Tag X
Die ganze Geschichte hatte vor fünf Monaten begonnen, an einem diesig-grauen Morgen Ende Juli. Der Wetterbericht hatte Regen angekündigt, und über den Freunden und neugierigen Zuschauern, die sich auf der Piazza del Plebiscito im Herzen Neapels versammelt hatten, zogen sich dichte Wolken zusammen. Die Piazza del Plebiscito ist einer der größten Plätze Europas, auf einer Seite begrenzt vom Palazzo Reale aus dem 17. Jahrhundert, auf der anderen von der Basilica San Francesco di Paola. Dieser Platz im Herzen Neapels schien mir der natürliche Ausgangspunkt für mein Abenteuer zu sein.
»Bist du bereit?«, fragte Antonio, der sich gerade durch das Heer von Gratulanten, Fotografen und Journalisten gekämpft hatte, die meine Abfahrt begleiteten. Die Frage war natürlich rein hypothetisch. Kann man überhaupt für ein Abenteuer wie dieses »bereit« sein? Ohnehin waren alle der Ansicht, dass ich das nicht war. Ich hatte schließlich nur ein paar Tausend Euro auf der Bank, ein Rennrad und einen Traum.
Einen Traum, der aus Trauer geboren war. Jener Art von Trauer, die uns älter und müder werden lässt – oder aber verändert, weil sie zum Motor für seltsam zufällige Handlungen wird, die schließlich unser ganzes Leben auf den Kopf stellen.
Ich hatte Hendri Coetzee vor acht Jahren im Rock Garden Nightclub in Kampala in Uganda kennengelernt. Ich stand mit dem Rücken an die Bar gelehnt, die Neonröhren tauchten mich nur zur Hälfte in ihr Licht, und ich unterhielt mich mit Freunden. Hendri stand im Dunkeln und nippte an einem Wodka Red Bull, als unsere Augen sich trafen. Wir sahen uns eine gefühlte Ewigkeit an. Als hätte er nicht die Absicht, wegzusehen und diese unerwartete Begegnung abzubrechen. Ich kann mich noch ganz genau an seine Augen erinnern – hellblau, selbst noch im schummrigen Licht des Clubs. Langsam ging er auf mich zu, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. Er kam so nahe heran, dass unsere Gesichter sich beinahe berührten.
»Sie können ja Ihre Augen nicht von mir lassen«, flüsterte ich.
»Und Sie wünschen sich nichts sehnlicher, als mich zu küssen«, antwortete er.
Wenn noch andere Worte fielen, so kann ich mich daran nicht mehr erinnern. Unsere Hände waren ebenso Teil der Verschwörung wie unsere Augen. Wir ließen uns nicht mehr los, sondern gingen ohne ein weiteres Wort zusammen hinaus in die Finsternis, weg von der lauten, betrunkenen Menge der Stammgäste. Für uns gab es nichts und niemanden außer uns beiden.
Hendri war ein Entdecker. Er hatte zu Fuß 1500 Kilometer ostafrikanische Küste und zahllose weiße Flecken auf der Landkarte des afrikanischen Kontinents erkundet. Er hatte den Nil von der Quelle bis zur Mündung bereist und nannte sich selbst spaßeshalber den »Großen Weißen Entdecker«. Ich fand »Flussgott« passender, und wenn Sie je gesehen hätten, wie er in seinem orangefarbenen Fluid-Kajak über Grade-Five-Stromschnellen glitt, würden Sie verstehen, warum.
Unsere nächsten Begegnungen waren ebenso kurz und intensiv und ohne jede Erwartung an eine gemeinsame Zukunft. Wir verbrachten eine Reihe vollkommener, makelloser Momente miteinander, die wie unser erstes Treffen immer ein bisschen unwirklich blieben. Er arbeitete als Wildwasserguide für ein Kajakunternehmen in Jinja und brachte Leute über die Stromschnellen am Nil. Ich lebte damals in Kampala – tagsüber brachte ich als Missionshelferin Lebensmittel und Medikamente in Waisenhäuser und Schulen, nachts war ich Go-go-Tänzerin in einer professionellen Tanzformation, was mir genug Geld einbrachte, um meine Miete zu bezahlen. Hendri hatte gehört, dass Ausländerinnen im Rock Garden Nightclub tanzten, und war schon ein paar Wochen vor unserem ersten Treffen dort gewesen, um uns tanzen zu sehen.
Als ich ihn das letzte Mal sah, bereitete er sich gerade auf eine neue Nilexpedition von der Quelle zur Mündung vor – 6700 Kilometer auf den Spuren des amerikanischen Forschers John Goddard. Nachdem er losgezogen war, nahm mein Leben eine abrupte Wendung. Ich verließ Kampala, schrieb ein Buch und wurde ein anderer Mensch. Wir verloren uns für mehrere Jahre aus den Augen.
Ich war in London und besuchte gerade eine Freundin, die auch in Kampala gelebt hatte, als ich Hendris Profil auf ihrer Facebook-Seite entdeckte. Ich schickte ihm eine Freundschaftsanfrage, auf die er sofort reagierte.
»Der Hammer! Ich hätte ja nie auch nur eine Sekunde lang gedacht, dass ich je wieder von dir hören würde. Dabei habe ich erst vor ein paar Wochen an dich gedacht. Im positiven Sinne, sollte ich wohl hinzufügen.«
Er war gerade von einer einsamen Expedition durch den Kongo zurückgekehrt und hatte Schwierigkeiten, sich wieder ins »normale Leben« zu integrieren. Ich kannte das Gefühl. Auch ich hatte nie irgendwo richtig dazugehört. Wir begannen, uns regelmäßig zu schreiben. Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben, als hätte sich unser Leben nicht von Grund auf verändert. Bei ihm wie bei mir war in den letzten fünf Jahren viel passiert, doch zwischen uns war alles wie eh und je.
Freiheit war für uns beide ein wichtiges Thema. Wir hatten sie zwar auf verschiedenen Wegen gesucht, doch unsere Pfade hatten uns zu recht ähnlichen Schlussfolgerungen geführt. »Du hast vor einiger Zeit mal über Freiheit gesprochen«, schrieb er mir zu Beginn unseres Austauschs, nachdem er mein erstes Buch gekauft und gelesen hatte, in dem ich meine Kindheit in der berüchtigten Sekte Children of God beschreibe. Dann fuhr er fort:
Ich wusste nicht, wie wichtig das Thema für dich ist. Viktor Frankl ist mein Lieblingspsychologe. Er sagt: »Wir können Sinn in der Arbeit, der Liebe oder im Leiden finden.« Vielleicht haben Menschen, die leiden, sogar die besten Aussichten, einen Sinn zu finden. Aber das kannst du sicher besser beurteilen als ich. Frankl jedenfalls meint: Leiden ist unvermeidlich, und über die eigene Reaktion auf das Leid zu bestimmen, ist eine der letzten Freiheiten der Menschheit. Als jemand, der nach dieser Freiheit sein Leben lang gesucht hat, bin ich sicher, dass es auch die am schwierigsten zu erlangende Freiheit ist.
Jede E-Mail, jede Nachricht, die wir einander schickten, war für uns wie Wasser für den dürstenden Wanderer. Sie sprachen das Wilde in mir an, die Rebellin, die soziale Außenseiterin. Wir lebten auf verschiedenen Kontinenten, aber seine Worte waren mir wichtiger als alles, was ich von anderen Menschen bekam. Obwohl wir nur eine Fernfreundschaft führten, bedeutete mir diese Freundschaft mehr als hundert Bekanntschaften direkt vor meiner Haustür.
In den folgenden Monaten wurde unsere Beziehung immer enger, als spürten wir beide, dass unsere Zeit bemessen war und auf einen unbekannten Zusammenstoß mit dem Schicksal zueilte.
»Ich glaube, wir wissen beide, dass du und ich nur Symptome sind, nicht die Ursache dieser Anziehung«, schrieb er mir in einer E-Mail.
Wir suchen uns voller Verzweiflung und damit die Chance von außen, dass jemand, der anders ist als alle anderen, vielleicht endlich das ist, was wir suchen, die wir alles andere bereits abgegrast haben – eine letzte Zuflucht. Für uns, die wir in vollem Lauf auf die Dinge zurennen, kann die Angst, diese Theorie auf ihre Gültigkeit hin zu prüfen, sehr schmerzhaft werden. Uns fällt es schwer, vorsichtig und tastend vorzugehen. Unser Blut ist gesättigt mit Leidenschaft. Und doch glaube ich, wir haben uns viel zu sagen, vieles miteinander zu teilen. Wir gehen uns gegenseitig unter die Haut.
Er plante gerade eine neue Expedition mit zwei amerikanischen Kajakfahrern. Sie wollten einen der am wenigsten erforschten Flüsse im Kongo hinunterpaddeln. Zu Silvester wollte er zurück sein, also buchte ich für den 30. Dezember 2010 einen Flug nach Uganda. Wir hatten beschlossen, uns zu treffen und zu sehen, was passiert.
Am 3. Dezember 2010 loggte ich mich bei Skype ein, wo Hendri auf mich wartete.
Hendri: Ich habe gerade an dich gedacht.
Juliana: Und ich hatte das Gefühl, dass ich mich einloggen sollte.
Hendri: Zum Glück.
Juliana: Wo bist du gerade?
Hendri: In Kalemie im Kongo. Wir sitzen hier seit ein paar Tagen fest, weil wir auf die Erlaubnis zum Weiterfahren warten.
Juliana: Na, wenigstens hast du Internet! Das muss man sich mal vorstellen. Afrika ist eben ein Widerspruch in sich.
Hendri: Ich habe heute den ganzen Tag an dich gedacht.
Juliana: Merkwürdig, und ich an dich.
Hendri: Und wann werde ich das Vergnügen haben?
Juliana: Welches Vergnügen?
Hendri: Na, dich!
Juliana: Ich komme am 31. Dezember an.
Hendri: Wenn ich je einen Anreiz zum Überleben gebraucht habe …
Juliana: Ja, das solltest du wirklich hinbekommen. Ich warte auf dich. Ein Monat ist ja noch ziemlich lange.
Hendri: Ich fühle mich dir so nah. Erstaunlicherweise. Es sind ja schließlich nur ein paar Nilpferde und ein paar Wilde, die uns trennen. Ich werde mich bemühen.
Juliana: Cool. Du arbeitest also daran. Und ich werde daran arbeiten, nach Afrika zu kommen.
Hendri: Bald.
Juliana: Ja.
Hendri: Das ist vermutlich das letzte Mal, dass ich ins Internet kann, bis unsere Reise zu Ende ist. In drei oder vier Wochen, wenn alles nach Plan läuft.
Juliana: Bitte komm in einem Stück zurück. Ich brauche alles an dir.
Hendri: Und du wirst es bekommen.
Juliana:
Hendri: Schlaf gut. Träum von mir. Ich werde jedenfalls von dir träumen.
Juliana: Das...