Einander fremd
»Lauter Fremde«, »nur noch fremde Gesichter«, »alles so fremd hier!«, »wie die sich benehmen«, »wie die ausschauen«, »schau dir die an!« …
Sätze aus der Wiener U-Bahn, vom Markt, aufgeschnappt auf der Straße. Zehntausendmal geflüstert, gezischt, laut hinausgeschimpft. Nicht nur in der Großstadt Wien, wo ja tatsächlich jede und jeder Zweite so genannten Migrationshintergrund hat, womit bereits sprachlich in einer Trenn-Form festgehalten wird, dass jemand anderswo als in Österreich geboren ist, oder zumindest seine Eltern. Diese Ausrufe, oft gestöhnt in hörbarer Überforderung mit den neuen Gegebenheiten im Alltag, oft auch in herabwürdigender Abwehr hinausposaunt, hört man auch in den Landeshauptstädten, wo nicht wenige Menschen im öffentlichen Raum, in den Geschäften, an den Universitäten unterwegs sind, die »von woanders« kamen. Man hört sie sogar in Orten, in denen es kaum Zuzug gibt und wo weit mehr Zuzug hochnotwendig wäre, weil die Jungen mangels Zukunftsperspektiven längst abgewandert sind, die gewohnten Geschäfte schließen, das Leben verarmt, verlassene Häuser in Ortszentren verfallen, aber trotz der Tristesse kaum jemand bereit ist, sich mit neuem, jungem Leben aus andernorts anzufreunden. Man bleibt lieber unter sich, in der irrigen Annahme, die anderen im eigenen Umfeld zu kennen und sich vor denen niemals schrecken zu müssen. Dabei ist Xenophobie nichts anderes als ein Verdacht und keine Gewissheit über anderer Leute kriminelles Potenzial. Und alle Formen der Kriminalität gab es auch, ehe die Fremden zu uns gekommen sind. Damals, in der von vielen glorifizierten »guten, alten Zeit«, wurde man als Kind von den Erwachsenen auch vor »den Fremden« gewarnt, und für weibliche Jugendliche waren gewisse Viertel sowie Parks des Nachts Tabu-Zonen. Es waren die eigenen unbekannten Leute, vor denen man sich nicht sicher fühlte und meinte, sie könnten Böses im Schilde führen.
Damals, in der »guten, alten Zeit«, galt die Fremde als exotische Wunsch-Destination. Ohne das ausreichende Geld begnügte man sich mit 1001 Märchen aus dem Morgenland oder Goethes »Westöstlichem Diwan«. Die Fremde und die Fremden, sie wurden über die Jahrzehnte umdefiniert von »interessant« und »spannend« auf »unzivilisiert« und »bedrohlich«.
Und schon jahrelang sind sie als Kollektiv Projektionsfläche für viele Verschlechterungen im Land. Heute sind sie die Trennlinie schlechthin innerhalb der Ursprungsgesellschaft, die keineswegs, wie gern von Rechten insinuiert, eine homogene, sondern vielmehr eine knapp neun Millionen zählende höchst heterogene Menschenmasse ist. Die Stimmung im einen Teil der Bevölkerung, der alteingesessenen ebenso wie der vor wenigen Jahrzehnten zugezogenen, war wohl noch nie so von Sorge, Angst, Abwehr getrieben wie in der Jetzt-Zeit, während der andere Teil nach weiterer Weltoffenheit und Humanität lechzt.
Geschürte Ängste
Hochgekommen ist diese Verunsicherung gewisser Teile der Gesellschaft im Zuge der Fluchtbewegung des Jahres 2015, der größten seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber das Unwohlbefinden gab es bereits davor, übertüncht von einer Schicht Zivilisation, an der rechte Parteien in ganz Europa erfolgreich kratzten, ob es in den jeweiligen Ländern Flüchtlinge in relevanter Zahl gab oder nicht. Und die anderen, die vormaligen Mitte-Parteien, folgten, zeitverzögert, den rechten Forderungen – und gaben im Falle von Österreich den Rechten durch ihr Nachgeben bei Grenzschließung, Obergrenze und Schlechterstellung von Asylwerbern scheinbar erst recht recht.
Wenn die traditionellen Parteien machen, was die Rechten fordern, dann kann es nicht so falsch sein, lautet der Trugschluss, der rechte Bürger aber noch nicht einmal befriedigt. Warum erst jetzt die Grenzschließung, die Obergrenze?, fragen sie, warum nicht schon viel früher? Statt mit dem Nachgeben gegenüber Abschottungsforderungen die rechte Konkurrenz in Schach zu halten, wird sie bestätigt, was wiederum dazu führt, dass die so Bestätigten sich immer stärker in ihrer Angst bestätigt fühlen und immer dreistere Forderungen stellen, sich immer weniger um nationale und internationale Gesetze scheren, ja, dass die Bevölkerung immer perfider auseinanderdividiert wird und sich jene, die ohnehin keine Ausbildung in Humanismus genossen haben, zu immer mehr Gemeinheiten angestachelt fühlen.
Rechtspopulisten würden unzivilisierte Lösungen anbieten, schrieb die Psychiaterin und Psychoanalytikerin Elisabeth Skale im Magazin der NGO »SOS Mitmensch«. Sie gingen dabei zweistufig vor. Zuerst würden Gruppen geformt und Ängste geschürt und dann würden zivilisatorische, ethische und moralische Grundsätze aufgeweicht und ausgehebelt. Populisten setzten sich an die Stelle dessen, was die Psychologie Über-Ich nennt, »und nützen diese Position aus, um dem Einzelnen vieles zu erlauben, was er sich üblicherweise verbietet, oder was man Kindern verbietet, wie aggressiv und missgünstig zu sein oder Schwächere schlecht zu behandeln, auszuschließen und auszugrenzen oder gar zu verletzen und im Extremfall zu töten«.
Wir mögen von Mord und Totschlag aus politischen Motiven weit entfernt sein, aber in den Köpfen herrscht eine Art Bürgerkrieg, ebenso wie in den Debatten in den so genannten sozialen Medien. Seit mehr als einem Jahr verläuft die Frontlinie entlang der Frage »bist du für oder gegen Flüchtlinge?«, aber gleich dahinter stehen viele andere Themen. Insgesamt gebe es zu viele Fremde im Land, meinen so viele und sind zugleich den weltoffenen, den mitfühlenden, den angstfreien Landsleuten fremd. Zu viel Toleranz gebe es im Land, meinen so viele, grundsätzlich und insbesondere gegenüber Minderheiten wie Schwulen und Lesben. Ein erklecklicher Teil der riesigen Mehrheitsbevölkerung fühlt sich als »weiß und hetero« an den gesellschaftlichen Rand gedrängt, nur weil Gay Parade und Verpartnerung erlaubt sind. So viele haben Angst vor einer »Islamisierung«, wiewohl die 500.000 bis 600.000 Muslime, die in Österreich in größter Zahl friedlich und unauffällig leben, nicht schuld sind am Schwund der Christen. Von den derzeit fast 80 Prozent Christen kehren immer mehr ganz ohne Einfluss von Imamen oder sonstigen religiösen, gar islamistischen Seelenfängern der Kirche den Rücken und werden Agnostiker und Atheisten.
Verunsichert und an den Rand gedrängt
Wie aber sollen die so genannten kleinen Leute erkennen und verstehen, dass nicht die vielen Fremden, sondern ganz andere Einflüsse wie etwa die Globalisierung und ihre schwer zu durchschauenden Mechanismen zu viel Unsicherheit führen, wenn die Aufmerksamkeit der Politik, und in ihrem Schlepptau der Medien, permanent und penetrant auf diese Ein-Prozent-Bevölkerungsgruppe der Geflüchteten gelenkt wird und das in den seltensten Fällen in Form von Positivbeispielen für gelungene Integration, sondern meist in Form eines »Problems« statt vieler durchaus zu meisternder Herausforderungen?
Nicht von allen, aber von vielen werden die »Neuen« hartnäckig verantwortlich gemacht für die schleichende Verarmung des unteren Bevölkerungsdrittels, die aber nicht mit den Flüchtlingen, sondern mit der Globalisierung und dem Neoliberalismus auch im wohlhabenden Österreich Einzug hielt sowie mit dem Umstand, dass Einheimische gewisse schlechter bezahlte Jobs nicht mehr machen wollen, bessere aber nicht vorhanden oder die Anwärter nicht ausreichend ausgebildet sind.
An ihnen, den Fremden, reiben sich jene tagtäglich aufs Neue, die diese kompliziert gewordene Welt nicht mehr verstehen, die nicht begreifen, dass eine »Subprime«-Krise in den USA, also die Folgen von ungerechtfertigten Kreditvergaben für Einfamilienhäuser in US-Bundesstaaten, von denen man kaum je hörte, schon vor Jahren ihre Zusatzpension schmelzen ließ. Und die dann nach dem Schrumpfen oder gar dem Verlust ihrer kleinen Ersparnisse über Jahre mit Artikeln und Politiker-Statements gefüttert wurden, dass sie für »die Griechen« in der Solidargemeinschaft EU ein Vermögen zahlen müssen, sich aber wegen der recht aggressiv eingeforderten politischen Korrektheit nicht einmal mehr in eine abwertende Verallgemeinerung à la »faule Griechen« retten dürfen.
Egal, wie wenig Übersicht das gern als »sozial schwach« bezeichnete, de facto finanziell schwache untere Drittel der Gesellschaft über die Finessen der Staatenrettung hat, die im Falle Griechenlands in Wahrheit eine Rettung deutscher und französischer Banken war, eines bemerken auch die Schlichtesten: dass ihr Alltag zum Teil teurer, jedenfalls unübersichtlicher, unverständlicher und somit bedrohlicher geworden ist, dass sie abgehängt wurden. Und dass die österreichische Realverfassung, die da lautete, deinen Kindern wird es einmal besser gehen als dir, aufgekündigt worden ist, still, heimlich und...