Warum nicht Wandel, sondern Verwandlung der Welt?
Dieses Buch wendet sich gegen den weitverbreiteten Versuch, Pellkartoffeln zu pflanzen. Ich versuche mir und vielleicht auch anderen aus einer großen Verlegenheit zu helfen. Habe ich doch nun viele Jahre Soziologie gelehrt und den Wandel moderner Gesellschaften erforscht. Aber auf die ebenso simple wie absolut notwendig zu beantwortende Frage, was sich da vor unser aller Fernsehaugen in der Welt abspielt, fehlten mir die Worte, und ich sah mich zu einer Bankrotterklärung genötigt. Es gab nichts – kein Konzept, keine Theorie –, das die Turbulenzen dieser Welt, wie es Hegel verlangt, »auf den Begriff gebracht« hätte.
Nun kommt die Sache mit den Pellkartoffeln ins Spiel. Wer versucht, Pellkartoffeln zu pflanzen und zu ernten – hat Niklas Luhmann einmal gesagt –, begeht einen »Kategorienfehler«. Wer versucht, mithilfe der in den Sozialwissenschaften zur Verfügung stehenden Konzepte des »Wandels« – »Evolution«, »Revolution« und »Transformation« – den allgegenwärtigen Aufregungszustand der Welt auf den Begriff zu bringen, der versucht, Pellkartoffeln zu pflanzen und zu ernten.
Denn die Welt, in der wir leben, verändert sich nicht bloß, sie befindet sich in einer Metamorphose. Wandel impliziert, dass sich manches ändert, während vieles gleich bleibt – so durchläuft der Kapitalismus zwar Wandlungen, doch viele seiner Merkmale ändern sich nicht. Das Wort »Metamorphose« impliziert eine weitaus radikalere Veränderung: Die ewigen Gewissheiten moderner Gesellschaften brechen weg, und etwas ganz und gar Neues tritt auf den Plan. Um die Verwandlung der Welt zu erfassen, müssen wir dieses Neue untersuchen, uns ansehen, was aus dem Alten hervorbricht, und die Strukturen und Normen der Zukunft im Durcheinander der Gegenwart auszumachen versuchen.
Fangen wir mit dem Klimawandel an: Noch immer wird heftig debattiert, ob er überhaupt stattfindet oder nicht, und was wir, falls er stattfindet, tun können, um ihn aufzuhalten oder einzugrenzen. Dieses Starren auf Lösungen macht uns jedoch blind für die Tatsache, dass der Klimawandel längst ein Akteur der Metamorphose ist. Er hat die Art und Weise unseres In-der-Welt-Seins bereits verändert – unseren Alltag, unsere Vorstellungen von der Welt, unsere Art, sie durch soziales und politisches Handeln beeinflussen zu wollen. Der steigende Meeresspiegel erschafft neue Landschaften sozialer Ungleichheit, zeichnet neue Weltkarten, deren wichtigste Eintragungen nicht mehr nationalstaatliche Grenzen sind – sondern Höhenlinien. Das macht eine vollkommen andere Weise erforderlich, die Welt zu begreifen – und unsere Überlebenschancen in ihr.
Deshalb geht die Theorie der Metamorphose über die der »Weltrisikogesellschaft« hinaus: Wir sprechen hier nicht mehr über die gefährlichen Nebenfolgen von goods (Werten wie Wohlstand, Chancengleichheit etc.), sondern über die positiven Nebenfolgen von bads, Risiken unterschiedlichster Art. Letztere bringen Normenhorizonte des Gemeinwohls der Menschheit hervor; sie treiben uns über den nationalstaatlichen Rahmen hinaus und zwingen uns eine kosmopolitische Perspektive auf.
Doch das Wort »Metamorphose« muss immer noch mit den spitzen Fingern der Anführungszeichen angefasst werden. Es trägt noch alle Anzeichen eines Fremdkörpers. Sicher, dieses Wort wird sich zunächst wohl mit dem Gastarbeiterstatus begnügen müssen, und es bleibt die Frage, ob es je in unser Selbstverständnis aufgenommen werden wird. Ich jedenfalls stelle mit diesem Buch den Antrag, den Migrationsbegriff »Metamorphose« in das gesellschaftliche Selbstverständnis aller Länder und Sprachen aufzunehmen, aus dem einfachen Grund, um auf die allerdings dringliche Frage In welcher Welt leben wir eigentlich? endlich die Pellkartoffel-Verlegenheit zu überwinden und eine plausible Antwort geben zu können: in der Metamorphose der Welt. Das ist allerdings eine Antwort, die dem Leser die Bereitschaft abverlangt, die Metamorphose seines Weltbildes zu riskieren.
Und da steht noch ein Großbegriff im Titel dieses Buchs, »Welt«, zu dem untrennbar das Wort »Menschheit« gehört. Was ist damit gemeint?
Der Begriff »Welt« macht durch die Rede vom Versagen der Welt auf sich aufmerksam: Alle Institutionen versagen – niemand und nichts tritt dem globalen Klimarisiko entschieden genug entgegen. Und es ist gerade dieses Pochen auf das Versagen der Welt, das die »Welt« zum Bezugspunkt einer besseren Welt macht.
Auf diese Weise ist der Begriff »Welt« vertraut geworden. Bei der Beschreibung der alltäglichsten Dinge kommt man ohne ihn nicht mehr aus. Er hat seine abgehobene Abgeschiedenheit, seine himalayaartige Erhabenheit verloren und sich durch die Hintertür in unseren alltäglichen, privatesten Sprachhaushalt eingeschlichen und eingenistet. Nicht wenige unserer Lebensmittel ebenso wie das Pflegepersonal alternder Eltern haben heutzutage (und jeder weiß das) einen Welthintergrund. Manche Obstsorten werden, des besseren Geschmacks wegen, inzwischen sogar eingeflogen – worauf die schöne Bezeichnung »Flugananas« verweist. Entsprechend gibt es »Flugmütter«, die nach Regeln der »Fernliebe« zugleich die Kinder anderer Leute hier und ihre eigenen Kinder dort umsorgen und versorgen wollen beziehungsweise müssen. Schon beim ersten Nachdenken fällt auf: Die Begriffe »Welt« und »eigenes Leben« fremdeln nicht mehr. Sie sind von nun an und in alle Ewigkeit in »wilder Ehe« verbunden. In »wilder Ehe«, weil für diesen Weltbund fürs Leben keine amtliche Beglaubigungsurkunde (der Wissenschaften oder des Staates) vorliegt.
Aber trotzdem bleibt die Frage: Warum Verwandlung der Welt, warum nicht »gesellschaftlicher Wandel«, warum nicht »Transformation«?
Nehmen wir China. Eine Transformation ist, was China von der Kulturrevolution bis zu den wirtschaftlichen Lockerungen durchlaufen hat: eine Evolution vom Geschlossenen zum Offenen, vom Nationalen zum Globalen, von Armut zu Wohlstand, aus der Isolation in eine zunehmende Vernetztheit. Die Metamorphose der Welt ist mehr und etwas anderes als eine Evolution vom Geschlossenen zum Offenen, nämlich: eine epochale Veränderung der Weltbilder, eine Neukonfiguration des nationalzentrierten Weltbilds. Allerdings wird diese Veränderung der Weltbilder nicht durch Kriege, Gewalt oder imperiale Aggression bewirkt, sondern durch die Nebenfolgen erfolgreich absolvierter Modernisierungsschritte – zum Beispiel der Digitalisierung oder der Voraussage einer vom Menschen herbeigeführten Klimakatastrophe. Das national wie international institutionalisierte Weltbild*, auf dessen Grundlage die Menschen der Gegenwart die Welt verstehen, ist verblasst. »Weltbild« heißt, es gibt für jeden cosmos einen zugehörigen nomos, in dem sich empirische und normative Gewissheiten zu einem Bild dessen verbinden, was die jeweilige Welt in Vergangenheit wie Zukunft ausmacht. Diese »Fixsterne«, diese unerschütterlichen Gewissheiten, sind in Bewegung geraten. Sie metamorphosieren, sie verwandeln sich auf eine Weise, die sich als »Kopernikanische Wende 2.0« beschreiben lässt.
Galileo Galilei entdeckte einst, dass nicht die Sonne um die Erde kreist, sondern dass es die Erde ist, die um die Sonne kreist. Wir befinden uns heute in einer in mancher Hinsicht ähnlichen Situation. Das Klimarisiko sagt uns, dass der Nationalstaat nicht der Mittelpunkt der Welt sein kann. Die Erde dreht sich nicht um Nationen (egal welche), sondern die Nationen kreisen um die neuen Fixsterne »Welt« und »Menschheit«. Das Internet ist ein Beispiel dafür. Erstens vereint es die ganze Welt in einem einzigen Kommunikationsraum. Zweitens erschafft es so etwas wie »die Menschheit« – schlicht, indem es jedem Menschen ermöglicht, mit buchstäblich jedem anderen in Verbindung zu treten. Und in diesem neugeschaffenen Raum werden nun nicht nur die nationalstaatlichen, sondern auch alle anderen Grenzen neu verhandelt, lösen sich auf, entstehen anderswo in anderer Form – durchlaufen eine Metamorphose.
Und so entspricht der »methodologische Nationalismus« der am Nationalstaat aufgehängten Denkweisen dem Dogma, dass die Sonne um die Erde kreist – dass sich, mit anderen Worten, die Welt um den Nationalstaat dreht. Dagegen vertritt der »methodologische Kosmopolitismus« die Auffassung, dass sich die Erde um die Sonne dreht, also: die Staaten um die »Weltrisikogesellschaft«. Aus nationaler Sicht ist der Nationalstaat die Achse, der Fixstern, um den die Welt kreist. Aus kosmopolitischer Sicht erscheint das nationalstaatszentrische Weltbild als von der Geschichte überholt. »Metamorphose der Welt« bedeutet deshalb, dass sich die »Metaphysik« der Welt verändert.[1]
Wenn wir verstehen wollen, warum unser Weltbild »von der Geschichte überholt« ist, müssen wir den Unterschied zwischen der naturwissenschaftlichen kopernikanischen Wende und ihrer sozialwissenschaftlichen Version 2.0 begreifen. Das geozentrische Weltbild stand immer schon in Widerspruch zur Realität. Bestritten haben das nur die Anhänger und Verteidiger religiöser Dogmen. Dagegen findet die kopernikanische Wende 2.0 in der Realität, in unserem täglichen Handeln statt – sie entfaltet sich als realer Umbruch und Niedergang der Weltordnung. Allerdings lösen sich Nation und...