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E-Book

Die Inklusionsfalle

Wie eine gut gemeinte Idee unser Bildungssystem ruiniert

AutorMichael Felten
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783641208660
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
»Lasst uns offen reden über Inklusion. Was daran sinnvoll ist und was nicht.«
(Michael Felten)

So geht es nicht! Michael Felten bezieht eindeutig Position. Er ist kein Gegner schulischer Inklusion. Aber er wagt auszusprechen, was viele ahnen und nicht wenige bitter erleben: So, wie es läuft, läuft es falsch. Felten beschreibt die Wirklichkeit einer ebenso übereilten wie unterfinanzierten Inklusionseuphorie. Und er deckt Hintergründe auf: Missverständnisse, Fehldeutungen - vor allem aber eine Fülle kindeswohlferner Motive. Gleichzeitig macht er deutlich: Inklusion ist eine Chance, wenn man bereit ist, ehrlich zu sein.
  • Inklusion - das läuft falsch
  • Ein radikales Bildungsexperiment auf dem Prüfstand
  • Klare Worte in einer tabubehafteten Debatte
  • Warum eine gut gemeinte Idee zu scheitern droht


Michael Felten, geb. 1951, arbeitet seit 35 Jahren als Gymnasiallehrer für Mathematik und Kunst in Köln. Er ist Lehrbeauftragter in der Lehrerausbildung sowie Autor von Unterrichtsmaterialien, Erziehungsratgebern und pädagogischen Essays. Er berät Schulen bei ihrer Entwicklung. Frühere Buchpublikationen: Auf die Lehrer kommt es an! (2010/³2014); Lernwirksam unterrichten (gemeinsam mit Elsbeth Stern, 2012/³2014); Nur Lernbegleiter? Unsinn, Lehrer! Lob der Unterrichtslenkung (2016)

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Leseprobe

PROLOG

Schulische Inklusion – Traum oder Trauma?

Stell’ Dir vor, Du beteiligst Dich an einer großen Weltverbesserungsaktion – und am Ende sieht die Erde übler aus als zuvor. Entwicklungshelfer können ein Lied von diesem Problem singen. Sie wollten zum Beispiel dem Stamm der Moros – Halbnomaden der Sahelzone – mit einem gigantischen Bewässerungsprojekt Gutes tun. Zunächst gediehen Menschen und Kühe prächtig, dann aber brach die Population jäh ein – das Grundwasser war versiegt, die Vegetation vollkommen verdorrt.1 Was man zu wenig bedacht hatte: Die Wechselwirkungen in komplexen Systemen sind in der Regel äußerst vielfältig. »Logik des Misslingens« nennt Dietrich Dörner solche Verläufe gut gemeinten Scheiterns.

Derartige Risiken drohen nicht nur in der Entwicklungshilfe, auch das Bildungswesen kennt den Schiffbruch von Projekten, die unter der Flagge des Paradieses segeln. Gehen wir etwa nach Baden-Württemberg, an ein traditionsreiches Gymnasium. Dort hatte man sich drei Jahre lang bemüht, einen autistischen Jungen in den regulären Unterricht zu integrieren. Die Französischlehrerin berichtete stolz, in ihrem Unterricht habe er einmal etwas gesagt, in zwei Jahren, nach zehn Monaten. Täglich dagegen gab es Probleme, wöchentlich Team- und Elterngespräche, vierteljährlich Konferenzen mit Schulleitung und Jugendamt, stundenlang, mit bis zu zwölf Teilnehmern. War das immer noch zu wenig? Oder zu unprofessionell? Am Ende der siebten Klasse ging jedenfalls nichts mehr: Schweren Herzens entschloss man sich, für den Schüler ein Verfahren zur Aufnahme in eine Förderschule einzuleiten. Fast wie bei den Moros eben: Großer Aufwand, erste scheinbare Erfolge, dann eine große Resignation. Und alle waren zu kurz gekommen: der entwicklungsgestörte Junge, der nach langem Hickhack nun einen tatsächlichen Ausschluss verkraften musste; die schwächeren Gymnasiasten, für die es an Förderzeit und Lernruhe gefehlt hatte; die Lehrer, die jede Menge unbezahlte Mehrarbeit geleistet hatten – ohne greifbaren Erfolg.

Handelt es sich hier um einen singulären Rückschlag oder markiert die Geschichte generell den Eingang zu einer Sackgasse? Wer genauer hinsieht, wer sich nicht von Wohlfühlparolen auf Hochglanzpapier blenden lässt, muss feststellen, dass sich unter unser aller Augen eine brisante, weithin unterschätzte Entwicklung vollzieht. Denn unter dem hehren Banner der Inklusion werden viele unserer Schulen derzeit zunehmend umgekrempelt, droht das Bildungssystem langfristig in eine grandiose Schieflage zu geraten. Immer öfter werden nämlich normal oder hoch begabte Kinder zusammen mit leicht oder auch schwer behinderten2 in einer Klasse unterrichtet – ohne dass die dafür nötigen Ressourcen und Kompetenzen vorhanden wären und ohne dass der Sinn dieser Maßnahme grundsätzlich erwiesen wäre. Und in manchen Bundesländern sollen Schüler, die in körperlicher oder geistiger Hinsicht besonderer Unterstützung bedürfen, deren Entwicklung im Lernen oder im sozialen Verhalten untypisch oder erschwert oder eingeschränkt verläuft, möglichst nur noch reguläre Schulen besuchen – die Förderschulen, die diesen Schülern bisher eine besonders auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Bildungsmöglichkeit boten, hofft man schrittweise einsparen zu können.

»Aber ist doch toll – endlich mal eine menschliche Nachricht aus der Welt des Ellenbogen-Kapitalismus, aus den Mühlen der gefühlsarmen Bürokratie«, könnte man jetzt vielleicht denken. Als »behindert« ausgesondert zu werden, auf eine »Sonderschule« gehen zu müssen, das ist doch auch ein unangenehmes Stigma, das beschneidet doch Lebenschancen, das kann doch der Entwicklung junger Menschen nicht wirklich zuträglich sein. Sie dagegen möglichst viel mit allen anderen Kindern zusammenzubringen und individuell zu fördern, das hört sich doch wirklich gut an.

Aber ist, was gut klingt, auch tatsächlich hilfreich? Werfen wir einen Blick darauf, wie sich diese »schönste pädagogische Vision« (DOLLASE)3 in der Praxis anlässt – und was demnächst noch alles auf uns zukommt. In Nordrhein-Westfalen hat man schon einzelne Spezialschulen geschlossen, etwa solche für Schüler mit besonderem Förderbedarf im Lernen4. Das heißt: Die in dieser Hinsicht schwächsten oder labilsten Schüler können (besser: dürfen) dort zukünftig nicht mehr unter sich lernen, also im Schutz einer Gruppe von ähnlich belasteten Kindern, mit speziell für ihre Beeinträchtigungen ausgebildeten Fachleuten. Sie werden vielmehr vereinzelt und in Regelklassen geschickt, wo SonderpädagogenI sie ab und zu besuchen und unterstützen. In diesen großen Regelklassen sind die Förderkinder jetzt nicht nur viel einsamer als bisher, sie spüren ihre Schwächen auch ungleich stärker – tagtäglich haben sie ja nun nicht nur normal leistungsfähige Kinder vor Augen, sondern auch Spitzenschüler. Die mögen zwar tolerant und hilfsbereit sein und ihnen manchmal unter die Arme greifen – aber sie sind einfach um so vieles leistungsstärker als die früheren Kameraden in der Förderschule. Verteilte Schüler bedeutet aber auch springende Pädagogen: Die Förderlehrer haben jetzt keine feste Bezugsgruppe mehr, sie sind vielleicht für acht Klassen gleichzeitig zuständig, springen also von Raum zu Raum – und nicht selten auch von Schule zu Schule, quasi als Reisepädagogen.

»Aber was geht das mich an«, mag man denken, als Mutter oder Vater eines »normalen« Kindes, erst recht als Bürger ohne eigenen Nachwuchs? Inklusion bedeutet leider nicht nur ein Entwicklungsrisiko für Sorgenkinder sowie Überforderung und Geringschätzung ihrer Förderlehrer. Radikale oder unterfinanzierte Inklusion gefährdet auch die Entfaltung der anderen, der Regelkinder – und sie ruiniert letztlich das gesamte Bildungssystem. Da die Förderkinder nur in einzelnen Stunden angemessen betreut werden, bringen sie in der übrigen Zeit den Unterricht oft tüchtig durcheinander. Der billige Rat an die Regellehrer: In Stunden ohne Doppelbesetzung (und das ist in der Regel die Mehrzahl) sollten sie doch einfach auf unterschiedlichen Niveaus parallel unterrichten. Aber dieser Rat ist angesichts der Komplexität der Lage nicht nur zynisch, er führt auch praktisch in eine Sackgasse: Je älter die Schüler und je anspruchsvoller das Lernniveau, desto unrealisierbarer ist so eine »innere Differenzierung« (auch zieldifferenter Unterricht genannt) – eine Lehrperson kann sich nun mal nicht beliebig oft aufteilen, womöglich noch permanent. Nun könnte man diese so unterschiedlichen Kinder ja schulintern nach Leistungsniveaus gruppieren, in G- und E-Kurse, in A-B-C-Gruppen, zumindest in Mathe oder Englisch (»äußere Differenzierung«). Aber das wäre eben wieder die verteufelte Selektion, dann würden Hochbegabte und Lern- oder Sprachbehinderte ja doch nicht im gleichen Raum sitzen, und das hieße, die Maxime der Inklusion erneut zu verraten.

Fehlentwicklungen und Widersprüche jedenfalls, wohin man schaut. So dürfen die Grundschulen in Nordrhein-Westfalen bei Erst- und Zweitklässlern, die einen besonderen Förderbedarf beim Lernen zeigen, diesen nicht mehr amtlich feststellen lassen. Wo kein Förderbedarf festgestellt wird, kann auch kein Bedarf nach einer politisch nicht gewollten Förderschule entstehen. In der dritten und vierten Klasse aber wird diese formale Maßnahme dann oft gar nicht mehr ergriffen – sie ist aufwändig, und es würden ohnehin keine zusätzlichen sonderpädagogischen Ressourcen bewilligt. Raffinierterweise werden nämlich Förderlehrer neuerdings nicht mehr nach Anzahl der Förderschüler, sondern nach der Schulgröße, genauer: nach der Anzahl der in einer Jahrgangsstufe vorhandenen Klassen (Zügigkeit) zugeteilt. Damit bleiben die behinderten Kinder aber nicht nur lange Zeit ohne Förderung, sie kommen auch unerkannt in den weiterführenden Schulen an. Im Lehrerjargon werden sie »U-Boote« genannt: Kinder, die in den ersten vier Jahren ihrer schulischen Laufbahn besondere Unterstützung gebraucht hätten und die jetzt hochgradig entmutigt und dadurch häufig auch stark verhaltensauffällig an den weiterführenden Schulen ihr persönliches Drama erleben.

Auch bundesweit kommt es zu einem eigentümlichen Phänomen. So steigt die veröffentlichte Inklusionsrate beständig, die Schülerzahlen an Förderschulen bleiben aber stabil – also wird bei immer mehr Kindern »Förderbedarf« festgestellt. Heutige Förderschüler an Regelschulen sind dann vielfach wohl die schwächeren Regelschüler von gestern, nur jetzt mit einem Etikett – auch das eine »Logik des Misslingens«: Man wollte diskriminierende Unterschiede abschaffen – steigerte sie aber letztlich.

Denkt man die Ideen vehementer Inklusionsbefürworter zu Ende – und verliert zudem die real existierenden Ressourcen nicht aus dem Auge –, so droht der ohnehin porösen Bildungsqualität hierzulande jedenfalls erneut ernsthafter Schaden. Indes wird in vielen öffentlichen Statements das TINA-Prinzip beschworen – »There is no alternative«, alltagssprachlich: Da kommen wir nicht drumrum. Als schlagendes Argument für diese Behauptung muss dabei immer die Behindertenrechtskonvention der UN (BRK) herhalten. Diese will in der Tat dafür sorgen, dass auch Kinder mit Handicaps freien Zugang zum Bildungswesen haben – zu Recht, denn in vielen Ländern sind Behinderte bislang völlig vom Schulbesuch ausgeschlossen. Erstaunlicherweise...

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