I. Warum es vernünftig ist, mit Gott
zu rechnen
Der Vorwurf der Atheisten und
notwendige Gegenfragen1
Atheistische Religionskritiker behaupten, jede Annahme einer anderen als der rein natürlichen, physikalisch erklärbaren Wirklichkeit sei reine Illusion. Eine andere, transzendente Dimension und alles damit Verbundene (wie Hoffnung auf ein Leben der Verstorbenen, auf universale Gerechtigkeit) sei alles nichts als eine realitätsferne Illusion, reine Wunschprojektion.
Mit Recht sagen diese Religionskritiker: Eine bloße Wunschprojektion schafft keine Wirklichkeit, der Durst des Verdurstenden zwingt nicht die Oase herbei; „das Äußerste, was der Durst selbsttätig zu erzeugen vermag, ist die Fata Morgana.“ Richtig! Aber dann folgern die atheistischen Kritiker: So sei eben auch Gott eine bloße Fata Morgana, eine „Wahngestalt“ (Burkard Müller), „Gotteswahn“ (Richard Dawkins).
Doch diese Folgerung ist nicht schlüssig, sie ist ein Trugschluss. Denn: Mein jetziger konkreter Durst bedeutet zwar sicher nicht, dass es jetzt hier auch etwas zu trinken geben muss. Aber – und genau das übersehen die Kritiker – dass es überhaupt das Phänomen Durst gibt, besagt doch, dass es irgendwo etwas geben muss, das den Durst stillen kann, sonst wären Wesen mit Durst gar nicht entstanden; gäbe es kein Wasser, so wären in der Evolution nie auf Wasser angewiesene Wesen entstanden.
Nun haben wir Menschen aber nicht nur natürlich-vitale Bedürfnisse (nach Wasser, Atemluft, Schutz usw.) und dazu noch spezifisch humane Bedürfnisse (wie Tätig-sein-Können, Freude am Werk, Freundschaft), sondern wir Menschen haben darüber hinaus auch metaphysisch-existenzielle Bedürfnisse (nach einer Erklärung für die Existenz der Welt und des Menschen; nach Begründung des Guten, nach Gerechtigkeit und nach einem letzten Sinn) und wir haben ein entsprechendes Verlangen: eine Sehnsucht, die durch nichts in der Welt gestillt werden kann (sodass der Mensch letztlich das unbefriedigte Wesen bleibt).
Es gibt also auch einen „meta-physischen“ Durst!2 Er kommt nicht von ungefähr. Gäbe es definitiv keinen letzten Sinn – wieso sollten dann Wesen mit Durst nach einem solchen Sinn entstanden sein? So gesehen wird der zum Menschen gehörende Durst nach einem letzten, umfassenden Sinn zu einem starken Indiz dafür, dass ein solcher Sinn (den Glaubende mit Gott verbinden) tatsächlich existiert oder – vorsichtiger gesagt – existieren könnte.
Wenn Atheisten sagen, die Annahme einer anderen, göttlichen Dimension sei nur unsere Wunschprojektion, nur unser Konstrukt, dann muss man gegenfragen: Warum ist denn der Mensch so strukturiert, dass er sich mit der vorhandenen Welt nicht zufrieden gibt, dass er – in einer (zumindest prinzipiell) endlosen Unzufriedenheit und Unersättlichkeit – über alles, eben auch über diese Welt, die Natur, den Tod, hinausfragt, hinaus-verlangt, hinaus-projiziert, dass er dies zumindest kann? Der Mensch ist ja ein erstaunliches Wesen, weil er trotz seiner radikalen Endlichkeit von einer unstillbaren Sehnsucht beseelt ist. Er ist ausgerichtet auf ein Mehr und Besser. Er kann sich – wie die Hirnforschung zeigt – aufgrund der hochkomplexen Beschaffenheit seines Gehirns sogar auf eine andere, transzendente Dimension ausrichten.
Unser menschliches Gehirn gibt das her, wir haben diese Möglichkeit, nach einer anderen Dimension zu fragen, etwas zu ahnen, das alles übersteigt, etwas, das Staunen, Ehrfurcht auslöst, seiner inne zu werden, vielleicht gar es zu gewahren, es zu spüren. Warum ist das so?
Führt uns da wirklich nur unsere (Gehirn-)Konstitution in die Irre, ist das also nur unser Konstrukt (unser „Hirngespinst“), oder hat sich unsere Konstitution im Laufe der Evolution so herausgebildet, weil sie sich an eine tiefere Dimension der Wirklichkeit herantastet, sich ihr annähert? Ist das Gottesbewusstsein also nur ein zufälliges Nebenprodukt der Evolution oder doch das Ergebnis einer Entsprechung zu einer tieferen Schicht der Realität?3
Sind wir vielleicht so gebaut, so voller Durst nach Dauer, Liebe, Gerechtigkeit, Sinn, weil es – am Grunde von allem – eine andere Wirklichkeit gibt, die uns hat entstehen lassen, auf sich hin (als unsere wahre Sinn-Erfüllung), sodass wir deswegen unablässig auf der Suche sind und uns dabei oft an Dingen festmachen, die uns enttäuschen müssen, weil sie das nicht halten können, was wir uns fälschlich von ihnen versprechen, sondern ein Versprechen auf mehr sind? Stimmt es vielleicht, was Augustinus (zu Beginn seiner Confessiones) so sagte: „Du [Gott] hast uns auf dich hin erschaffen, und ruhelos ist unser Herz, bis es seinen Halt findet in dir“ (und zwar nicht erst im Tod, sondern jetzt schon)? Stimmt, was Kierkegaard sagte: „Gottes zu bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit“?4
Die Frage bleibt theoretisch unentscheidbar; jeder entscheidet sie selbst mit seiner praktischen Lebensoption, mit seinem Lebensexperiment. Beide, der Glaube an Gott wie der Atheismus, sind eine Option (eine Entscheidung darüber, wie ich leben möchte, was mir wichtig ist), eine Selbstfestlegung und ein Lebensexperiment, und keiner von beiden hat eine beweisbare Sicherheit, ob seine Option sich als richtig erweisen wird.
Der französische Philosoph André Comte-Sponville schreibt in seinem Buch „Woran glaubt ein Atheist?“ (Zürich 2008): „Ich habe keine Beweise. Niemand hat welche. Aber ich habe eine bestimmte Anzahl von Gründen und Argumenten, die mir stärker erscheinen als jene, die für das Gegenteil sprechen. […] Ich behaupte nicht, zu wissen, dass Gott nicht existiert; ich glaube, dass er nicht existiert“ (88). „Wenn Sie jemanden treffen, der behauptet: ‚Ich weiß, dass Gott nicht existiert‘, ist das kein Atheist, sondern ein Idiot.“ Entsprechend sei aber auch jemand, der behauptet: „Ich weiß, dass Gott existiert“, kein wahrhaft Gläubiger, sondern ein Idiot, der Glauben mit Wissen verwechselt (89).
Atheismus und Gottesglaube: Beides ist eine (existenziell verankerte) Deutung des Ganzen der Wirklichkeit; eine umfassende Weltdeutung und eine Entscheidung; beides ist ein Versuch, mit der Welt und dem Leben und allem, was uns begegnet, zurechtzukommen, ein Glaube!
Und der Deutungsversuch, der mit Gott rechnet, hat da keine schlechten Karten. Denn wenn man die Frage stellt, warum wir so gebaut sind (so voller Durst nach Dauer, Gerechtigkeit, Sinn) und warum unser Gehirn so ist, dass wir in der Lage sind, am Rande unserer Wahrnehmungsfähigkeit noch eine ganz andere, transzendente Dimension zu ahnen – wenn man diese Frage nicht verdrängt, sondern aushält, dann kann eine erweiterte, tiefere Weltsicht plausibel werden, eine Weltsicht, die mit einer ganz anderen Dimension rechnet, mit einer Wirklichkeit, die alles Weltartige übersteigt.
Vielleicht läuft ja die evolutive Entwicklung auf eine immer größere Sensitivität der Lebewesen (also hin zu Empfindungsfähigkeit, zu Fürsorge, zu Liebesfähigkeit, zum Wir) zu, und vielleicht ist sie ja die Entwicklung hin zur Fähigkeit, eine andere, transzendente Dimension zu ahnen, ihrer inne zu werden, vielleicht ist das alles ja kein bloß zufälliges Nebenprodukt der Evolution, sondern ihr tiefster Sinn.
Nun bestimmt heute die (Natur-)Wissenschaft weithin die Sicht der Welt und von uns selbst. Und viele meinen, sie könnten ihren Atheismus mit der (Natur-)Wissenschaft begründen. Sie sagen: Die Wissenschaften erklären doch alles, Gott ist überflüssig, wir brauchen keinen Gott. Sehen wir deshalb näher hin.
Was erklären die Wissenschaften und
was will die Frage nach Gott?
1. Die Wissenschaften erklären ein endliches Faktum durch ein anderes und dieses wieder durch ein anderes, usw., und sie verbleiben dabei innerhalb der Welt bzw. innerhalb einer weltartigen Größe. Das gilt auch für die physikalische Theorie vom Urknall, weil auch ein Urknall etwas voraussetzt, das explodieren konnte.5 Alle kosmologischen Theorien müssen etwas (Weltartiges) voraussetzen, aus dem das Universum entstanden sei (z. B. ein Quantenfeld oder -vakuum, in dem sich Fluktuationen abspielten).6 Alle wissenschaftlichen Erklärungen beschreiben also regelhafte Funktionszusammenhänge zwischen endlichen Ursachen innerhalb der Welt, und dazu brauchen sie nicht „die Hypothese Gott“.
Der bekannte Münchener Astrophysiker Harald Lesch sagt: „Die Physik ist nur zuständig für die Innenarchitektur des Kosmos; sie ist nicht zuständig für einen Plan oder einen Planer (Schöpfer), dazu haben wir nichts zu sagen; wir leben von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen, das ist unser Ding. Wenn Kosmologen von Gott faseln, ist...