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E-Book

Der Klügere denkt nach

Von der Kunst, auf die ruhige Art erfolgreich zu sein - Mit Anti-Schwätzer-Training -

AutorMartin Wehrle
VerlagMosaik bei Goldmann
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783641182540
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Der stille Vogel fängt den Wurm

Martin Wehrle bringt es ans Licht: Das Zeitalter der Zurückhaltenden hat begonnen. Ein leises Wesen eröffnet ungeahnte Chancen, fürs Leben und für die Karriere - aber nur, wenn Introvertierte ihre speziellen Stärken nutzen: Besonnenheit, Tiefgang, ein gutes Urteilsvermögen. Martin Wehrle zeigt mit amüsanten Anekdoten und überraschenden Tipps, wie stille Menschen ihre Trümpfe in einer lauten Welt ausspielen.

Ein überzeugendes Plädoyer für mehr Lauterkeit und weniger Lautstärke, heiter und tiefgängig zugleich.

Martin Wehrle ist Deutschlands bekanntester Karriere- und Lebenscoach. Seine Bücher sind in zwölf Sprachen erschienen und haben rund um den Globus begeisterte Leserinnen und Leser gefunden. Mit »Ich arbeite in einem Irrenhaus« und dem Folgeband »Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus« landete er gefeierte Bestseller, zuletzt erschienen die Spiegel-Bestseller »Den Netten beißen die Hunde« und »Wenn jeder dich mag, nimmt keiner dich ernst«. An seiner Hamburger Karriereberater-Akademie bildet er Karrierecoaches aus.

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Leseprobe

Der Lärm frisst seine Kinder

Im Zeugnis der Schülerin stimmt der Lehrer ein Loblied an: »Es gelingt ihr immer wieder, dem Unterricht still und konzentriert zu folgen. Bei Wortmeldungen lässt sie anderen den Vortritt und hört respektvoll zu. Wenn sie spricht, dann angenehm leise. Für ihre Zurückhaltung wird sie nicht nur von uns Lehrern, sondern auch von ihren Mitschülern in hohem Maße geschätzt.«

Dieses Zeugnis kommt Ihnen spanisch vor? Treffender wäre: chinesisch! In Asien steht Zurückhaltung hoch im Kurs. Stille Menschen sind begehrt, bescheidene werden verehrt, Zurückhaltung wird als Charakterhaltung anerkannt. Die Gedanken der Stillen gelten als groß, denn sie ernten sie erst, wenn sie spruchreif sind. Ihre soziale Kompetenz wird geschätzt, denn sie hören gut zu und inspirieren andere. Und ihre Nachdenklichkeit gilt als Eintrittskarte für brillante Ideen, für tiefes Wissen und für Meisterschaft in einem Fach. Stillarbeiter haben viele Freunde – in Asien!

Aber fragen Sie mal einen Lehrer in der westlichen Welt, in Europa oder Amerika, was einen Top-Schüler auszeichnet. Die Lernkultur enthält viel Lärmkultur: Der Schüler soll sich im Unterricht möglichst oft zu Wort melden, manchmal gar mit Fingerschnipsen, um im Antwortrennen seine Mitschüler abzuhängen. Seine Gedanken soll er in Windeseile auf der Zunge haben, bei der Gruppenarbeit das Wort führen und auf dem Pausenhof besser in der Mitte einer Clique plaudern, statt (scheinbar) unbeteiligt am Rand zu stehen. Das Vielsprechen steht in keinem Stundenplan, aber heimlich gibt’s doch Zensuren dafür, ein Leben lang.

Die quasselnde Geselligkeit ist zur Norm erhoben worden, und jedes Gespräch wird zum Duell. Es ist wie im Wilden Westen: Wer gefragt wird (oder auch nicht), muss blitzschnell den Colt seiner Antwort ziehen und die Konkurrenz aus dem Weg räumen. Bloß nicht zögern, sonst trifft ihn die Kugel eines Vorurteils: Wer schweigt, hat offenbar nichts im Kopf. Richterliches Urteil: Er ist dumm, zumindest aber schüchtern.

Das Brandmal »Schüchternheit« wird Kindern aufgedrückt, wenn sie aus rätselhaften Gründen mit fünf, sieben oder elf Lebensjahren noch nicht so selbstbewusst wie Erwachsene durchs Leben marschieren. Wer als Kind den Blick vom Gesprächspartner kurz abwendet, um für die Antwort in sich zu gehen, macht sich schon einer sozialen Phobie verdächtig. Die kleinen Antwort-Automaten haben ohne Rucken zu funktionieren, sekundenschnell, sonst muss nachgeholfen werden.

Die Erwartungen an die Kinder spiegeln die Ideale einer Gesellschaft. Gefragt ist heute der unkomplizierte Mensch, der auf Knopfdruck plaudert, weil er sein Herz auf der Zunge trägt. Gefragt ist einer, der keine Gedanken für sich behält, gern auch deshalb, weil er keine eigenen hat. Gefragt sind Mitarbeiterköpfe, die sich wie Suppenteller mit den Gedanken ihrer Vorgesetzten füllen lassen: »Bitte keine Fragen, überlassen Sie das Denken uns!« Und falls Weltkonzerne an die Wand fahren, falls Abgaswerte manipuliert werden wie bei VW, falls Schmiergelder fließen wie bei Siemens – einfach in den Jubelchor des Managements einstimmen. Stiller Widerstand ist nicht gefragt!

Der Leise macht sich verdächtig, denn er denkt sich seinen Teil, statt die Gedanken der anderen zu teilen. Hinter vorgehaltener Hand heißt es: »Der ist unheimlich!« In einer Facebook-Welt ist Denken, wenn überhaupt, nur öffentlich zugelassen – also laut.

Aber was macht es mit einem Menschen, wenn er schon mit der Muttermilch aufsaugt: »Du bist …

zu still,

zu bescheiden,

zu sensibel,

zu zurückhaltend,

zu defensiv,

zu zögerlich,

zu langsam,

zu grüblerisch!«?

Dieses »zu« assoziiert: Es gibt einen verbindlichen Maßstab. Und dieser Charakter-TÜV erstellt nach gründlicher Prüfung eine Liste, die unter anderem folgende Mängel enthält:

Deine Zunge ist zu rostig, sie bewegt sich kaum;

dein Fahrgeräusch ist zu leise, andere hören dich in dieser Welt der dröhnenden Sprechmotoren nicht kommen;

deine seelische Stoßstange ist zu weich, du verkraftest keine Zusammenstöße (und in dieser Welt kracht es dauernd);

und dein Grübel-Keilriemen quietscht zu laut, das ist für andere im Verkehr mit dir eine Zumutung!

Kämen Sie bei Ihrem Auto auf die Idee, den Fehler beim TÜV zu suchen? Nein, Sie bringen es in die Werkstatt. Ebenso die menschlichen »Mängelexemplare«: Sie tun alles, um die Fehler zu beseitigen. Sie fummeln herum an ihrer Seelenelektronik. Sie kämpfen, um nicht so schüchtern oder nicht so sensibel zu sein – ohne die Frage aufzuwerfen, ob sie überhaupt zu »schüchtern« oder zu »sensibel« sind (oder nur durch falsche Maßstäbe in diese Schublade geschoben werden!).

Und weil sie diese Vorwürfe akzeptieren und pausenlos darüber nachdenken, laufen sie Gefahr, dass ihre natürliche Zurückhaltung in eine unnatürliche abrutscht. Der Geist schafft Wirklichkeit: Eine Frau muss nicht schwanger sein, um nahezu alle Symptome einer Schwangerschaft zu entwickeln; sie muss es nur fest genug glauben! Wir sind, was wir denken. Mit der Überzeugung, schwanger zu sein, wächst der Bauch.

Ebenso wächst bei Menschen, die eigentlich nicht schüchtern sind (sondern nur angenehm zurückhaltend), die Schüchternheit – wenn ihnen der vermeintliche Mangel nur oft genug in den Kopf gehämmert wird. Ebenso wächst bei Menschen, die eigentlich keine »Sensibelchen« sind (sondern nur einfühlsam), die Überempfindlichkeit – wenn der vermeintliche Mangel nur oft genug von der Umwelt gespiegelt wird.

Dabei sind nicht die Menschen das Problem, sondern die Maßstäbe des allzu wilden, allzu lauten Westens. Eine Studie warf bei Kindern zwischen acht und zehn Jahren in Kanada und Schanghai die Frage auf: Welche Typen sind beliebt, welche werden von Gruppen als Führer bevorzugt? In China machten die Stillen und Sensiblen das Rennen – in Kanada aber wurden sie von Gleichaltrigen gemieden; gefragt waren die lauteren Typen.11

Niemand käme auf die Idee, einem blonden Kind zu sagen: »Du bist zu blond!« Aber es ist üblich, einem zurückhaltenden Kind zu sagen: »Du bist zu zurückhaltend!« Ein Teil der Persönlichkeit wird zum Störfaktor erklärt. Das stellt den ganzen Menschen infrage.

So mancher Zurückhaltende fühlt sich zwischen Pest und Cholera: Entweder entfremdet er sich von seinen Mitmenschen – oder von sich selbst.12 Und so beginnt er einen Krieg gegen den eigenen Charakter. Er fordert sich auf, endlich so schlagfertig zu sein wie die rhetorischen Preisboxer, so gesellig wie die Partylöwen, so unempfindlich wie die seelischen Dickhäuter. Aber wie der Wille eines blonden Kindes nicht ausreicht, seine Haarfarbe zu verändern, so reicht der Wille eines zurückhaltenden Menschen nicht aus für einen Temperamentswechsel.

Ein zurückhaltender Mensch kann gelegentlich in das andere Temperament wechseln, wie ein Rechtshänder mit links schreiben und diese Fähigkeit auch trainieren kann. Aber gibt er sich dauerhaft als Linkshänder aus, täuscht er ein extrovertiertes Temperament also nur vor, entwertet er sich selbst, wird unsicher und begeht Fehler.13 Das wiederum lädt seine Mitmenschen ein, in dieselbe Kerbe zu hauen. Jedes stille Selbstbild erzeugt ein lautes Echo in der Welt. Wer an sich selbst zweifelt, wird als zweifelhaft wahrgenommen.

Wer ins Kostüm des Draufgängers schlüpft, muss mit echten Exemplaren dieser Gattung konkurrieren – und wird schnell enttarnt: Er gilt als hässliches Entlein, weil er zu der Familie, in die er drängt, nicht gehört. Wer sich kostümiert, verliert sich selbst. Er versteckt vermeintliche Schwächen (deshalb das Kostüm) – statt seine Qualitäten auszuspielen. Aber genau das wäre der Erfolgsweg.

Prüfen Sie einmal, mit welchem Maßstab Sie sich selbst bewerten:

Können Sie es als Kompliment werten, wenn Sie jemand als »still« bezeichnet?

Loben Sie sich für Ihre Zurückhaltung?

Halten Sie Ihre Feinfühligkeit für eine Qualität?

Erfüllt es Sie mit Stolz, ein bescheidener Mensch zu sein?

Rechnen Sie es sich hoch an, dass Sie lange über Dinge nachdenken, statt unbedacht zu reden oder zu handeln?

Wenn nicht: Wer hat Ihnen eingeredet, es sei schlecht, dass Sie sind, wie Sie sind? Die Eltern? Die Lehrer? Die Kollegen? Der Chef? Die heulenden Wölfe einer Gesellschaft, die selbst oft zum Heulen ist? Und: Was sagt eigentlich Ihr innerstes Bauchgefühl, wenn Sie all diese Einflüsterungen einmal abziehen? Könnte der Grund, dass Sie zurückhaltend sind, darin liegen, dass es Ihnen auf diese Weise gut geht und Sie ganz bei sich selbst sind?

Erst als das hässliche Entlein erkannte, dass es in Wirklichkeit ein prächtiger Schwan war, fand es sein Glück.

LEISE &...

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