Die Evangelisten im Gespräch miteinander
7. Januar 2001
1. Sonntag nach Epiphanias
Johannes 1,29-34
Wenn der Evangelist Johannes hier heute bei uns im Gottesdienst wäre, dann würde er sich sicherlich freuen - darüber nämlich, dass immer noch aus seinem Evangelium vorgelesen wird - nach immerhin fast zweitausend Jahren. Johannes hatte ja durchaus vorgehabt, den nachfolgenden Generationen etwas weiterzusagen über denjenigen, der einige Jahrzehnte zuvor die Herzen etlicher Menschen so sehr bewegt hatte.
Johannes, wenn er denn jetzt hier bei uns wäre, würde sich vielleicht aber auch etwas verwundert fragen, was das wohl auf sich habe mit dem Stroh auf dem Boden - vielleicht haben Sie das bemerkt. Da liegen noch einige Reste von gestern herum, Stroh aus dem Stall von Bethlehem. Die mazedonisch-orthodoxen Christen haben hier gestern, am 6. Januar, ihren Heiligen Abend gefeiert.
Johannes würde sich über diese Strohreste wundern, weil ihm das gar nicht geläufig war mit dem Stall von Bethlehem. Um so mehr würde sich der Evangelist Lukas freuen, wenn denn auch er hier heute bei uns wäre. Lukas würde sich freuen, dass seine Weihnachtsgeschichte am 24. Dezember wieder bei uns gelesen und aufgeführt worden ist und dass sie auch gestern wieder zur Sprache und zur Darstellung gekommen ist.
Und es würde ihn sicherlich auch erfreuen, dass seine Weihnachtsgeschichte hier unten in dieser wunderbaren Weise aufgebaut worden ist. Er würde uns dann allerdings fragen: „Was sind denn das hier für drei Gestalten, diese würdevollen Herren?“ Und Johannes würde sich seiner erstaunten Frage anschließen: „Ja, wer sind die denn, diese drei?“
Das könnte den beiden dann wiederum der Evangelist Matthäus erklären, wenn er denn jetzt hier wäre. Der hätte seine wahre Freude an diesen drei so kunstvoll modellierten Gestalten. Ein wenig wundern würde er sich allerdings auch. Drei Weise, drei Sterndeuter hatte er in seiner Geschichte von der Geburt Jesu auftreten lassen. Und diese hier unten, die sehen ja fast aus wie Könige.
Und wenn jetzt noch einer aus dem Hintergrund rufen würde: „Und ich, wo komme ich denn vor - hier heute in dieser Kirche?“ Dann wäre dieser Vierte wohl der Evangelist Markus. Matthäus und Lukas würden ihn vielleicht zu sich rufen und ihm sagen: „Markus, nicht traurig sein. Du bist hier beständig gegenwärtig. Du hast dieser Kirche immerhin den Namen gegeben. Außerdem - vielleicht tröstet dich das - haben wir beide aus deinem Evangelium reichlich abgeschrieben. Nur was die Geburt Jesu anbetrifft, da haben wir bei dir nichts gefunden.
Wenn so alle vier Evangelisten hier versammelt wären und wir ihnen zuhören könnten, wie sie sich nun unterhalten würden über das, was hier zu sehen und zu hören ist, dann würden wir merken: Sie hätten untereinander einigen Klärungsbedarf, und sie würden sich wohl gegenseitig einige Fragen stellen.
„Was habt ihr euch da bloß alles ausgedacht?!“, würde vielleicht Markus den Lukas und den Matthäus fragen - mit Blick auf deren Geburtsgeschichten. Markus hat, wie gesagt, über die Geburt und die Kindheit Jesu gar nichts geschrieben.
„Das haben wir uns nicht ausgedacht“, würden Lukas und Matthäus wohl antworten. „Das ist uns erzählt worden.“ Die vier würden sich vielleicht gegenseitig berichten, wo sie welche Geschichten gehört und gelesen hatten und warum sie sie nun gerade so und nicht anders zusammengestellt haben.
In einem Punkt wären die vier sich wohl einig: Aufgeschrieben werden musste das damals. Denn dieser Jesu von Nazareth, der hatte viele Menschen bewegt. Der war kein gewöhnlicher Mensch gewesen. Der hatte etwas Göttliches an sich gehabt. Er war gut gewesen, sehr gut, eigentlich zu gut für diese Welt und zu gut, als dass er allein von dieser Welt hätte gewesen sein können.
Über ihn musste einfach weiterberichtet werden. Es hatten sich ja inzwischen Gemeinschaften gebildet, die im Geiste Jesu weitermachen wollten. Und da gab es immer wieder neue Interessierte. Was sollte man denen sagen und wie? Da musste einfach eine Grundlage der Information und der Lehre geschaffen werden.
Und eine solche Grundlage haben die vier Evangelisten - jeder auf seine Art - zu legen versucht. Markus als erster. Und das würden - vor allem Lukas und Matthäus - auch in aller Bescheidenheit zugeben: „Wir haben vieles von dir abgeschrieben. Aber was die Geburtsgeschichte angeht, da haben wir eigenes Material hinzugefügt.“
Und Lukas würde dann vielleicht darlegen, wie er auf diese schöne Weihnachtsgeschichte gestoßen ist, die wir hier in der Kirche zu Weihnachten lesen und aufführen, und warum er sie so aufgeschrieben hat, wie sie uns jetzt vorliegt.
„Gott ist in den Schwachen mächtig“, würde vielleicht Lukas sagen. Und er würde erklären, was er meint: „Gott ist allmächtig, wird immer gesagt. Das ist ja richtig, das sieht man an all dem Großartigen, das er geschaffen hat. Gott begegnet uns aber auch in der schwachen Kreatur, auch in der armseligen, kranken, geschundenen, abgewiesenen, unansehnlichen Kreatur. Der römische Kaiser z. B. war zwar mächtig und er konnte auf seine Art mit seinen Soldaten in seinem großen Reich für Frieden sorgen“, würde Lukas hinzufügen. „Ich wollte aber klar machen, dass von einem Kind armer Eltern aus der Provinz eine noch viel größere Macht ausgehen kann - eine Macht ohne Soldaten und ein anderer Frieden, nämlich der im Herzen und von da aus dann vielleicht auch der in der Welt.“
Ich will das jetzt nicht weiterspinnen. Aber es wäre mal interessant, die vier Evangelisten in einem Gespräch miteinander zu erleben. Das müssten wir eigentlich mal inszenieren. Da könnte nämlich sehr anschaulich werden, dass wir mit den vier Evangelien, die natürlich eine gemeinsame Basis haben - dass wir mit den vier Evangelien zugleich vier durchaus unterschiedliche Interpretationen dessen vorliegen haben, wer und was und wie jener Jesus von Nazareth eigentlich war und was er uns zu geben hat.
Und das Neue Testament bietet uns noch mehr Ausleger mit weiteren Konzepten. Wir haben vorhin noch einen Text von Paulus gehört. Der hatte auch noch seine eigene Interpretation.
Es ist schon ganz gut, gerade jetzt, wo wir kirchenjahreszeitlich wieder am Beginn des Auftretens Jesu stehen, uns noch einmal ein paar grundsätzliche Gedanken zu machen. Gestern - am 6. Januar - hatten wir das Fest des Erscheinung, „Epiphanias“. „Wie hat es mit Jesus angefangen?“, ist die Frage. „Wie ist es weitergegangen, was ist daraus geworden?“
Weitergegangen ist es jedenfalls bis heute, inzwischen also 2000 Jahre, das ist schon erstaunlich. Da muss doch etwas Wichtiges und Grundlegendes durch diese Person Jesus von Nazareth geschehen sein. Das haben etliche Menschen damals so empfunden, und darum haben einige sich ja auch die Mühe gemacht, darüber einiges aufzuschreiben.
Aber deren Texte sind manchmal gar nicht so leicht zu verstehen, denn ihre Sprache, ihre Bilder stammen aus einer anderen Zeit und Kultur. Wenn wir den Predigttext von heute, von Johannes z. B. nehmen: Da sagt Johannes mit Blick auf Jesus: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das die Sünde der Welt trägt.“ Und er sagt über Jesus weiter: „Dieser ist Gottes Sohn.“
Hinter diesen formelhaften Kurzbeschreibungen dessen, wer und was Jesus ist, steckt bereits sehr viel Geschichte des Volkes Israel. Das kann uns das Verständnis erschweren. Es steckt hinter diesen formelhaften Beschreibungen aber auch allgemein Menschliches, was uns ganz nah und gegenwärtig ist.
„Dieser ist Gottes Sohn“ - mit dieser Formel wurden im Alten Israel Könige eingesetzt. Ihnen wurde damit eine hohe Würde und Autorität verliehen. Auch Jesus haben Menschen wie einen König empfunden, allerdings nicht als einen politischen König, sondern als einen König des Herzens. Sie waren bereit, ihn hier drinnen regieren zu lassen. Die Evangelisten haben die Bilder des Alten Testaments übernommen, um auch Jesus als König einzusetzen und so seine göttliche Würde und Autorität zum Ausdruck zu bringen. Diese Einsetzung Jesu als königlicher „Sohn Gottes“ erfolgt im Neuen Testament in der Taufe.
Es ist schon erstaunlich, was da geschrieben ist. Johannes und die anderen Evangelisten verfassten ihre Texte ja, nachdem Jesus schon längst den Kreuzestod gestorben war - allerdings auch zu einem Zeitpunkt, als schon klar war, dass die Sache Jesu durch den Tod am Kreuz nicht hatte zunichte gemacht werden können. Jesus lebte für sie auf andere Weise weiter und übte einen großen Einfluss auf sie aus. Für sie galt das Wort Jesu mehr als das Wort des politischen Königs.
Für sie war Jesus der größere König - trotz des schmählichen Todes am Kreuz. Von daher hielten es die Evangelisten für angemessen, Jesus in der Taufe wie einen alttestamentlichen König als „Sohn Gottes“ einzusetzen. Zum Zeitpunkt seiner Taufe durch Johannes war...