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Wutzimmer, Schmetterlinge und andere Gotteserfahrungen

Aus der Arbeit eines Psychiatriepfarrers

AutorDetlef Wendler
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl220 Seiten
ISBN9783743107335
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
An manchen Lebensthemen kommt kaum jemand vorbei: Sich annehmen, Mut fassen, Verluste betrauern, Hoffnung bewahren. Einige dieser Aufgaben werden für psychisch erkrankte Menschen in besonderem Maße zu schier unlösbaren Problemen. Hinzu kommt der Aufenthalt in der Psychiatrie als Ausnahmesituation. Welchen Beitrag kann die christliche Seelsorge leisten, Fragen der Selbstfindung und Gesundung zu thematisieren und im therapeutischen Prozess Fortschritte zu erzielen?

Der Autor, geboren 1949, ist evangelischer Pfarrer mit klinischer Seelsorgeausbildung, jetzt im Ruhestand. Bei der langjährigen Tätigkeit in der Psychiatrie ging es ihm besonders um den Beitrag von Religion und Seelsorge zum seelischen Heilungsprozess. Als systemischer Supervisor ist er Mitglied von DGSv und SG und berät Institutionen und Einzelpersonen, vor allem aus dem sozialen Bereich. Er ist Autor mehrerer Bücher, die sich Themen der heilsamen christlichen Spiritualität beschäftigen.

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Leseprobe

Die Widmung

Leonard drückt mir nach dem Gottesdienst ein Gesangbuch in die Hand, das der Kirche gehört und in einer Kiste zur Benutzung im Gottesdienst bereitliegt. „Ich habe Ihnen eine Widmung in das Buch hineingeschrieben“, sagt er, „passen Sie gut darauf auf, es wird einmal sehr wertvoll sein.“ Ich frage: „Wieso?“ Er antwortet: „Millionen wird das Buch wert sein, wenn erst herauskommt, wer ich bin.“ Wieder frage ich: „Wer sind Sie denn?“ Aber er antwortet nicht, sondern verweist nur auf die Widmung.

Leonard lebte schon lange in einem Wohnheim für psychisch Kranke, das dem Krankenhaus angeschlossen ist. Er lebte so ärmlich, dass er sich manchmal nicht einmal mehr den Tabak für seine selbstgedrehten Zigaretten leisten konnte. Aber in seiner Gedankenwelt - medizinisch gesehen könnte man auch sagen in seinem Wahn - war alles anders.

Ich schaute mir die Widmung an.

Ich, Leonard, Kind des Allerhöchsten, in der Kraft des göttlichen Geistes, widme dieses Gesangbuch der Krankenhausseelsorge. Es soll die Seelsorge für immer reich machen, damit sie viel Gutes tun kann.

Ich habe mit diesen Widmungstext mehrmals durchgelesen. Ich war sehr berührt von dem, was Leonard da schrieb. Ich glaube, der Text und das Buch„geschenk“ waren gut gemeint, tatsächlich gedacht als dankbare Spende eines Großen an die Einrichtung der Krankenhausseelsorge.

„Kind des Allerhöchsten“: Was immer Leonard sich darunter vorstellte, er machte damit eine legitime christliche Aussage. Kind Gottes zu sein ist ein normaler Teil christlichen Glaubens und keineswegs wahnhaft.

„In der Kraft des göttlichen Geistes“: Leonard hatte schon öfter Gottesdienste besucht und diese theologische Sprache für sich übernommen. Augenscheinlich verband er auch etwas damit. Er kannte von sich den Zustand der Kraftlosigkeit, aber auch den Zustand der Energie und des Tatendrangs. Wenn er sich energetisch stark fühlte, dann hatte er „Kraft von einem göttlichen Geist“ bekommen, so wie manche Propheten des Alten Testaments auch von sich sagten. Warum sollte Leonard sich nicht so ausdrücken? Ich dachte einen Moment, er stellte sich den göttlichen Geist vielleicht vor wie ein Wesen aus einem Fantasyfilm. Warum nicht?

„Die Seelsorge reich machen“: Es ist eindeutig ein wirklich guter, edler Wunsch, einem anderen Reichtum zu wünschen. „...damit sie Gutes tun kann“: Darin spiegelte sich vielleicht wider, dass er schon mal von mir einen kleinen Geldbetrag bekommen hatte, als es ihm ganz schlecht ging.

Je öfter ich diese Widmung las, desto weniger erschien sie mir wahnhaft, desto mehr im Rahmen dessen, was normale christliche Sprache ist. Eine Mitarbeiterin, der ich die Widmung zeigte, ärgerte sich darüber, wie jemand ein Gesangbuch so verschandeln könnte. Sie sprach auch von beschmutzen. Ich selbst habe mich über diese Widmung nicht geärgert, anders als in Fällen, wenn jemand Tabakkrümel in ein Gesangbuch gestreut oder eine Seite herausrissen hatte. Was Leonard getan hatte, war eigentlich kein Beschmutzen, es war ein - fast - normaler Gebrauch dieses Buches, geprägt von einem tiefen Glauben.

Vielleicht war es wahnhaft, zu glauben, dass dieses Buch durch die Widmung einmal wertvoll sein würde. Natürlich habe ich es nicht später versteigern können, natürlich keinen hohen Geldbetrag erzielen können. Aber wertvoll wurde es mir durchaus in dem Sinne, dass ich immer wieder daran denken musste.

Ein armer Heimbewohner, ein Mensch vom Rande der Gesellschaft, sieht sich selbst in der Kraft eines Gotteskindes und gibt diese Kraft voller Selbstbewusstsein an die Seelsorge weiter, dankbar und mit guten Wünschen. Das finde ich bis heute anrührend. Man braucht keinen Porsche und kein dickes Portmonee, um bedeutend und wichtig zu sein. Man braucht eigentlich nur eine entsprechende Vorstellung von sich selbst, einen Glauben. Und Leonard hatte einen starken Glauben.

Natürlich war er – aus medizinischer Sicht gesehen - wahnhaft und schrieb sich eine Bedeutung zu, die noch nicht bei Wikipedia angekommen war und auch nie dorthin kommen würde. Seine Selbstzuschreibung stand auch im krassen Gegensatz zu seiner Marginalität. Und genauso natürlich war er - aus seelsorgerlicher Sicht gesehen - eine bedeutende Gestalt, voll Gottvertrauen und großherzig liebevoll: Ein Mann mit einem großen seelischen Reichtum.

Die Freude des Schöpfers

Frau Meyer sitzt auf einer Decke im Krankenhauspark, ganz nahe an einem Busch. Als sie mich sieht, begrüßt sie mich als alten Bekannten. Dann zeigt sie auf ein Blatt des Busches, auf dem Blattläuse herumkriechen. „Wissen Sie, warum Gott all diese Tierchen geschaffen hat?“ fragt sie.

Ich kannte Frau Meyer aus einem Gespräch über ihren Exmann, der nicht gut mit ihr umgegangen war und von dem sie sich schließlich getrennt hatte. Ich ging neben ihr in die Hocke. Ihre Frage, warum Gott die Blattläuse geschaffen hatte, verblüffte mich, und ich hatte darauf keine Antwort.

„Und dort“, sagte sie und zeigte auf den Boden unter dem Busch, „Sehen Sie mal...!“ Dort krabbelte ein kleines Tierchen herum. „Dieser Käfer, warum hat Gott ihn wohl geschaffen?“

Ich wusste immer noch nicht, was ich sagen sollte. Schließlich brachte ich heraus: „Die Gattung hat sich wohl so entwickelt...“

Frau Meyer schüttelte den Kopf. Wir standen beide auf und sie zeigte auf den Dachfirst des Hauses, auf dem gerade ein Vogel stand und Ausschau hielt.

„Und dort die Amsel, warum wohl ist sie auf der Welt?“ fragte Frau Meyer.

Ich staunte darüber, dass sie den Vogel erkannte. Ich selbst habe von Vögeln keine Ahnung.

„Er hat bestimmt eine wichtige Aufgabe im Kreislauf der Natur“, versuchte ich eine Antwort.

Frau Meyer lachte mir ins Gesicht.

„Gott hat das alles geschaffen, weil er Freude hat an der Lebendigkeit und der Vielfalt. Rund 10 000 Vogelarten gibt es weltweit. Ist das nicht unglaublich?“

Ich nickte.

„Und mindestens 400 Vogelarten alleine in Deutschland.“

„Au ja“, sagte ich. Ich staunte darüber, dass Frau Meyer sich mit solchen Gedanken beschäftigte, statt sich über ihre schwierige Lebenssituation zu beklagen.

„Wenn es nur um bestimmte Zweckmäßigkeiten in der Schöpfung ginge, um das Gleichgewicht in der Natur, dann wäre es bestimmt auch mit viel weniger Vogelarten gegangen. 20 bis 30 würden wahrscheinlich ausreichen“, vermutete Frau Meyer und fuhr fort: „Nein, es geht um Freude.“

„Freude haben Sie im Augenblick nicht viel“, sagte ich, „das Leben ist eher ein Kampf für Sie“.

„Wissen Sie“, antwortete Frau Meyer, „manchmal habe ich den Eindruck, dass ich mehr Freude habe als viele, die in intakten Beziehungen und ohne Geldsorgen leben. Man muss sich auch an den kleinen Dingen freuen können.“

„Und klein und unbedeutend sind die Geschöpfe ja gar nicht“, ergänzte ich, „die Vögel, die Käfer und Insekten.“

Vernunft und Religion

„Wie kann man nur so unvernünftig sein und an einen Gott glauben?“ fragt mich ziemlich aggressiv einer meiner Bekannten, ein Atheist. „Die Märchen der Religion sind doch nur dazu da, die Menschen dumm zu halten.“

Ich reagierte erst einmal sprachlos auf diese aggressive Art, Religion zu verunglimpfen. Und ich fragte mich, ob heutzutage Christen oder nachdenklich religiöse Leute es noch für gut halten würden, ähnlich abwertend über Atheisten zu reden.

„Jeder Mensch glaubt an Märchen“, sagte ich, um erst einmal die Sprache wiederzufinden, „oder besser gesagt: Jeder Mensch hat seine Geschichten, seine Mythen, du auch.“

„Wie meinst du das?“ fragte er zurück.

„Es ist zum Beispiel ein Mythos, dass eine atheistische Weltanschauung eine humanere Welt hervorbringen könnte, als die Religionen. Die Geschichte der real existierenden atheistischen Systeme hat es widerlegt. Es ist auch ein Mythos, dass ständiges Wirtschaftswachstum die Welt humaner macht oder überhaupt möglich ist, und doch glauben viele Menschen daran.“

Er guckte mich verwirrt an.

„Also was sind deine Mythen?“ fuhr ich polemisch fort, „deine Geschichten, mit denen du deiner Existenz auf der Erde Sinn gibst? Der Zufall von Mutationen im Erbgut zusammen mit dem Überleben des Fittesten?“

Mir war durchaus bewusst, dass ich damit die Evolutionstheorie Darwins karikierte. „Und glaubst du, dass dieser Ursprungsmythos zu humaneren Ergebnissen führt als die Vorstellung von der universalen Liebe eines höchsten Wesens?“

Glaube und rationale Vernunft widersprechen meiner Meinung nach einander nicht. Die rationale Vernunft kann Gott nicht beweisen und nicht widerlegen. Sie geht davon aus, dass es das Wunder, das Unerklärliche grundsätzlich nicht geben kann. Wo etwas unerklärlich erscheint, ist nach ihrer Meinung einfach noch...

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