4.Neoliberalismus
Dieses Buch weist Google einen neoliberalen Imperativ zu. Es ist daher vorab und in aller Kürze darzustellen, was in diesem Zusammenhang unter dem Begriff »Neoliberalismus« zu verstehen ist (vgl. Papst o. J.).9
4.1Begriffsursprung
Der Begriff Neoliberalismus setzt sich aus den zwei Wortkomponenten Neo und Liberalismus zusammen, wobei neo dem altgriechischen Wort »νέος – neos« entstammt und jung bzw. neu bedeutet (vgl. Heilmann/Roeske/Rolf 1976: 118). Liberalismus leitet sich aus dem Lateinischen her: »liberalis« bedeutet »die Freiheit betreffend« (vgl. Langenscheidt 1971: 362). Der Liberalismus gilt gemeinhin als säkulare Ideologie, die die gesellschaftliche Ordnung nicht von einer religiösen Doktrin ableitete und ein Ergebnis der Französischen Revolution ist (vgl. Wallerstein 2012: 16).
4.2Vom Liberalismus zum Neoliberalismus
Überlegungen zum Liberalismus gehen u. a. auf Arbeiten des Philosophen John Locke zurück. In seinem Werk «Two Treatises of Government» (vgl. Locke 1992 [1689]) wird das Privateigentum und die damit verbundenen Freiheiten des Einzelnen vertreten, die es vor Eingriffen des Staates zugunsten des Privaten zu schützen gilt. Darüber hinaus wird die Ausübung jeglicher Form von staatlichem Zwang abgelehnt. Vertreten wird die Mündigkeit des Bürgers. So ist es Ziel der Aufklärung, den Einzelnen von seiner Unmündigkeit zu befreien, was nur mithilfe des Einsatzes der eigenen Vernunft10 möglich sei (vgl. Kant 1990; Höffe 2007). Es lassen sich wesentlich drei Grundsätze des Liberalismus formulieren:
1.Aufgrund seiner Natur, seiner Vernunft und seiner Einsichtsfähigkeit hat der Mensch das Recht auf Selbstbestimmung.
2.Jegliche politische Macht, welche dieses Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf Eigentum angreifen könnte, ist zu beschränken. Der Einzelne ist gegenüber dem Staat frei.
3.Auf der Grundlage des privaten Eigentums reguliert sich die Wirtschaft selbst und ein Eingriff des Staates in das Wirtschaftsgeschehen wird abgelehnt.
Der Liberalismus ist sowohl als politische Weltanschauung als auch als wirtschaftliche Weltanschauung zu begreifen und hat je nach Betrachtungsweise unterschiedliche kulturpolitische Auswirkungen. Die Vermengung dieser beiden Ankerpunkte kann zu Missverständnissen führen, da die Forderung nach persönlicher und politischer Freiheit nicht mit wirtschaftlicher Freiheit, dem Diktum des Marktes, gleichzusetzen ist. Allerdings können beide Positionen in Verbindung miteinander treten.
Der politische Liberalismus wehrt sich dagegen, dass sich der Staat den Bürger als einen unmündigen Untertanen vorstellt, der selbst nicht in der Lage ist, eigenständig vernünftige Entscheidungen zu treffen. Demnach fordert der politische Liberalismus die Anerkennung der Mündigkeit jedes einzelnen Bürgers gegenüber dem Staat, wie auch die Anerkennung des privaten Eigentums. Dies entspricht der Freiheitsidee der Menschen, die sie – historisch betrachtet – immer wieder fordern und versuchen zu erreichen; und zwar Freiheit und Schutz vor staatlichen Eingriffen in die eigene Weltauffassung, in die Wissenschaft, in das Gewissen, in das Eigentum, Freiheit von Bevormundung, Freiheit zur persönlichen, individuellen Entwicklung, Freiheit als Grundlage für ein menschenwürdiges Leben.
Politischer Liberalismus setzt sich für die Befreiung des Menschen aus der Leibeigenschaft ein, um hier nur ein konkretes Beispiel zu nennen. In diesem Sinne beschränkt der politische Liberalismus die Gewalt des Staates dort, wo sie die persönliche Freiheit des Einzelnen verletzt (vgl. Papst 2006/Papst o. J.). Wie nachfolgendem Zitat zu entnehmen ist, gilt für den politischen Liberalismus Folgendes:
»Aus der Sicht des L[iberalismus] wird daher keineswegs die Notwendigkeit des Staates bestritten, vielmehr sollen die Ziele des L[iberalismus] durch die Institutionen des Rechtsstaats (z. B. Grundrechte, Verfassung) sowie durch staatlich garantierte Rechtssicherheit (zu der auch das staatliche Gewaltmonopol zählt) erreicht werden. Die wichtigsten politischen Etappen der Entwicklung des L[iberalismus] waren: der Erlass der Bill of Rights in England (1689) und der Bill of Rights von Virginia (1776), die Verkündung der Verfassung der USA (1787) und schließlich die Erklärung der Menschenrechte während der Französischen Revolution (1789).« (Schubert/Klein 2011: o. S.)
Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass der Liberalismus als politische Weltanschauung die Grundlage der politischdemokratischen Ausrichtung westlicher Staaten ist. Als solcher ist der Liberalismus nach wie vor in seinen Grundzügen zu würdigen, besonders im Sinne politisch-emanzipatorischer Bewegungen, die sich demokratische wie bürgerliche Rechte auf die Fahnen schrieben.
Der Liberalismus als wirtschaftliche Weltanschauung befasst sich mit der Frage, wie gesellschaftlicher Wohlstand und damit auch persönliches Wohlbefinden im Allgemeinen geschaffen werden kann (vgl. Rothschild/Sen 2006: 7ff.; Papst 2013b: 3; Gerschlager 2007: 11ff.). Es wird behauptet, dass dies dadurch erreicht wird, dass der Markt liberalisiert, d. h. von staatlichen Eingriffen wie Zöllen, Preisbestimmung u. a. m. geschützt wird, sodass er sich durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage selbst dynamisch entwickeln kann. Adam Smith (vgl. 2001 [1759]: 181) gilt als Verfasser der Grundlagenarbeiten dieser Weltanschauung, wird jedoch gegenwärtig missverstanden, wenn er darauf reduziert und mit dem Realliberalismus11 (vgl. Papst 2013a) verwechselt wird, lediglich als ein Vertreter des freien Wettbewerbes auf dem Markt gewesen zu sein, wie dies dem nachfolgenden Zitat zu entnehmen ist:
»Der wirtschaftliche Liberalismus betrachtet seit den wegweisenden Arbeiten von Adam Smith (1776) das Privateigentum (insbesondere an den Produktionsmitteln), den freien Wettbewerb und den Freihandel als grundlegende Voraussetzungen für die Schaffung gesellschaftlichen Wohlstands.« (vgl. Schubert/Klein 2011: o. S.)
Relevant ist dieses Zitat deshalb, weil es erklärt, warum der Liberalismus d. h. in der unreflektierten Verwendungsweise dieses Begriffes eher negativ konnotiert wird.
Auch die kulturpolitischen Auswirkungen des Liberalismus bedürfen einer kurzen Ausführung, um den Liberalismus in seiner Gesamtheit begreifen zu können. So hatte die liberale Auffassung einer von staatlichen und kirchlichen Obrigkeiten befreiten und auf (scheinbar fairem) freiem Wettbewerb organisierten Gesellschaft prägende Auswirkungen auf die Kultur und die gesamte Staatsordnung, die schlechthin die Grundlage westlicher Gesellschaften bildet. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen zum klassischen Liberalismus in seiner Ausprägung als politische Weltanschauung, die von jener wirtschaftlichen Weltanschauung zu unterscheiden sind, wird nachfolgend der Weg hin zum Neoliberalismus dargestellt und schließlich die Familie der Neoliberalismen skizziert, um jene Ausprägung des Neoliberalismus charakterisieren zu können, um den neoliberalen Imperativ in Googles Auswahl- und Steuerungsverfahren offenlegen zu können.
In Verruf kam der Liberalismus wegen seiner wirtschaftlichen Weltauffassung, die einerseits zwar zu einer dynamischen Entwicklung der damals aufstrebenden Industrialisierungsprozesse und des Wirtschaftssystems in Form eines zunehmend freien Marktes führte, aber andererseits zu einer Ausbeutung jener Bevölkerungsteile, die nicht im Besitz der Produktionsmittel waren. Die Folge war eine starke Verelendung breiter Bevölkerungsschichten. Mit der Verelendung einher kam die berechtigte Kritik an der praktischen Ausgestaltung der liberalistischen Auffassungen:
»Tatsächlich führte die wirtschaftliche Liberalisierung zu dynamischen Industrialisierungsprozessen und der Entwicklung eines privat-kapitalistischen Wirtschaftssystems, in deren Folge aber auch zur Verelendung breiter Teile der Bevölkerung Mitte/Ende des 19. Jh.« (vgl. Schubert/Klein 2011: o. S.)
Es ist darauf aufmerksam zu machen, dass die Kritik an der wirtschaftlichen Weltauffassung des Liberalismus nicht als eine Kritik an der politischen Weltauffassung und der kulturellen Ausprägung des Liberalismus zu verstehen ist. Die beiden letzteren Formen bilden nach wie vor die Grundlagen moderner Staaten und deren Staatsformen, die demokratisch organisiert sind (vgl. Papst o. J.). Grundideen des Liberalismus sind in verschiedene Parteiprogramme der Nachkriegszeit eingegangen, jedoch in vielen verschiedenen Formen, sodass festzustellen ist, dass der
»Liberalismus heute keine geschlossene Weltanschauung [ist], sondern stellt eher eine große ›Denkfamilie‹ dar, die auch konträre (politische und ökonomische) Vorstellungen und Flügel umfasst. Dies wird bspw. durch die Vielfalt liberaler Parteien in der EU deutlich, v. a. aber auch im Unterschied zwischen dem europäischen und dem Liberalismus in...