Kapitel 2
Die Hochzeit
»›Moch's gut. Mach's gut‹, zischte Ankela durch ihre störenden dritten Zähne.«
Mutter und Vater, zwei Jahre nach ihrer Hochzeit
Alleine in ihrem Schlafzimmer im Obergeschoss griff Mary nach ihrem Brautkleid und strich über den weichen, schweren Stoff. Es war sorgfältig aus sechs Metern herrlichem Brokat genäht, der vor drei Wochen geliefert worden war. Das Material kam aus dem Stofflager, das die Oberschneiderin verwaltete, und stammte von einem ihrer Einkäufe, die sie zweimal im Jahr beim Großhändler Gilfix und Roy tätigte. Neben den Ballen einfacher bedruckter Baumwollstoffe für Kleider, schwarzer Viskose für Hosen und karierter Baumwolle für Hemden hielt die Schneiderin auch umsichtig Ausschau nach feineren Stoffen für eine eventuelle Hochzeit.
Mary wäre es nicht in den Sinn gekommen, sich ein weißes Brautkleid mit Schleier zu wünschen, für das die Frauen in der »englischen« Welt draußen so sehr schwärmten. Blau war die traditionelle Farbe für hutterische Bräute, und ihr einfaches Gewand bestand aus den gleichen fünf Teilen wie die normale hutterische Bekleidung: Pfaht, Mieder, Kittel, Fittig und eine Jacke oder Wannick. Es war so praktisch und bequem wie ihr Alltagskleid, doch der Stoff und die Farbe stellten sicher, dass sie in den nächsten zwölf Stunden im Mittelpunkt stehen würde.
Zum ersten Mal hatte heute Marys Fittig oder Schürze dieselbe kornblumenblaue Farbe wie ihr Kleid. Die Schürzen der Frauen hatten immer eine andere Farbe als der Rest der Kleidung, doch ihre Freundinnen hatten sie bedrängt, einen neuen Trend vorzugeben und ihre Schürze aus demselben Stoff wie das Kleid zu schneidern. Wehmütig dachte Mary, dass eine hübsche smaragdgrüne Schürze ihrer Kluft vielleicht den besonderen Pfiff gegeben hätte.
Sie zog Pfaht und Mieder an und befestigte ihren Kittel mit einer Sicherheitsnadel. Mit angehaltenem Atem hielt sie den passenden Fittig über Kittel und Mieder, schlang die extralangen Schürzenbänder zweimal um ihre 60-Zentimeter-Taille und band sie zu einer ordentlichen Schleife auf der linken Seite. Manchmal schneidert eine Mutter oder ältere Schwester mit fortgeschrittenen Nähkünsten so etwas Wichtiges wie ein Brautkleid, aber Mary war eine erfahrene Schneiderin und hatte alles selbst genäht. Sie versuchte, sich in dem kleinen, billigen Spiegel, den Paul Vetter an die Wand genagelt hatte, in voller Länge zu sehen, konnte aber nur ihre modische blaue Schürze und die ordentlich gebundene Schleife erkennen.
Sie kämmte ihr hüftlanges dunkelbraunes Haar und teilte es in der Mitte. Mit geübten Händen begann sie, es zu drahen, also es an jeder Seite am Haaransatz entlang zu drehen und mit Haarnadeln festzustecken, wie es ihre Mutter, ihre Großmutter und ihre Urgroßmutter vor ihr getan hatten. Diese Frisur war in Österreich Anfang des 16. Jahrhunderts modern gewesen und wurde von den Hutterinnen seither wegen ihrer Anspruchslosigkeit und Einfachheit getragen.
Mary nahm ihr Tiechel vom Bett und schaute liebevoll auf die in die linke Ecke gestickten Initialen J.M. Sechs Monate vor ihrem fünfzehnten Geburtstag hatte sie das Tuch genäht und die Initialen J.M. für »Josephs Marie« als Erinnerung an die Fürsorge und Obhut ihres Vaters hinzugefügt. Ein warmes Gefühl durchströmte sie bei dem Gedanken, dass er sie jetzt beobachtete. Das schwarze Tuch mit weißen Tupfen war seit über einem Jahrhundert das Kennzeichen der hutterischen Frauen in Nordamerika. Als junges Mädchen hatte Mary die Tücher oder Tiechlen ihrer Schwestern anprobiert und sich ihre Aufnahme in den Stand einer Frau vorgestellt. Sie nahm die Ecken des Tuches und übte das zweimalige Falten des Stoffes im Uhrzeigersinn an ihren Wangen, bevor sie die Ecken zu einem Knoten unter dem Kinn zusammenband. Ihr gefiel, wie sich der dunkle Stoff von ihrer hellen, makellosen Gesichtshaut abhob und sie fühlte gerne den steifen, gestärkten Baumwollstoff an ihrem Gesicht. An ihrem fünfzehnten Geburtstag, am 26. Mai, erhielt Mary das Recht, ein Kopftuch anstelle der Mütz (Haube) für Kinder zu tragen.
Nach dem Essen im Speisesaal der Kinder war sie aufgestanden und hatte dem Deutschlehrer, der Aufsicht führte, ihren Geburtstag angekündigt. »John Vetter, ich bin funfzehn Johr olt. Onkel John, ich bin fünfzehn Jahre alt.« Sie trat von einem Fuß auf den anderen, während John Maendel sich über seinen ergrauenden Bart strich und sie ermahnte, dass sie ab jetzt eine stärkere Verbindlichkeit gegenüber dem hutterischen Glauben übernehme und dass dieser Übergang ins Erwachsensein sich in ihrem Verhalten widerspiegeln müsse. Es war eine kurze und einfache Zeremonie, doch für Mary lag die Ehre darin, bedingungslos in die Welt der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Am Tag darauf zog sie ihr Tiechel an und nahm ihren Platz neben den anderen Frauen im Speisesaal für Erwachsene ein.
Heute diente ihr das einfache Stoffdreieck als Schleier. Als Symbol ihrer Identität war es ihr so wichtig wie einer Königin ihre Krone. Sie hatte ihr Kopftuch besonders sorgfältig gestärkt und gebügelt, sodass in der Mitte ein gestochen scharfes V erschien. Sie setzte es auf den Kopf, knotete es fest unter dem Kinn und freute sich an der eleganten Zacke, die sich oben bildete. Sie trug weder Make-up noch Schmuck, denn beides war verboten. In einer Kultur, die den inneren Schmuck des Herzens betonte, würde ihr Lächeln genügen.
Bei ihren Vorbereitungen musste Mary unwillkürlich daran denken, was für ein Wunder es war, dass sie schließlich heiraten würde. Sie hatte geglaubt, sie könnte nie die Demütigung ungeschehen machen, die sie empfand, als sie Ronalds Brief in der Öffentlichkeit vorlas. Nach diesem Vorfall hatte sie sich zurückgezogen und sich in den endlosen Kreislauf der Frauenarbeiten in der Gemeinschaft gestürzt. Monate vergingen; dann eines Nachmittags kam ihre Schwägerin Sara auf sie zu, als sie gerade Wäsche aufhängte. Obwohl Mary und Elie in ihrem Haus miteinander Trauben gegessen hatten, schnitt sie sachlich das Thema Heirat an. »Ich will überhaupt niemanden heiraten!«, stieß Mary hervor. »Der Preis ist zu hoch!!«
Eine Woche danach hängte Mary gerade Handtücher auf, als Sara wieder zu ihr kam. »Hast du über unser letztes Gespräch nachgedacht?«, fragte sie.
»Ich habe meine Meinung nicht geändert, falls du das meinst«, fauchte Mary.
Sara beobachtete, wie Mary ein nasses Handtuch aus dem Weidenkorb nahm und an die Leine anklammerte. »Überleg mal«, meinte sie. »Du lebst unter Sana Basels Dach. Sie hat einen Mann, drei Geschwister und dreizehn Kinder zu versorgen. Es wird Zeit, dass du deine Zukunft in die Hand nimmst.«
Marys Bruder Peter machte sich an Ronald heran, um seinen Standpunkt auszuloten. »Ich habe Mary vor über einem Jahr gefragt, mit mir zu gehen«, antwortete Ronald verdutzt. »Aber ich habe von ihr immer noch keine Antwort bekommen.«
Peter schickte seine Frau Sara ein drittes Mal zu Mary, um sie in dasselbe Zimmer einzuladen, in dem sie den unseligen Besuchen des Zimmermanns aus Fairmont getrotzt hatte. An Elies Stelle stand ein kurz angebundener Ronald Dornn.
»Warum hast du mir nicht geantwortet?«, fragte er.
»Wie denn?«, antwortete sie.
Mary erzählte ihre innersten Gefühle über die Annäherungsversuche von Elie und den Druck, den ihre Brüder auf sie ausgeübt hatten. Ronald war von ihrer Sanftheit entwaffnet. Sein Gesichtsausdruck entspannte sich, als sie erklärte, dass sie sich so alleine und einsam fühlte wie er. Als Sara ihnen einen Teller mit Pflaumen anbot, aßen sie das Obst miteinander und vereinbarten, sich jeden Sonntag heimlich in Ronalds Haus zu treffen.
Nach einigen Wochen, als Mary im Keller unter der Gemeinschaftsküche Kartoffeln sortierte, war sie unerwartet alleine mit ihrem älteren Bruder, dem Hilfspastor, und wusste, dass Gott ihr eine Gelegenheit gegeben hatte, ihre Angelegenheit zur Sprache zu bringen. »Jake, du bist der einzige Vater, an den ich mich wenden kann«, begann sie. »Deshalb bitte ich dich um die Erlaubnis, Ronald zu heiraten.« Der dunkle Keller war ein ungewöhnlicher Ort für ein ernstes Gespräch. Doch falls ihr Bruder überrascht war, ließ er sich nichts anmerken, sondern warf weiter angefaulte Kartoffeln auf einen immer größer werdenden Haufen. »Ich weiß eigentlich nichts Schlechtes über ihn«, gab er schließlich zu und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. »Ich bin nicht für ihn und ich bin nicht gegen ihn.« Dieser Kompromiss war alles, was Mary brauchte.
Genau um 9.25 Uhr am Morgen verließ Ronald Dornn seine bescheidene Behausung in der nordöstlichen Ecke der Kolonie und ging mit flottem Schritt die sechzig Meter zu Sana Basels Haus, um seine Braut abzuholen. Alle Einwohner der Gemeinschaft klebten an ihren Fenstern, verfolgten seinen Gang und warteten auf das Zeichen, dem Brautpaar in die Kirche zu folgen. »Do kummt der Bräutigam!«, schrie eine der Küchenhelferinnen aus der Tür der Gemeinschaftsküche und kündete Ronalds Kommen an, während das Spülwasser des Frühstücksgeschirrs von ihren Unterarmen tropfte. Von oben bis unten betrachtete sie ihn, seine feierliche Haltung und wie er den perfekt sitzenden schwarzen Hochzeitsanzug trug, den Marys Schwester Katrina genäht hatte. Seinen »Waschzuber« hatte er gegen den traditionellen schwarzen Hut der Schmiedeleut eingetauscht, der bei Eaton in Winnipeg gekauft worden war. Mit 29 Jahren war Ronald älter als der durchschnittliche hutterische Bräutigam und acht Jahre älter als seine Braut. Als das Paar Hand in Hand aus Sana Basels Haus trat, stellte sich der Rest der Kolonie hinter ihnen in...