Zweites Kapitel
Von der Gemahlin zur Königin
Das große Ereignis im Leben der jungen Maria Theresia war ihre Hochzeit mit Franz Stephan von Lothringen, ihrem Cousin zweiten Grades.88 Schon in zartem Alter hatte sie sich in ihn verliebt, und der ganze Hof kannte ihre Gefühle für den jungen, neun Jahre älteren Mann. Diese romantische, immer aufs Neue erzählte Geschichte hat das Bild einer Frau geprägt, die von ihrem Mann so hingerissen und derart voller Bewunderung für ihn ist, dass sie niemals etwas anderes als die zweite Geige würde spielen können: eine charmante Ehefrau, die dem Ruhm ihres Gemahls gänzlich ergeben ist. Vor dem Tod ihres Vaters gingen alle davon aus, dass Maria Theresia, würde sie von Karl VI. den Titel erben, die Zügel der Macht ganz in die Hände Franz Stephans legte. Das schien so selbstverständlich, dass zu Beginn ihrer Regentschaft und entgegen allen Tatsachen manche österreichische Gesandte ihre Depeschen an Franz Stephan richteten und Maria Theresias Namen nicht einmal erwähnten.89 Wahr ist, dass Maria Theresia dieses unzutreffende Erscheinungsbild selbst befördert hat. Nicht in dem Sinne, dass sie jemals hätte verlauten lassen, sie würde darauf verzichten, selbst zu regieren; aber indem sie von dem Moment ihrer Thronbesteigung an eine Mitregentschaft ihres Mannes einrichtete, machte sie ihren Wunsch einer Machtteilung deutlich. Auch wenn die Illusionen der Herrscherin nicht lange währten, die verliebte Ehefrau tat nach außen hin alles, um ihrem Gatten den Schein von Autorität und Prestige zu erhalten.
Franz Stephan war die große und einzige Liebe ihres Lebens. Solange er lebte, musste die Königin mit der Gattin Verhandlungen führen, um trotz aller Widrigkeiten nicht die Zuneigung ihres Gemahls zu verlieren.
Eine Liebe von Kindesbeinen an
Wie sie sich kennenlernten
Ihre Väter90 sind Cousins und wuchsen zu jener Zeit gemeinsam in Wien heran, als Lothringen von Frankreich besetzt war. Leopold, der Vater von Franz, war nicht nur mit ganzem Herzen deutsch, sondern versuchte auch mit allen Mitteln, Gewicht und Bedeutung seines Herzogtums zu mehren. Er hatte deshalb schon bald erwogen, seinen erstgeborenen Sohn mit der Erstgeborenen der Erzherzoginnen zu vermählen.91 Kaiser Karl VI., der den französischen Einfluss auf Lothringen fürchtete, sah seinerseits mit wohlwollendem Auge auf eine solche Verbindung, die Lothringen für die deutschen Interessen einspannte.
Leopold von Lothringen schlug vor, seinen Erstgeborenen im Alter von fünfzehn Jahren nach Wien zu schicken; dieser sollte dort seine Erziehung und Ausbildung unter Aufsicht Karls VI. vollenden. Aber der erstgeborene Sohn war nicht Franz Stephan. Er hieß Leopold Clemens und genoss bereits einen guten Ruf – auch jenseits der Grenzen von Lothringen. »Man kann die Tugend und die großen Vorzüge dieses Erbprinzen nicht genügend loben«, berichtet der französische Gesandte. »Er ist vollkommen wohlgestaltet, von vorteilhafter Größe, von eindrucksvollem und seiner Geburt würdigem Aussehen, von ungezwungenem und sehr anmutigem Auftreten, mit einem geradlinigen, gediegenen Geist und einer für sein Alter bemerkenswerten Umsicht; dabei liebt er alles, was ihn in der Kunst des Regierens belehren und ausbilden kann […]. Man kann, ohne fürchten zu müssen, dass man sich irrt, über ihn das Urteil fällen, dass er einer der weisesten Fürsten seiner Zeit werden wird.«92
Der Erbprinz, der sich so vielversprechend entwickelte, starb am 4. Juni 1723 an Pocken, als er im Begriff war, nach Prag zu reisen, um an der Krönung Karls VI. zum König von Böhmen teilzunehmen. Ohne Zeit zu verlieren, entschied Herzog Leopold, den Verstorbenen durch den Nächstgeborenen, den fünfzehnjährigen Franz Stephan zu ersetzen, von dem bisher nie die Rede war. Dieser verließ Nancy am 2. August als Überbringer prunkvoller Geschenke für den kaiserlichen Hof, aber die Edelleute in seinem Gefolge erhielten »unter Androhung dauerhaften Landesverweises das strikte Verbot, irgendeine Äußerung über die Heirat dieses Erbprinzen mit der erstgeborenen Erzherzogin fallen zu lassen oder gar über seine Hoffnungen, zum Römischen König gewählt zu werden«.93 Als Franz Stephan neun Tage später in Prag eintraf, machte Karl VI. gute Miene zum gar nicht guten Spiel, ging auf ihn zu, »umarmte den jungen Prinzen äußerst liebevoll und sprach ihn mit ›mein Sohn‹ an«.94 Er ließ seinen ganzen Hofstaat kommen, damit dieser dem Prinzen von Lothringen seine Aufwartung machte, und überreichte ihm bereits am nächsten Morgen den Orden vom Goldenen Vlies.
Unter diesen Umständen begegnete die damals sechsjährige Maria Theresia dem Prinzen, den man als ihren Verlobten feierte. Der Legende nach habe sie sich, noch bevor sie einander vorgestellt wurden, in den Fünfzehnjährigen verliebt. Karl VI. hingegen hatte zwar Franz in Prag äußerst herzlich begrüßt, bemühte sich jedoch keineswegs darum, ihn in Wien zu behalten, geschweige denn, ihm das angedeihen zu lassen, was er für dessen Bruder vorgesehen hatte. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens war Elisabeth Christine höchst offiziell schwanger, und Karl VI. konnte endlich auf einen männlichen Erben hoffen. Insofern bestand keine Eile mehr, sich mit dem ehelichen Geschick Maria Theresias zu befassen. Zudem sah der Wiener Hof die Verehelichung der erstgeborenen Erzherzogin mit einem lothringischen Prinzen, der dem Kaiserreich fremd war, nicht gerne. Und schließlich hatte Franz Stephans Ankunft in Prag beim polnischen König wie beim Kurfürsten von Bayern enorme Eifersucht geweckt, da sie beide darauf hofften, ihre Söhne mit der habsburgischen Erbin zu vermählen. Entsprechend groß war die Enttäuschung am Lothringer Hof, als man erfuhr, dass der Plan, Franz den Winter in Wien verbringen zu lassen, nicht mehr zur Debatte stand und dass er stattdessen Anfang November wieder nach Nancy zurückkehren sollte.95
Es bedurfte mehrwöchiger Verhandlungen und einer offiziellen Bitte des Herzogs Leopold an seinen Cousin – dieser möge Franz in Wien behalten, und man trete »alle Macht und Autorität«96 über Franz an ihn ab –, bis der Kaiser letztlich einwilligte. Man wird aber gewiss nicht behaupten können, man habe ihn dazu gezwungen. Tatsächlich war Franz ein fröhlicher junger Mann, lebendig, freundlich und vor allem ein trefflicher Gefährte bei der Jagd – der Leidenschaft Karls VI.
Dagegen war keine Rede mehr von vorbereitenden Maßnahmen zur Verehelichung seiner Tochter. Dies war der Beginn einer Vielzahl von Kursänderungen und Hinhaltemanövern, denn zahlreiche Fürsten – spanische, bayerische, polnische – drängten darauf, die Hand der kleinen Maria Theresia für ihren jeweiligen Sohn zu erbitten, ohne dass sich der Kaiser jemals entscheiden konnte. Dieses Taktieren dauerte jahrelang und rief sowohl am Lothringer Hof wie auch bei dem verliebten Mädchen Angst und Verzweiflung hervor.
Ein Porträt Franz Stephans
Franz Stephan ist ein attraktiver junger Mann mit blauen Augen und sportlicher Erscheinung. Sprach- und weltgewandt, geradlinig, ein guter Tänzer und Fechter und ein besonders begabter Jäger. Andererseits handelt es sich bei ihm um einen zerstreuten Schüler, dessen Bildung nicht weit vom Nullpunkt entfernt ist. Er kann kaum lesen, das heißt nur laut und stockend, und er schreibt nur phonetisch, so dass man seine Briefe laut lesen muss, um sie zu verstehen. Der Unterricht in Geschichte und Recht, den man ihm auf Anordnung des Kaisers erteilt, langweilt ihn. Er ist äußerst unaufmerksam, lernt kaum und entmutigt seine Lehrer. Außerdem weist der Repräsentant Leopolds in Wien, der bemüht ist, Franz zu entschuldigen, darauf hin, »dass der Prinz, außerhalb seiner Studienzeiten, kaum gebührend beschäftigt ist«.97 Anfang Februar 1725 erwägt man die Möglichkeit, ihn zur Fortsetzung seiner Studien nach Siena zu schicken, statt ihn in Wien zu lassen, wo er zu zerstreut sei, um sich Mühe geben zu können.98
Es scheint, als habe die Drohung ihre Wirkung nicht verfehlt, denn der nämliche Korrespondent schreibt einige Monate später: »Der Kaiser hat mich über den königlichen Prinzen in Kenntnis gesetzt; er drückte mir seine Zufriedenheit aus über den Eifer, mit dem dieser seine Studien betreibe, über sein ganzes Benehmen.«99 Allerdings war das nur ein kurzer Lichtblick, denn ein Jahr später zieht man ein weiteres Mal Franz’ Abreise in Erwägung. Es bedurfte erneut einer dringlichen Intervention Leopolds, damit man seinen Sohn am Hof von Wien behielt.100
Während dieser ganzen Zeit lebt Franz in einem Seitentrakt der Hofburg – am anderen Ende des Flügels der Erzherzoginnen –, wo er die Gemächer der verstorbenen Mutter des Kaisers bewohnt. Während er mit achtzehn oder zwanzig Jahren der Zehn- oder Zwölfjährigen kaum Beachtung schenkt, lässt sich Maria Theresia, die ihn bei zahlreichen Hofzeremonien zu Gesicht bekommt, nicht das Geringste entgehen. Madame Fuchs und ihre Mutter sind ins Vertrauen gezogen und wissen, dass sie an nichts anderes als an Franz denkt und nur von ihm träumt. Beim Tod seines Vaters, des Herzogs Leopold101, muss er Wien verlassen, um die Regentschaft seiner Mutter Elisabeth Charlotte zu organisieren. Die Heranwachsende von zwölfeinhalb Jahren überreicht ihm ihr mit Diamanten...