Der Ruf,
das Vermächtnis
Mein Handy piepste ungewohnt hell und eindringlich. Selten erreichte mich damals eine SMS. »Habe eine Idee. Können wir reden? Liebe Grüße, Andreas.«
Ich war vorgewarnt. Vor zehn Jahren, ich arbeitete am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, war es ganz ähnlich gewesen. Andreas Lebert, damals Chefredakteur der Frauenzeitschrift Brigitte, bat um ein Gespräch – damals allerdings auf Papier und handschriftlich. »Hätten Sie Lust und Zeit, gemeinsam eine Studie über die Vorstellungen von jungen Frauen zu machen?« Ich erinnere besonders das Wort »machen«. Journalisten sind Handwerker, im besten Sinne. Sie machen ein Blatt, eine Geschichte, ein großes Ding. Sie haben Kunden. In der Wissenschaft laufen die Dinge etwas anders. Hier geht es langsamer zu. Wir leiten aus großen Theorien kleine Hypothesen ab. Wir suchen belastbare Daten, brauchen Vergleichsgruppen, ordentliche Methoden. Wir nehmen uns Zeit.
Wir kamen dann doch zusammen. Schon damals gemeinsam mit dem infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft, insbesondere mit Doris Hess, Bereichsleiterin Sozialforschung. Zu dritt arbeiteten wir präzise und schnell, entwickelten neue Befragungsmethoden, entdeckten Verschiebungen in den Achsen gesellschaftlicher Ungleichheit. Die Zusammenarbeit machte Spaß, auch weil wir uns so wunderbar streiten konnten.
Ich freute mich daher über die SMS. Ende 2014 trafen wir uns am WZB. Andreas Lebert, heute Chefredakteur von ZEIT WISSEN, Doris Hess und ich. Das alte Team. Hinzu kamen Rainer Esser, Geschäftsführer des Zeitverlags, und Moritz Müller-Wirth, stellvertretender Chefredakteur der ZEIT. Neu dabei war auch Menno Smid, Geschäftsführer von infas, und Heinrich Baßler, administrativer Geschäftsführer des WZB. Die Zusammensetzung zeigte: Es war ernst.
Moritz Müller-Wirth eröffnete: »Bald wird DIE ZEIT 70 Jahre alt. Andreas hatte eine Idee. Eine Studie. Eine Studie über die Zukunft, nicht über die Vergangenheit, keine alten Geschichten, wie man es sonst bei Geburtstagen macht.« Es ging um eine Zukunftsstudie. »Wir wollen wissen, was die Menschen umtreibt, was sie behalten und was sie wegwerfen wollen. Wofür sie kämpfen. Was sie vermissen.«
Eine Zukunftsstudie. Es gibt viele Zukunftsforscher; Fokusgruppen, Expertengespräche, narrative Interviews, qualitative Analysen sind die methodischen Grundlagen. Das ist nicht mein Gebiet. Mein Interesse galt schon immer der Sozialstruktur, den vielen Unterschieden in unserer Gesellschaft und der Frage, wann aus Unterschieden eine strukturierte soziale Ungleichheit wird. Um das zu erforschen, brauchen wir belastbare und repräsentative Daten. Das ist mein eigentliches Metier. Es ist das, was ich gelernt habe und kann.
Es ist Andreas Lebert zu verdanken, dass dieses erste Treffen nicht das letzte war. Er brachte und hielt uns zusammen. Dennoch: Bei den Treffen knirschte es. Viele, oft wechselnde Leute, vor allem aber: völlig unterschiedliche Vorstellungen und Vorgehensweisen. Moritz betonte immer wieder: »Wir müssen vom Ergebnis her denken. Wir brauchen zehn Überschriften, mit denen wir die Ergebnisse gut vermarkten können.« Dabei schaute er mich an. Zu solchen Spielen gehören immer zwei. Einer wirft den Ball, die andere fängt ihn auf. Rückblickend verstehe ich nicht, warum ich mich hier überhaupt angesprochen und gefordert fühlte. So aber hörte ich mich reden, schlug Überschriften vor, natürlich unterbrochen von Andreas, immer aufspringend, immer wilder, oft kommentiert von Moritz mit Sätzen wie: »Sehr gut, aber diese Überschrift hatten wir schon im letzten Jahr.« Wir hatten keine saubere Fragestellung, kein Design, erst recht keine Daten. Wir dachten alles vom Ende her, eine verkehrte Welt. So verbrachten wir Stunden über Stunden.
Dieses Buch würde nicht vorliegen, wenn wir uns und unser genaues Thema nicht irgendwann gefunden hätten. Rückblickend können wir nur vermuten, wer den Titel »Vermächtnis« vorgeschlagen hat. Wahrscheinlich Andreas. Wir wissen auch nicht genau, wer auf die Idee kam, die Sinneswahrnehmungen von Menschen in die Befragung mit aufzunehmen. Wahrscheinlich ging das auf einen Austausch zwischen Andreas und mir zurück. Er: »Damit die Menschen ihr Vermächtnis überhaupt formulieren können, müssen wir sie in einen Zustand versetzen, der sie in ihre Kindheit beamt und entzückt. Bei mir wäre es der Geruch von Südtiroler Wiesen.« Ich, leicht sarkastisch und sehr trocken: »Dann müssen wir sie an Gras riechen und Kirschen essen lassen. Auf einer kantigen Granitplatte sitzend, mit weitem Blick über die Täler und Vogelgezwitscher.« Ich dachte, das wäre es gewesen. Aber wir waren und sind ja zu dritt. Jedes andere Sozialforschungsinstitut hätte hier abgewinkt. Wir aber hörten Doris Hess sagen: »Kann man doch machen.« Und so wurden Wiese, Zwitschern, Granit zu Riechen, Hören und Fühlen. Nur das Sehen und Schmecken ließ sich technisch nicht umsetzen, doch dazu später.
Der Bogen in die Zukunft war geschlagen. Es sollte ein Dreischritt sein. Zunächst die Gefühle und die Einstellungen, jetzt und hier. Dann die Frage: Wollen Sie dieses Gefühl und diese Einstellung vermachen, weitergeben an die kommenden Generationen? Was wollen Sie wegwerfen, hinter sich lassen? Und schließlich: Wie wird es sein? Wie wird sich das Leben zukünftig tatsächlich anfühlen? Welche Ansichten werden die Menschen haben? Wie werden sie leben?
Daraus ergab sie sich wie von selbst meine gute alte Sozialstrukturanalyse. Worin würden sich die Menschen in Deutschland mehr voneinander unterscheiden: In ihren Einstellungen hier und heute? In ihrem Vermächtnis, also ihren Vorstellungen, wie es sein sollte? Oder in ihren Erwartungen, wie die Zukunft sein wird? Das ist spannend. Gibt es ein Vermächtnis über die Gruppen, Schichten und Klassen hinweg? Hält es unsere Gesellschaft zusammen? Sind es schichtspezifische Ängste, die die Kluft zwischen dem Vermächtnis und der erwarteten Zukunft besonders tief werden lassen? Jetzt kamen natürlich auch die Überschriften von Moritz. Sie gaben die Bereiche vor, auf welche wir diesen Dreiklang übertragen haben: Gesundheit, Arbeit, Besitz, Technik, Medien, Essen, Liebe.
Diese Entstehungsgeschichte wäre unvollständig, würde sie nicht von unseren Sorgen und unseren Zweifeln erzählen. Sorgen ergaben sich aus der Größe des Projekts und den Kosten, die es mit sich bringen würde. Menno Smid ist hier besonders zu danken, weil er rasch seine Bereitschaft erklärte, einen eigenen finanziellen Beitrag des infas Instituts für die Durchführung der Studie zu leisten. Schließlich haben alle drei Partner – DIE ZEIT, das WZB und infas – die Studie finanziert und zu ihrem Gelingen beigetragen. Zweifel lagen in der Machbarkeit. Würden die Menschen mitmachen und uns ernst nehmen? Würden sie, über alle Gebiete hinweg, immer wieder den Dreiklang unserer Fragen – »Wie ist es heute?«, »Wie soll es werden?«, »Wie wird es sein?« – beantworten? 54 Mal? Würden sie riechen, tasten, hören? Und uns dann noch berichten, warum sie sich für die jeweiligen Düfte, Oberflächen und Rhythmen entschieden haben? Egal, ob sie 15 oder 80 Jahre alt sind? Würde das alles funktionieren? Was, wenn sie zwischen den Fragedimensionen nicht unterscheiden? Immer das weitergeben, was sie haben? Was, wenn die Menschen meinten, wir hätten das Wesentliche vergessen, einfach nicht gefragt? Viel später, mit unserem Dank für das Interview, schickten wir ihnen deswegen einen frankierten Umschlag. Und einen Bogen mit der Bitte, offengebliebene Punkte hier zu verzeichnen. Wir erhielten viele Bögen zurück. Insbesondere ältere Menschen erläuterten in wunderbarer Handschrift ausführlich die Gründe, warum sie wie geantwortet hatten. In einigen Umschlägen fand sich der kleine Geldbetrag, den wir ihnen zum Dank geschickt hatten. »Bitte an Flüchtlinge weitergeben«, schrieben die Menschen dazu.
Umgetrieben hat mich noch etwas anderes. Wir brauchten Hilfe, mehr als sonst. Wir brauchten Menschen, die in ganz unterschiedlichen Bereichen ausgebildet waren. Wer kennt sich aus mit den Sinnen? Welche Auswahl der Sinne kann man wie begründen? Und wie können wir sie überhaupt erheben? Die Zusammenarbeit von WZB und infas war auch hier kongenial. Das WZB hat eine wunderbare Bibliothek, die schnell die grundlegende Literatur zusammenstellte. Und es gab die Abteilung »Kulturelle Quellen von Neuheit« von Michael Hutter. Eine seiner Mitarbeiterinnen, Nona Schulte-Römer, konnte für das neue Projekt als Expertin für Licht und Sinne gewonnen werden. Auch Claudia Nentwich, Musikerin im Nebenjob, half, wo sie konnte. Dann ist uns Jan Wetzel zugeflogen, Student der Soziologie, im Wechsel von Dresden nach Berlin, vom Bachelor zum Master, mit Erfahrung als Rundfunkjournalist. Er weiß alles zu Rhythmen, und mehr als das. Lisa Schulz, die leider mittlerweile in Frankfurt ist, machte sich an die Düfte. Schließlich gab es noch Georg Helbing, unseren Mathe-Informatiker. Anfangs skeptisch, dann begeistert. Ich war erleichtert. Bei infas lief alles ebenso gut zusammen. Der engere Stab, Jacob Steinwede und Anne Kersting, zauberte, kümmerte sich um den Fragebogen und dessen Programmierung, bestellte Düfte, probte das Feld, testete, was ging und was eben nicht. Birgit Jesske, Bereichsleiterin für Datenerhebung bei infas, tat das ihre und eröffnete uns zudem den Weg zu einer Behindertenwerkstatt. Dort wurden alle Proben für die Sinneserhebungen hergestellt. Die Befragung erfolgte professionell wie immer. Und Rainer Gilberg stellte mit seinen Gewichtungen sicher, dass wir auch tatsächlich repräsentative Aussagen machen konnten.
Dann stand die Auswertung an. Doch kaum hatten wir die...