seine uneingeschränkte Selbstständigkeit, da es mehr als die anderen nordniederländischen Gebiete mit benachbarten deutschen Territorien und damit zugleich mit dem Kaiserreich selbst verbunden war.
Die nördlichen Niederlande (die zusammenfassende Bezeichnung „Niederlande“ kam in diesen Tagen erst auf) hatten in nahezu jeder Hinsicht den Charakter einer entlegenen Peripherie. Die Macht der Deutschen Kaiser bestand hier seit einigen Jahrhunderten fast nur noch als eine verblasste Idee. Am aufkommenden Gefühl einer nationalen deutschen Einheit nahmen Holland und Zeeland kaum noch Anteil. Zu lange waren sie bereits politisch an Frankreich ausgerichtet gewesen. Seit 1299 hatte eine Französisch sprechende Dynastie in Holland regiert, denn das Bayerische Haus, das Mitte des 14. Jahrhunderts dem Hennegau’schen gefolgt war, hatte in keiner Weise die Verbindung von Holland und Zeeland mit dem Reich erneuern können. Es war im Gegenteil selbst unter französischen Einfluss geraten, angezogen durch Paris und umfasst von den ausgreifenden Armen Burgunds, das es mit einer doppelten Heirat an sich zog. Auch in kirchlicher Hinsicht waren diese Gebiete Peripherie. Spät für das Christentum gewonnen, blieben sie als Grenzgebiet unter einem Bischof, dem von Utrecht, vereinigt. Die Maschen des kirchlichen Organisationsgeflechts waren hier weiter als anderswo. Eine Hochschule gab es nicht. Paris blieb für die Nordniederländer das Zentrum von Lehre und Wissenschaft, auch nachdem die ambitionierte Politik der burgundischen Herzöge 1425 die Universität zu Löwen gestiftet hatte. Von den reichen Städten Flanderns und Brabants aus betrachtet, nun das Herz der burgundischen Macht, waren Holland und Zeeland armselige Ländchen von Schiffern und Bauern. Die ritterlichen Sitten, denen die Herzöge von Burgund neuen Glanz geben wollten, konnten unter dem holländischen Adel nur mäßig Fuß fassen. Die höfische Literatur, in der Flandern und Brabant eifrig dem französischen Vorbild nachstrebten, wurde durch die Holländer kaum nennenswert bereichert. Was in Holland entstand, blühte im Verborgenen und eignete sich nicht dafür, die Aufmerksamkeit der Christenheit auf dieses Land zu richten. Es waren die rege Schifffahrt und der Handel, meistens Transithandel, womit Holland bereits der deutschen Hanse den Rang streitig zu machen begann. Sie brachten das Land in ständigen Kontakt mit Frankreich und Spanien, England und Schottland, Skandinavien, Norddeutschland und den Rheinlanden ab Köln aufwärts. Es war die Heringsfischerei, ein einfaches Metier, aber Quelle großen Wohlstandes, und eine zunehmende Betriebsamkeit des Webens, Brauens und des Schiffbaus im Verbund mit zahlreichen kleinen Städten.
Keine der Städte in Holland und Zeeland, weder Dordrecht, noch Leiden, Haarlem, Middelburg oder Amsterdam, konnte sich nur im Entferntesten mit Gent, Brügge, Lille, Antwerpen oder Brüssel messen. Die holländischen und zeeländischen Städte waren noch zu klein und das Land zu abgelegen, um ein Zentrum von Kunst und Wissenschaft bilden zu können. Wer sich hier hervortat, wurde unwiderstehlich von den großen Brennpunkten der weltlichen und kirchlichen Kultur angezogen. Claus Sluter aus Haarlem arbeitete zuerst in Brüssel, dann in Burgund im Dienst der Herzöge und ließ seiner Heimatgegend nichts von seiner Kunst. Dirk Bouts, ebenfalls aus Haarlem, zog nach Löwen, das seine besten Werke hütet; was davon in seiner Geburtsstadt geblieben war, ist zugrunde gegangen. Die fragwürdigen Versuche, die den Namen von Haarlem in die Geschichte der Buchdruckkunst einschreiben sollten, mündeten nicht in einer besonderen Bedeutung von Haarlem als Buchmarkt.
Seit dem letzten Viertel des 14. Jahrhunderts hatte eine spirituelle Bewegung, die in den Städten an der Ijssel entstanden war, den gemeinsamen Volkscharakter der nördlichen Gebiete deutlicher in Erscheinung gebracht als zuvor. Es war eine Bewegung der vertieften und verinnerlichten Religiosität. Geert Groote hat sie geistig geprägt. Sein Streben nahm in zwei eng verwandten Formen Gestalt an: den Brüderhäusern, wo die Brüder vom gemeinsamen Leben zusammenwohnten, ohne ganz von der Welt Abschied zu nehmen, und der Windesheimer Kongregation, regulierten Chorherren nach der Regel des hl. Augustinus. Vom Landstrich an der Ijssel aus hatte die Bewegung sich rasch ausgebreitet, ostwärts nach Westfalen und nordwärts nach Groningen und den friesischen Gebieten, westwärts nach Holland. Überall wurden Brüderhäuser eingerichtet und Klöster der Windesheimer Kongregation gegründet oder ihr angeschlossen. Man sprach von der Bewegung als der „neuzeitlichen Religiosität“, der Devotio moderna. Sie war ein neuer Gemütszustand und eine neue Praxis, keinesfalls eine neue Lehre. Der gut katholische Charakter der Bewegung wurde, nach einigem Zweifel, rasch durch die kirchliche Autorität anerkannt. Ernst und Sittsamkeit, Schlichtheit und Fleiß, vor allem eine stete Innigkeit des religiösen Fühlens und Denkens waren die Ziele. Ihre Betätigungsfelder fanden die Brüder und Schwestern neben der Krankenpflege und der Fürsorge vor allem in Unterricht und Schreibkunst. Insbesondere durch ihre pädagogischen Bestrebungen unterscheidet sich die Devotio moderna vom etwa gleichzeitigen Aufschwung in den franziskanischen und dominikanischen Orden, die sich mehr der Predigt widmeten. Der Windesheimer und der Hieronymiaan (ein anderer Name für die Brüder vom gemeinsamen Leben) fanden ihre höchste Aufgabe in der Abgeschlossenheit des Schulraums und in der Stille der Schreibstube. Die Schulen der Brüder zogen bald Schüler aus weitem Umkreis an. Hier in den nördlichen Niederlanden und in Norddeutschland wurde so, früher als anderswo, die Grundlage gelegt für eine gewisse allgemein verbreitete Bildung in den Kreisen des wohlhabenden Bürgertums. Eine Bildung von sehr enger, strikt schulmäßiger und kirchlicher Art, die aber gerade dadurch geeignet war, breite Volksschichten zu erreichen. Was die Windesheimer an frommer Literatur selbst hervorbrachten, beschränkte sich hauptsächlich auf erbauliche Büchlein und Lebensbeschreibungen aus ihrem eigenen Kreis. Ihr Werk ist eher gekennzeichnet durch einen tiefernsten Ton als durch Kühnheit oder Neuheit der Gedanken.
Die Bewohner dieses Landstrichs galten als grob und bäuerlich, unmäßig bei Speise und Trank. Doch zugleich wurde mehr als ein Fremder, der sich hier aufhielt, berührt von der aufrichtigen Frömmigkeit der Bevölkerung. Diese Länder waren bereits, was sie immer geblieben sind: ein wenig in sich selbst gekehrt und einsilbig, besser geeignet, die Welt zu betrachten und zu ermahnen, als durch geistigen Glanz zu beeindrucken.
Rotterdam und Gouda gehörten nicht zu den führenden Städten der Grafschaft Holland. Beide waren Landstädtchen von geringerer Bedeutung als Dordrecht, Haarlem, Leiden und das schnell aufblühende Amsterdam. Kulturelle Mittelpunkte bildeten sie nicht. In Rotterdam wurde Erasmus in der Nacht vom 27. auf den 28. Oktober des Jahres 1466 oder vielleicht auch erst 1469 geboren.3 Da es eine uneheliche Geburt war, wurde über seine Abstammung und seine Verwandtschaft ein Schleier des Geheimnisses gebreitet. Möglicherweise hat Erasmus selbst erst in späteren Jahren die Umstände seiner Geburt kennengelernt. Äußerst betroffen von diesem Makel, war er stets bemüht, das Geheimnis für sich zu behalten. Das Bild, das er sich davon im reiferen Lebensalter gemacht hat, war romantisch und rührselig. In seinem Vater sah er einen jungen Mann, der eine Beziehung mit der Tochter eines Arztes unterhielt, in der Hoffnung, sie heiraten zu können. Die darüber aufgebrachten Eltern und...