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Adele Spitzeder

Der größte Bankenbetrug aller Zeiten

AutorJulian Nebel
VerlagFinanzBuch Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783960920731
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
1872, München: Mehr als 30 000 Menschen in München und Umgebung verlieren ihre Ersparnisse. Existenzen und ganze Gemeinden sind urplötzlich ruiniert, unzählige Menschen nehmen sich das Leben. Schuld ist eine Frau: Adele Spitzeder. Vollkommen mittellos und als Schauspielerin gescheitert gründet sie im Jahr 1869 die »Dachauer Bank« und wird damit zur Urheberin des größten Schneeballsystems im ganzen Kaiserreich. In ihrer Privatwohnung stapelt sie die Geldsäcke ungesichert, eine Buchhaltung gibt es nicht. 1872 bricht das System zusammen. Vieles kommt auch heute bekannt vor, obwohl damals Bismarck und der bayerische Märchenkönig Ludwig II. regierten: die Leichtgläubigkeit bei schnellen Gewinnversprechen, die Relevanz gelungener Öffentlichkeitsarbeit und die Entstehung von Investmentblasen ohne die notwendigen Sicherheiten. Geschichte wiederholt sich vielleicht nicht, aber sie reimt sich.

Julian Nebel lebt und arbeitet als Autor und Pressesprecher in München. Der studierte Jurist ist gebürtiger Münchner und hat ein besonderes Interesse an spektakulären Kriminalfällen. Adele Spitzeder wurde als Tochter eines Sänger- und Schauspieler-Ehepaars am 9. November 1832 in Berlin geboren. 1869 gründete sie in München mit ihrer damaligen Lebensgefährtin die »Spitzedersche Privatbank«. 1872 brach die Bank zusammen und Adele Spitzeder wurde am 12. November wegen Betrugs verhaftet und zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilt. Dort schrieb sie auch ihre Memoiren. Aus der Haft entlassen, ging sie ins Ausland, kehrte jedoch bald wieder zurück und veröffentlichte die »Geschichte meines Lebens« im Jahre 1878. Zwei Jahre später wollte sie es nochmals im Bankengeschäft versuchen, wurde jedoch sofort festgenommen. Unter dem Namen Adele Vio trat sie später als Volkssängerin in Erscheinung. Sie starb 1895 in München an Herzversagen und ist auf dem Alten Südlichen Friedhof anonym beerdigt.

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Leseprobe

Skandal im Königreich


Bayern und das Deutsche Kaiserreich


Für den Diebstahl braucht der Dieb nur ein wenig Geschick, will er nicht erwischt werden. Der Betrüger jedoch schleicht sich in das Vertrauen der Betrogenen. Das Opfer gibt von sich aus, im besten Glauben, überzeugt von der Geschichte, die ihm aufgetischt wird, und überwältigt von der Darstellung des Täters. Adele Spitzeder, ehemalige Schauspielerin, gut erzogen, volksnah, sprachgewandt, konnte das meisterhaft. Sie genoss das Vertrauen von Kleinhäuslern, Droschkenkutschern, Ledergerbern und Stubenmädchen, die in ihr die Chance sahen, doch etwas mehr aus dem Wenigen zu machen, was sie hatten. Betrug benötigt Charisma, Glaube und Hoffnung. Und die richtigen Umstände.

Zu diesen Umständen: Bayern war Königreich. Auf dem Thron saß seit 1864 Ludwig II., Märchenkönig, Wagner-Fan, bausüchtig, menschenscheu, einsam. Als Ludwig II. König wurde, war er gerade 18 Jahre alt, sein Vater Max II. war nach kurzer schwerer Krankheit gestorben. »Ludwig, von Gottes Gnaden König von Bayern, Pfalzgraf bey Rhein, Herzog von Bayern, Franken und in Schwaben« lautete sein Titel, womit auch die Herrschaftsgebiete abgesteckt waren. Ludwig hatte keine rechte Freude an der Regierungsarbeit, Freude hatte er aber daran, Richard Wagner zu fördern, dem er schon bald nach seinem Regierungsantritt größere Summen Geldes zukommen ließ. Er finanzierte damit den Ring des Nibelungen, und das Münchner Nationaltheater feierte Ende der 1860er-Jahre mehrere Uraufführungen von Wagneropern. Von Wagners Kunst hielt Ludwig viel, von dessen Antisemitismus nichts. Im Jahr 1868 erhielten die Juden in Bayern die volle rechtliche Gleichstellung. Richard Wagner hatte München zuvor schon auf öffentlichen Druck verlassen müssen, an dem die Presse maßgeblich beteiligt war, und bekam später in Bayreuth ein Festspielhaus. Die politische Lage in Bayern war komplex, aber doch überschaubar. Der König versuchte, seine Souveränität dem Parlament gegenüber auszubauen und besetzte die Regierungen mit Ministern, die möglichst nicht der Mehrheitslinie im Parlament entsprachen. Eine Verlobung mit Herzogin Sophie Charlotte in Bayern endete mit Trennung statt Trauung, und er reiste nach Frankreich, dessen antipreußische Haltung und absolutistische Vergangenheit ihm sympathisch waren.

So hätte es für das kleine Königreich Bayern eine ruhige Zeit sein können, wenn die Weltlage nicht eine andere gewesen wäre. Denn in Preußen regierten König Wilhelm I. von Preußen und noch viel mehr dessen Ministerpräsident Otto von Bismarck. Bismarck sah die Möglichkeit, die in zahlreiche Kleinstaaten zersplitterten deutschen Lande zu einem Deutschen Reich zu vereinen. Und damit dies unter preußischer Führung geschehen konnte, musste Österreich hinausgedrängt werden und die sogenannte kleindeutsche Lösung her.1 Der Konflikt zwischen Preußen und Österreich schwelte, und Bayern, das so ein bisschen dazwischenlag, aber eher mit Österreich sympathisierte, sollte nach König Ludwigs Willen aus einem potenziellen Krieg möglichst herausgehalten werden. Jedoch war Bayern gegenüber Österreich bündnisverpflichtet, und Österreich hatte nicht die Absicht, Bayern aus den Verpflichtungen zu entlassen. Und so zog Bayern im Jahre 1866 auf der Seite Österreichs gegen Preußen in den Krieg.2

Der Krieg war schnell entschieden. Preußen siegte. Die Ursachen waren vielfältig, entscheidend war aber bestimmt, dass die preußische Armee besser ausgestattet und in einer besseren Verfassung war als die Truppen Österreichs. Österreich hatte noch Vorderlader-Gewehre. Nach jedem Schuss erhoben sich also die am Boden liegenden Schützen, um nachzuladen, und konnten so von den preußischen Soldaten wie Schießbudenfiguren abgeschossen werden. Das Nachladen preußischer Gewehre war bequem im Liegen möglich. Preußen hatte nämlich bereits Hinterlader entwickelt. Die Schlacht bei Königgrätz im österreichischen Böhmen am 3. Juli 1866 brachte die Entscheidung. Das Königreich Bayern selbst hatte wenige Kriegshandlungen zu erdulden, und wenn, dann schwerpunktmäßig in Franken. Dem Zugehörigkeitsgefühl der Franken zu Bayern hat das übrigens nicht genützt.

Preußen verhielt sich Bayern gegenüber nach dem Krieg sehr milde. Bismarck wusste, dass gedemütigte Gegner nicht zu loyalen Verbündeten werden. Die Gebietsabtretungen waren überschaubar. Das Bezirksamt Gersfeld wurde an Preußen abgetreten und gehört heute zum Landkreis Fulda. Der Landgerichtsbezirk Orb wurde ebenfalls Preußen zugeschlagen und befindet sich heute im hessischen Main-Kinzig-Kreis. Bayern musste 30 Millionen Gulden an Preußen zahlen3 und wurde vertraglich von der österreichischen auf die preußische Seite gezogen. 1866 wurde zwischen den Kriegsparteien ein Schutz- und Trutzbündnis geschlossen. 1870 marschierte dann Bayern im Deutsch-Französischen Krieg an der Seite Preußens in Frankreich ein, wo im Jahr 1871 das Deutsche Kaiserreich ausgerufen wurde. Der preußische König Wilhelm wurde zu Kaiser Wilhelm I., Otto von Bismarck zum Reichskanzler, und Bayern verlor seine Unabhängigkeit. Und Ludwig II. verlor seine Lust aufs Regieren. An der Kaiserproklamation im Schloss von Versailles beteiligte er sich nicht. Dieser gesamte Deutsch-Französische Krieg ging ihm gegen den Strich, Bayern und Frankreich hatten traditionell ein gutes Verhältnis, immerhin hatte Napoleon Bayern überhaupt erst zum Königreich gemacht. Ab Mitte der 1870er-Jahre zog sich Ludwig zunehmend aus der Öffentlichkeit zurück, 1886 fand er entmündigt und geheimnisumwittert sein Ende im Starnberger See. Die Mordgerüchte verstummen bis heute nicht.

München


München war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Residenzstadt, Hauptstadt des Königreichs Bayern und schwankte dabei zwischen weltstädtisch und provinziell. Die goldene Zeit, in der München leuchtete, hatte die Stadt aber erst noch vor sich. Sie war über ihre alten Mauern schon lange hinausgewachsen und mittlerweile eine Kunst- und Wissenschaftsstadt von europäischem Rang, seit Ludwig I. die Pinakotheken und die Antikenmuseen am Königsplatz bauen ließ. Die mittelalterliche Stadtbefestigung wurde abgetragen und damals vor der Stadt liegende Ortschaften wurden eingemeindet. Prachtstraßen führten aus München hinaus, die Ludwigstraße nach Norden, nach Schwabing, die Maximilianstraße nach Osten über die Isar. Rechts der Isar, in der Au, die immer wieder von Hochwassern überflutet wurde, standen ärmliche Hütten. 1854 brach die Cholera aus. Es entstanden Gründerzeitquartiere, die Maxvorstadt, die Ludwigsvorstadt, wo bereits, nach Plänen Max von Pettenkofers, eine Kanalisation eingebaut wurde. München wurde nach und nach von einem stinkenden Moloch in eine Stadt der schönen Fassaden und Bürgersteige verwandelt. Die Universität bezog ihre Räume, und 1868 wurde die Polytechnische Hochschule, jetzt Technische Universität München, gegründet. Handel und Wissenschaft, Bürgertum, Akademiker, Arbeiter, Angestellte und Beamte lebten in der um sich greifenden Stadt. Außerdem der König und das Militär.

Geld und Arbeit


Mit der Reichsgründung kamen die Währungseinigung und die Mark4, die ab 1871 nach und nach in allen Teilen des Deutschen Kaiserreichs eingeführt wurde und spätestens 1876 den bayerischen Gulden ablösen sollte. Der Gulden kam ursprünglich aus Florenz, wurde daher auch als Florentiner Gulden oder schlicht als Florentiner5 bezeichnet. Süddeutschland, also insbesondere Österreich, Württemberg, Baden und Bayern waren »Guldenländer«. In norddeutschen Ländern wurde eher mit Talern gezahlt. Als Abkürzung für Gulden diente, getreu der florentinischen Herkunft, »fl.«, 60 Kreuzer ergaben einen Gulden. Ausgegeben wurden auch halbe Gulden und Doppelgulden.

Die Wirtschaft nahm Fahrt auf und ging neue Wege. Erste Industrialisierungsschübe gab es bereits in den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts. 1835 fuhr die erste deutsche Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth. Die Strecke von München nach Augsburg folgte schnell, maßgeblich vorangetrieben von Joseph Anton von Maffei, der in der Münchner Hirschau am Englischen Garten ein Eisenwerk errichtete, das bald eine Lokomotivenfabrik von Weltrang wurde. 1841 wurde die erste Dampflok ausgeliefert, die dann sofort nach Augsburg fuhr. Die Entwicklung ging rapide voran. Andernorts dominierte die Textilindustrie: Hof, Kulmbach, Augsburg. Im Jahr 1848 gründete König Max II., der Vater Ludwigs II., einen Vorläufer des Wirtschaftsministeriums. Die Thronbesteigung Ludwigs gab einen neuen Schub, er liberalisierte die Wirtschaft. Banken und Börsen ermöglichten eine Kreditwirtschaft und damit die Gründung von Unternehmen und Handelsgesellschaften. In der zu Bayern gehörenden Pfalz wird 1865 die BASF gegründet, allein in Bayern gibt es bis 1870 über 100 neue Aktiengesellschaften. Fabriken brauchen Arbeiter, und dieser neue vierte Stand fand seine Unterkunft in Mietskasernen und Armenhäusern. Sie lebten nicht mehr von der Erde, sondern von ihrer Hände Arbeit. Und sie lebten oft erbärmlich. Zeitgleich entstanden erste Arbeitervereine, Vorläufer der Gewerkschaften. Immer noch aber war der Großteil des Landes landwirtschaftlich geprägt. Doch die Moderne breitete sich unaufhaltsam aus. München wurde 1852 Großstadt. 1867 hatte es ca. 145.000 Einwohner (ohne Militär) und 10.572 Gebäude. Von den Münchnern waren 131.000 Katholiken, 12.000 Protestanten und 2.000 Juden.6 Nur 16 Jahre später (1883) hatte sich die Einwohnerzahl auf eine viertel Million fast verdoppelt. Im...

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