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E-Book

Tirol von innen gesehen

Zeitzeugen im Gespräch

VerlagHaymon
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783709937723
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Sechs faszinierende Tiroler Persönlichkeiten, sechs spannende Geschichten und sechs unterschiedliche Blickwinkel auf die Heimat: Die Künstler Anton Christian und Walter Nagl, Alt-Bürgermeister Helmut Kopp, die Tochter des Südtiroler Freiheitskämpfers Georg Klotz, Eva Klotz, Kameramann und Hollywood-Regisseur Christian Berger und Unternehmer-Legende Leopold Wedl - sie alle berichten aus ihrem Leben und eröffnen damit einen ganz besonderen Blick auf Tirol und seine Geschichte.

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Leseprobe

Auf den Spuren des ewigen ­Rätsels vom Werden und Vergehen


Von Ivona Jelčić


Anton Christian im Zeitzeugengespräch mit Felix Mitterer

Die Bezeichnung „Menschenmaler“ hat einst die Tiroler Kunsthistorikerin Magdalena Hörmann für ihn geprägt. Anton Christian gefiel das. Weil ja der Mensch in seiner gebeutelten Existenz, die conditio humana also, in seiner Kunst eine entscheidende Rolle spielt. Christian hat der „Menschenmaler“ aber auch irgendwie an „Menschenfresser“ erinnert. Sagt er. Die Lakonie, mit der er so manchen Fremdbetrachtungen begegnet und noch lieber Selbstbetrachtung betreibt, trifft, wenn man sein künstlerisches Werk hinzuzieht, rasch auf einen tieferen, geradezu romantischen Ernst: Christians Thema sind die Bedingungen und auch Beschädigungen des menschlichen Seins, die Ursprünge und Enden, der Kreislauf von Werden und Vergehen. Früh schon glich er diesen an organischen Vorgängen ab. Er erkundete ihn aber auch entlang von Mythologischem, Symbolistischem, Archaischem, Literarischem, Gesellschaftspsychologischem. Und nicht zuletzt im steten Abgleich mit der Natur. Selbst aus manchen „Rußblumen“, 1995 aus den Relikten eines verheerenden Flurbrandes in Griechenland entstanden, erwachsen Ahnungen menschlicher Formen und Körper. „Ich bin schon einmal gewesen“ ist wiederum der bedeutsame Titel einer Zeichnung aus dem Jahr 1978: Sie zeigt eine im Wasser widergespiegelte Gestalt auf einer Art Toten- und zugleich Auferstehungsbett. „Die Sehnsucht nach Archaischem und Elementarem“, schrieb einmal der Kurator und Kunsthistoriker Peter Weiermair über den Künstler, entspreche „zutiefst der Person Anton Christians“.

Zuhause in Natters unweit von Innsbruck begegnet man dem Künstler inmitten üppiger Natur: sattes Grün, Bäume, Blumenpracht – das perfekte Idyll eines gelernten Profi- und zugleich Anti-Tirolers. Die außereuropäischen Masken und Skulpturen, die es hier außerdem zu entdecken gibt, sind nur vermeintlich ein Bruch: Die Welt von Anton Christian hat schon immer auch weit über Tirol hinausgeführt. Auch noch, nachdem er Anfang der 1970er Jahre letztlich doch in der Heimat Wurzeln geschlagen hat. Und es sich zu Beginn ein bisschen seltsam anfühlte, plötzlich „so sesshaft“ zu sein. „Verstehen Sie, was ich meine?“, sagt der Künstler vierzig Jahre später. Und lacht.

Die Jahre in Paris und London, von denen hier noch die Rede sein wird, Vortragsreisen durch und Ausstellungen in den USA, Welterkundungstouren, die ihn schon früh per Anhalter bis nach Nordafrika geführt haben, die Faszination für Naturvölker und Stammeskunst werden dazu noch einige Erklärungen liefern.

Kriegsjahre in Oberau


Aber zurück zum Anfang zunächst, ins Tirol des Jahres 1940, in dem am 7. Februar Anton Christian Kirchmayr in Innsbruck zur Welt kommt. Er ist der Sohn von Anna und Toni Kirchmayr, jenem Tiroler Maler und Restaurator (1887–1965), dessen Spuren man hierzulande auf Schritt und Tritt begegnet. In der Wallfahrtskirche Maria Locherboden in Mötz, in der Pfarrkirche Auffach in der Wildschönau oder in Wenns, Vomp und Fulpmes. Als Kirchenrestaurator und Freskenmaler ist Kirchmayr im Raum Tirol, Salzburg und Bayern eine Instanz, bereits 1919 hat er außerdem in Innsbruck seine eigene Mal- und Zeichenschule gegründet: Sie ist die erste Ausbildungsstätte für fast alle namhaften Tiroler Künstler der Zeit, die später an die Akademie nach Wien gehen sollen, darunter etwa Franz Walchegger oder Max Weiler.

Anton Christian ist nach vier Töchtern aus früherer Ehe der erste Sohn, der Vater ist zum Zeitpunkt seiner Geburt bereits 53 Jahre alt. Es sind die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs, Innsbruck wird bombardiert, 1942 verfrachtet der aus Schwaz gebürtige Toni Kirchmayr die Familie nach Oberau in der Wildschönau. Die Umstände in seinem dort befindlichen kleinen Häuschen sind bescheiden. „Hinten am Balkon raus das Plumpsklo, kein Wasser im Haus, sondern im Schupfen nebenan.“ Der Vater ist kaum anwesend, wird sich Anton Christian später in einem autobiografischen Text, erschienen 1977 in der Tiroler Kulturzeitschrift Das Fenster, erinnern. „Den Sommer über malte und restaurierte er in Kirchen und an alten Häusern, im Winter hielt ihn seine Malschule, die er sehr geliebt hat und eigentlich als sein Hauptwerk betrachtete, von uns fern.“ Noch mit 57 Jahren wird Toni Kirchmayr von den Nazis, so Christian, „zum Reichsarbeitsdienst nach Prag“ eingezogen.

Jahrzehnte später wird sich der Sohn ausgehend von sehr privaten Fundstücken mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs beschäftigen: Nach dem Tod der Schwester Lisbeth findet er in ihrem Nachlass ein ganzes Paket voller Feldpostbriefe. „Das waren 16 verschiedene Briefschreiber, ein paar Verwandte der Familie, Freunde der Schwester, Unbekannte, denen sie geschrieben hat, weil es damals den Aufruf gab, man soll Briefe an unbekannte Soldaten schreiben, damit die halt auch Post bekommen“. Von diesen 16 Leuten, sagt Christian, waren zwei dabei – „beide mit mir verwandt“ –, bei denen „die nationalsozialistische Gesinnung aus den Briefen herauszulesen war, wo man gemerkt hat, dass sie einverstanden waren, mit dem, was passiert ist.“ Bei allen anderen war es das menschliche Empfinden abseits des Weltenlaufs, das den Künstler „zutiefst ergriffen“ hat: Da war die Rede von „Heimweh, Eifersucht, nicht die Beschreibung des Grausigen, das sie erlebt und gesehen haben, sondern eher so: Bei euch wird jetzt wohl bald Weihnachten gefeiert. Oder: Blühen bei euch schon die Bäume?“. Es entsteht der Zyklus Feldpostbriefe (2009–2012).

„… und kam mir vor wie Van Gogh“


Als Kind freilich, zunächst in Oberau, später wieder in Innsbruck, interessiert Anton Christian vor allem auch Handwerkliches. Vieles lernt er, so beschreibt er es selbst in seinen Erinnerungen, von „Vater Sandbichler“, einem alten Wegmacher und Senn, der mit seiner Ehefrau ebenfalls im Haus wohnt. „Ich war oft bei ihm auf Almen, er zeigte mir, wie man am Stamm und im Holz den Unterschied zwischen Fichten und Tannen erkennt, wie man Holzriegel macht, Hacken und Messer schleift, Seile knüpft und mit Tieren umgeht.“ Vom Künstlerwerden träumt Christian nicht: „Ich wollte ebenso gut Architekt werden, das hat mich genauso interessiert.“ Ein Lehrer empfiehlt den Jungen schließlich an die Gewerbeschule, er besucht sie ab 1954, den Vater freut das, „weil er dachte: Dann habe ich mehr Hilfe beim Restaurieren.“ Toni Kirchmayr fertigt zu der Zeit auch Urkunden aus, für die Landesregierung oder die Bezirkshauptmannschaft. „Da hat er zu wenig Leute gehabt, die schön schreiben können, und in der Gewerbeschule haben wir gelernt, schön zu schreiben. Also habe ich dann Urkunden geschrieben und dadurch ein bisschen Taschengeld verdient. Da war ich so 14, 15.“ Mit schulischem Gehorsam kann sich Christian weniger anfreunden: Wegen „Renitenz und zu vieler versäumter Unterrichtsstunden“ fliegt er im zweiten Jahr von der Schule, wird aber im darauffolgenden Herbst wieder aufgenommen und schließt die Ausbildung 1958 ab.

Längst interessiert er sich in dieser Zeit schon brennend für die Welt außerhalb Tirols. „Mein Vater war ja sozusagen ein Profitiroler. Nördlich von Nürnberg und südlich von Bozen, das waren für ihn alles Gauner.“ Dass aber den Sohn die Neugier in die Welt hinauszog, dagegen habe der Vater nie etwas gehabt. „Er hat sich sicher Sorgen gemacht, und die Mutter auch. Aber da war nie ein Wort, dass ich das nicht tun soll. Sie hätten das nie verweigern wollen. Auch nicht, als ich dann nach Paris gefahren bin. Das hat ihn nicht gestört, im Gegenteil: Er hat das gescheit gefunden“. Die allerersten Ausflüge unternimmt Christian freilich noch mit den Pfadfindern, es geht an den Garda- und an den Bodensee. „Und dann kam die Autostoppzeit“: Mit 16 beginnt er auf eigene Faust zu reisen, kommt in den Folgejahren bis ins südliche Marokko oder zur Weltausstellung in Brüssel 1958, nach Marseille und Barcelona – damals noch „raue, schmutzige Städte“.

Auch das Abfindungsgeld, das er nach dem Präsenzdienst bekommt, wird für ausgedehnte Reisen verwendet, auf denen Anton Christian sich nun auch als Künstler erprobt: „Ich verfertigte von Marseille bis Tarragona eine Menge miserabler Aquarelle und kam mir vor wie van Gogh“ (aus: Das Fenster, 1977). Die Zeichenschule des Vaters in der Herzog-Friedrich-Straße in Innsbruck hatte Christian bereits während der beiden letzten Gewerbeschuljahre besucht. Wie erging es ihm da, als Sohn? Der Vater habe ihn „gleich behandelt wie die anderen Schüler in seinem Kurs“, sagt Christian: „Er hat halt hineingezeichnet, wenn er gemeint hat, dass man etwas falsch gemacht hat. Was man in dem Alter nicht so mag, aber er war sicher ein guter Lehrer“.

Gleichgesinnte an der Akademie


Im Herbst 1959 schließlich fährt der 19-Jährige zur Aufnahmeprüfung an der Akademie der bildenden Künste nach Wien. Und beginnt in der Klasse von Josef Dobrowsky zu studieren. Er besucht auch den legendären „Abendakt-Kurs“ von Herbert Boeckl: „Da ist man gern hingegangen, denn der Boeckl hat gern geredet – ein bisschen mystisch-verzerrt, das haben alle geschätzt und keiner hat ihn verstanden.“ Boeckl gab auf diesem Wege auch seine Ansichten an die Studenten weiter, etwa wenn er, so Christian, über „Kitsch“ gesprochen und erklärt habe: „Klimt hat wenigstens echten Kitsch gemacht, aber bei Schiele war ja noch nicht einmal der Kitsch echt“.

Die Jahrhundertwende-Kunst, erinnert sich Christian, habe „damals keinen Wert gehabt auf der Akademie. Die gültige Kunst in der...

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