III Der Vergessenstrank
Der „Trank des Vergessens“ läßt den, der ihn trinkt, wie der Name sagt, alle Dinge oder manchmal auch nur bestimmte Dinge vergessen.
Dieser Trank ist in den Mythen der Germanen im Besitz der Jenseitsgöttin Freya bzw. der Zauberin-Königin Kriemhild, die eine der Nachfolgerinnen der Freya in den Sagen ist.
III 1. Der Vergessenstrank in der germanischen Überlieferung
III 1. a) Die Saga über Hedin und Högni
Nachdem Freya ihren goldenen Halsschmuck Brisingamen von vier Zwergen dadurch erhalten hatte, die sie mit jedem von ihnen eine Nacht verbracht hatte, ließ Odin ihr durch Loki dieses Schmuckstück rauben und sagte der Freya, daß sie es nur unter der Bedingung zurückerhalten würde, daß sie zwischen zwei Königen einen endlosen Krieg anstiften würde.
Dies ist eine späte Umdeutung des endlosen Kampfes zwischen dem Sommergott Tyr und dem Wintergott Loki um die Macht, die Jenseitsgöttin und ihre Wiedergeburtssymbole (Met, Apfel, Brisingamen). Durch diesen Kampf sind in den germanischen Mythen bis 500 n.Chr. die Jahreszeiten entstanden.
Freya zog auf den Befehl des Odin hin als die Walküre Gondul aus, um die von Odin geforderte endlose Schlacht in Gang zu setzen. Dabei verwendet sie unter anderem einen Vergessenstrank.
Hedin verbrachte den Winter zuhause in Serkland. Es wird erzählt, daß Hedin einmal mit seinem Gefolge zur Jagd ausritt. Er fand sich alleine auf einer Lichtung wieder. Er sah eine Frau auf einem Sitz in der Lichtung, die hoch und schön anzusehen war.
Er frug nach ihrem Namen und sie nannte sich Gondul. Danach sprachen sie zusammen.
Sie frug nach seinen Heldentaten und er war glücklich, ihr alles zu erzählen.
Er frug sie, ob er von irgendeinem König wüßte, der so kühn und tüchtig wie er wäre oder so berühmt und erfolgreich.
Sie sagte, daß sie einen kennen würde, in jedem Teil ihm ebenbürtig und daß ihm zwanzig König dienen würden, „keiner weniger als Dir.“ Und sie sagte, daß er Hogni heiße und daß er in Dänemark im Norden leben würde.
„So viel weiß ich,“ sprach Hedin, „daß wir versuchen müssen, wer von uns der Bessere ist.“
„Es ist wahrscheinlich Zeit für Dich aufzubrechen und nach Deinen Männern zu schauen,“ sprach Gondul, „Sie werden schon nach Dir suchen.“
Danach trennten sie sich. Er ging zu seinen Männern, sie aber blieb dort sitzen.
Sobald es Frühling war, machte sich Hedin bereit aufzubrechen. Er hatte ein Drachenschiff und auf ihm dreihundert Mann. Er segelte nach Norden durch die Welt. Er segelte Sommer und Winter. Im Frühling kam er nach Dänemark.
In Dänemark traf Hedin (Tyr) auf Hogni (Hagen, Loki) und beide schießen und schwimmen um die Wette, aber beide sind in allem genau gleich stark. Schließlich werden sie Blutsbrüder.
Es wird gesagt, daß Hogni nach einer Weile zu Raubüberfällen aufbrach, aber Hedin zurückblieb und über das Königreich wachte. Eines Tages ritt Hedin zu seinem Vergnügen in den Wald. Es war schönes Wetter. Wieder wurde er von seinen Männern getrennt.
Er kam zu einer Lichtung. Dort sah er dieselbe Frau wie vorher in Serkland auf einem Sitz und sie erschien ihm noch schöner als zuvor. Wieder ergriff sie als erste das Wort und sprach freundlich zu ihm. Sie hielt ihm ein Horn mit einem Deckel entgegen. Das Herz des Königs wurde von Sehnsucht nach ihr erfüllt. Sie lud ihn zu einem Trunk ein und der König war durstig, da ihm heiß geworden war und so nahm er das Horn und trank.
Aber nachdem er getrunken hatte, veränderte er sich auf seltsame Weise, denn er konnte sich an nichts mehr erinnern, was zuvor gewesen war. Er setzte sich nieder und sie sprachen zusammen. Sie frug ihn, ob er die Stärke und das Geschick bei Hogni gefunden hatte, von der sie ihm berichtet hatte.
Hedin sagte, daß dies wahr sei, „denn es gab keine einzige Fähigkeit, in der wir uns geprüft haben, in der er mir nachstand und so haben wir uns für gleichrangig erklärt.“
„Aber ihr seid nicht gleich,“ sprach sie.
„Wie kommst Du darauf?“ sagte er.
„Ich komme darauf,“ sagte sie, „weil Hogni eine Königin von großer Herkunft hat und Du gar keine Frau hast.“
Er antwortete: „Hogni würde mir seine Tochter geben, wenn ich ihn darum bitten würde und dann stände ich ihm von meine Ehe her in nichts nach.“
„Dein Ruhm wäre kleiner als seiner,“ sprach sie, „wenn Du Hogni nur bitten würdest, Dich in seine Familie aufzunehmen. Es wäre besser – wenn es Dir, wie Du sagst, nicht an Mut und Stärke fehlt – Hild fortzuschleppen und die Königin in der folgenden Weise zu töten: indem Du sie ergreifst und vor den Bug Deines Drachenschiffes legst und sie in zwei Teile zerschneiden läßt, während Dein Schiff ins Meer geschoben wird.“
Hedin war so in dem Bösem und in dem Vergessen aus dem Ale, den er getrunken hatte, gefangen, daß er keine andere Möglichkeit sah, und es kam ihm kein einziges mal in den Sinn, daß er und Hogni Blutsbrüderschaft geschworen hatte.
Dann trennten sie sich und Hedin ging zu seinen Männern.
Dadurch, daß Hedin den Plan der Freya-Gondul ausführte, kam es zu der von Odin geforderten endlosen Schlacht zwischen den beiden Königen, die erst nach 143 Jahren durch den christlichen König Olaf Tryggvason von Norwegen beendet wurde.
III 1. b) Völsungen-Saga
Griemhild benutzt den Vergessenstrank, um Sigurd die Walküre Brünhild vergessen zu lassen, damit Sigurd dann Kriemhilds Tochter Gudrun heiratete. Sigurd ist der Schützling und der Ururururenkel des Odin und letzlich eine Saga-Variante des Tyr.
Da zog Sigurd mit all seinen großen Schätzen von ihnen fort und er verabschiedete sich von ihnen in Freundschaft. Er ritt auf Grani mit seiner Rüstung und allen seinen Waffen und den übrigen Lasten. So ritt er, bis er zu der Halle des Königs Giuki kam. Dort ritt er in die Burg.
Dies sah einer der Männer des Königs und sprach: „Es sieht so aus, als ob dort einer der Götter naht, denn seine Ausstattung ist mit Gold gefertigt worden und sein Pferd ist viel stärker als andere Pferde und die Fertigung seiner Waffen ist über die Maßen gut und vor allem übertrifft der Mann selber bei weitem alle anderen Männer, die jemals gesehen wurden.“
Da trat der König mit seinem Hof hinaus, grüßte den Mann und frug: „Wer seid Ihr, der so ohne die Erlaubnis meiner Söhne in meine Burg reitet, was bisher noch niemand gewagt hat?“
Er antwortete: „Ich bin Sigurd, der Sohn des Königs Sigmund.“
Da sprach König Giuki: „Dann seid willkommen und nehmt aus unseren Händen entgegen, was immer ihr braucht.“
So ging er in die Halle des Königs und alle Männer erschienen klein neben ihm und alle Männer bedienten ihn und dort weilte er in großer Freude.
Sie ritten oft gemeinsam umher, Sigurd und Gunnar und Högni, und stets war Sigurd der Erste von ihnen, obwohl auch sie mächtige und tatkräftige Männer waren.
In dieser Sage hat Sigurd wie in der vorigen Saga König Hedin die Rolle des Tyr übernommen. Die Rolle des Loki hat in beiden Sagas Hogni (Högni, Hagen) inne.
Grimhild sah, wie sehr Sigurd Brynhild von Herzen liebte und wie oft er von ihr sprach und sie begann darüber nachzudenken, wie es wäre, wenn er bleiben würde und die Tochter des Königs Giuki heiraten würde, denn sie sah, daß niemand auch nur annähernd so stattlich wie er sein konnte oder soviel Treue und Glück in sich tragen konnte und daß er größere Schätze besaß als die Menschen von irgendeinem anderen berichten konnten. Und der König verhielt sich zu ihm wie zu einem seiner Söhne und seine Söhne selber achteten ihn mehr als sich selber.
Eines Nachts, als sie zusammen tranken, erhob sich die Königin und trat vor Sigurd und sprach: „Dein Verweilen bei uns bringt uns große Freude und alle guten Dinge geben wir Dir, wenn Du es wünschst. Wahrlich: Nimm dies Horn und trinke!“
Da ergriff er es und trank und dabei sprach sie: „Dein Vater soll König Giuki sein und ich Deine Mutter und Gunnar und Högni Deine Brüder und all dies soll von jedem mit Eiden geschworen werden und dann wird sicherlich Deinesgleichen nicht auf Erden noch einmal gefunden werden.“
Sigurd nahm ihre Rede gut auf, denn mit dem Trinken dieses Trunkes verließ ihn jede Erinnerung an Brynhild. So blieb er...