2 Relevante Theorien und Modelle1
2.1 Interkulturelle Kompetenz
Um Therapien im transkulturellen Setting erfolgreich durchzuführen, ist eine interkulturelle Kompetenz des Behandelnden eine notwendige Ausgangsbasis. Die Frage, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten hierunter zu fassen sind, wird aufgrund der verschiedenen zugrunde liegenden Kulturbegriffe (vgl. Kapitel 1) unterschiedlich beurteilt. Während zum Beispiel Wirtschaftsvertreter in interkulturellen Trainings sehr spezifisch auf einen Kontext (Land, Geschäftszweig, Verhandlungsziel) geschult werden, greift dieser Ansatz in der Psychotherapie aufgrund der Vielfalt der Klienten und ihrer individuellen Problemstellungen zu kurz. Das vorliegende Buch orientiert sich an einem dynamischen Kulturbegriff, wie er im Kapitel 1 erläutert wurde.
|14|Begriffsklärung: Interkulturelle Kompetenz
Interkulturelle Kompetenz wird definiert als die Fähigkeit, effektiv mit Menschen, die über andere kulturelle Hintergründe verfügen, umzugehen und zusammenzuarbeiten, wobei dies auf beiden Seiten als gelungene interkulturelle Kommunikation empfunden werden sollte.
Dabei muss keinesfalls eine neue Psychotherapie für Patienten mit Migrationshintergrund gelehrt oder umfangreiches Wissen über kulturelle Unterschiede erlernt werden (Gavranidou & Abdallah-Steinkopff, 2007). Gavranidou und Abdallah-Steinkopff sprechen vielmehr vom Erlernen der Fähigkeit einer kultursensitiven Anwendung psychotherapeutischer Methoden. Kultursensitivität soll demnach ein Zustand der erhöhten Reflexionsbereitschaft und kritischen Haltung gegenüber der eigenen Arbeit und gleichzeitig eine Unvoreingenommenheit und Offenheit gegenüber den Anliegen der Patienten sein.
Die persönlichen Einstellungen und Erfahrungen der interkulturell kompetenten Person werden zurückgestellt und es besteht die Bereitschaft, Stereotype und Vorurteile zu revidieren und Neues zu erlernen. Grundvoraussetzung hierfür sind die drei therapeutischen Basiskompetenzen nach Rogers, d. h. Wertschätzung, Empathie und Authentizität.
Das Säulenmodell
Interkulturelle Kompetenz setzt sich zusammen aus den Säulen Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten (vgl. Abbildung 4).
Laut der Leitlinien für interkulturelle Kompetenz in der Psychotherapie im deutschsprachigen Raum (von Lersner et al., 2016) zählen zu Wissen, welches die erste Säule darstellt, beispielsweise Kenntnisse zu zentralen Grundbegriffen, zu Migrationskonzepten oder zur Rolle von Sprache und Sprachbarrieren in der Psychotherapie. Als relevant erachtet wird ebenfalls Wissen zu Besonderheiten der Diagnostik und Anamneseerhebung sowie zu Konzepten von Vorurteilsbildung, Rassismus und Diskriminierung, die eine Rolle spielen können. Von zentraler Bedeutsamkeit ist das Wissen über die eigene kulturelle Eingebundenheit, das heißt ein Bewusstsein über eigene kulturelle Normen. Ebenfalls gefordert wird ein Wissen über die Herkunftskultur des Patienten, d. h. über die Rolle von Religion und Spiritualität, politische Hintergründe im Lebensumfeld des Klienten, Rollenverständnis und Familienstrukturen, Tabus und Werte etc.
Wie bereits deutlich wird, handelt es sich hierbei um eine schier unüberschaubare Menge an Wissen, die erworben werden müsste, wenn man die Vielfalt der Kulturen betrachtet, aus denen Menschen stammen können. Dies ist für den einzelnen Behandler quasi nicht realisierbar. Einige Au|15|toren diskutieren in diesem Zusammenhang auch die Gefahr von Wissen bzw. zu viel Wissen. Es wird argumentiert, dass Vorwissen Stereotype herausbilden könne, die dann auf einen individuellen Vertreter einer Kultur angewandt werden, ohne bei dieser Person in dieser Ausprägung vorhanden zu sein. Autoren wie Mecheril (2010) propagieren die „Kompetenzlosigkeitskompetenz“ und bevorzugen die offene und empathische Haltung des Therapeuten gegenüber der Lebenswelt des Klienten, was hinreichend sei für eine gelingende interkulturelle Psychotherapie.
Eine gute Möglichkeit ist es, sich Wissen zu übergeordneten Konzepten und Prinzipien anzueignen (etwa verschiedene Formen von Familienstrukturen, Erziehungskonzepte, Religiosität etc.), um einen Einblick in die Fülle möglicher Realitäten zu erhalten und weitere Praktiken dazu ins Verhältnis setzen zu können. Ein solches Herangehen ermöglicht es dem Therapeuten auch, die eigenen Standards zu reflektieren und in Bezug zu anderen Kulturen zu setzen.
|16|Hiermit wird bereits die zweite Säule der interkulturellen Kompetenz angesprochen, nämlich die der Einstellungen und des eigenen kulturellen Bewusstseins. Neben grundsätzlicher Empathie und Offenheit, welche von Psychotherapeuten generell gefordert werden, geht es hierbei noch stärker um die Offenheit gegenüber Denkansätzen, die nicht mit der eigenen Kultur übereinstimmen und die Fähigkeit, an diese vorurteilsbewusst heranzugehen. Dem geht die Reflexion der eigenen kulturellen Eingebundenheit voraus, denn nur so können eigene Werte, Normen, Vorurteile und auch Grenzen und Tabus identifiziert und mit dem Klienten in Deckung gebracht werden. Die Reflexion ist auch hilfreich, um zu erkennen, an welchen Stellen in der Behandlung Unsicherheiten auftreten können oder inwiefern auftretende Missstimmungen in der Therapie durch eigene kulturelle Normen erklärbar sind.
Nicht selten treten im transkulturellen Setting Emotionen wie Schuld, Unbehagen oder auch Ärger auf, welche die therapeutische Arbeit beeinflussen und überlagern. Studien zeigen diesen Effekt sowohl auf Behandlerseite als auch auf Patientenseite (Kahraman, 2008; Özbek & Wohlfart, 2006) in stärkerem Maße, als dies in „monokulturellen“ Therapiesettings der Fall ist. Diese Emotionen können Folge von Machtgefälle, Diskriminierung, Tabubrüchen oder auch Unwissen sein und sollten reflektiert und analysiert werden, um nicht den therapeutischen Prozess zu behindern.
Van Keuk et al. (2011) nennen diesen Prozess „kulturelle Emanzipation“, da man seinen Reaktionsweisen nicht mehr ausgeliefert, sondern sich ihrer bewusst ist und darauf reagieren kann.
Die eigene kulturelle Prägung
Die Selbstreflexion über die eigene kulturelle Eingebundenheit ist eine wichtige Voraussetzung im interkulturellen Setting. Bezugsrahmen kann hierbei sowohl die eigene Herkunftsfamilie, als auch die aktuelle Lebenssituation sein, in der sich eine Person befindet. In der Regel sind kulturelle Normen unbewusst und treten z. B. in der Therapie immer dann zutage, wenn das Verhalten des Gegenübers einer anderen Norm unterliegt. Beispiele hierfür sind Dinge wie die Begrüßung oder der Umgang mit Nähe und Rollendefinitionen (Geschlechterrollen, Rolle als Psychotherapeut oder Patient). Therapeuten sollten sich darüber bewusst sein, welche Normen ihrem Handeln zugrunde liegen.
Die folgenden Fragen bieten eine Möglichkeit, sich auf relevanten Dimensionen mit der eigenen Kultur auseinanderzusetzen (in Anlehnung an Joksimovic, 2009):
Wie wird in Ihrer Familie kommuniziert (laut oder leise, direkt oder indirekt, häufig oder selten)?
Gibt es in Ihrer Familie Tabus? Wenn ja, welche?
|17|Wie wird mit Zeit umgegangen?
Woran erkennt ein Außenstehender, wer in Ihrer Familie Autorität besitzt?
Sind mit dem Geschlecht bestimmte Rollenbilder oder Verhaltensweisen verbunden?
Welche Rituale sind in Ihrer Familie wichtig?
Worauf sind die Menschen dieser Kultur stolz?
Wofür schämen sich die Menschen dieses Kulturkreises?
Welche Bedeutung haben Individuum und Gruppe?
In der Darstellung der Säulen Wissen und Einstellungen wurde bereits die große Überschneidung mit der dritten Säule interkultureller...