|21|2 Leitlinien
2.1 Leitlinien zu Diagnostik und Verlaufskontrolle
Eine ausführliche diagnostische Abklärung der affektiven Dysregulation bildet die Grundlage für eine spezifische, auf das Kind bzw. den Jugendlichen und seine Familie hin abgestimmte Intervention. In Abhängigkeit von der Fragestellung kommen hierbei neben der Eingangsexploration, in die das Kind bzw. der Jugendliche und seine Bezugspersonen einbezogen werden, unterschiedliche psychometrische und andere Verfahren zum Einsatz. Meistens wird eine sehr komplexe Problematik, die sich in unterschiedlichen Lebensbereichen abbildet, beschrieben. Um ein umfassendes Bild über das Ausmaß der Beeinträchtigung zu erhalten, sollten daher bei der diagnostischen Abklärung auch Lehrer, Erzieher, Familienhelfer oder andere relevante Personen einbezogen werden.
Die Diagnostik von Störungen der Affektregulation stellt eine Herausforderung dar, weil es sich um eine Symptomatik handelt, die im Kontext unterschiedlicher Störungsbilder eine Rolle spielen kann, die aber in der im deutschen Sprachraum maßgeblichen ICD-10 nicht als eigenständige Diagnose beschrieben wird. Entsprechend müssen dimensionale Aspekte bei der Diagnosestellung besonders beachtet werden. Die große Heterogenität der Symptomatik erfordert die Berücksichtigung individueller, lerngeschichtlicher und interaktioneller Faktoren, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung beitragen. Auf die einzelnen Aspekte, die es bei der Diagnostik zu berücksichtigen gilt, wird in den folgenden Abschnitten genauer eingegangen. Tabelle 2 bietet einen Überblick über die im Folgenden ausgeführten Leitlinien.
Tabelle 2: Übersicht über die Leitlinien zur Diagnostik und Verlaufskontrolle von Störungen der Affektregulation
L1 | Exploration des Patienten und der Bezugspersonen |
L2 | Standardisierte Fragebögen und testpsychologische Untersuchung |
L3 | Somatisch-neurologische Diagnostik |
L5 | Verhaltens-, Plan- und Ressourcenanalyse |
Darüber hinaus kann als Grundlage für die Diagnostik und Verlaufskontrolle ergänzend der Leitfaden-Band „Diagnostik psychischer Störungen |22|im Kindes- und Jugendalter“ (Döpfner & Petermann, 2012) herangezogen werden. Zum detaillierten Vorgehen beim Erfassen begleitender aggressiver, hyperaktiv-impulsiver oder depressiver Symptome sei zudem auf die entsprechenden störungsspezifischen Leitfäden verwiesen (Döpfner, Frölich & Lehmkuhl, 2013; Ihle et al., 2012; Petermann, Döpfner & Görtz-Dorten, 2016).
2.1.1 Exploration
In Leitlinie 1 werden die Empfehlungen für die Exploration des Kindes bzw. Jugendlichen, der Bezugspersonen und in Ergänzung der Erzieher oder Lehrer formuliert. Diese Empfehlungen bauen auf den allgemeinen Explorationsleitlinien im Leitfaden „Diagnostik psychischer Störung im Kindes- und Jugendalter“ (Döpfner & Petermann, 2012) auf.
L1
Leitlinie 1: Exploration des Patienten und der Bezugspersonen
Sektion 1: Notwendige rechtliche Voraussetzungen
Aufklärung von Kind und Eltern/Sorgeberechtigten.
Einwilligung der Personensorgeberechtigten.
Besonderheiten bei getrennt lebenden oder geschiedenen Eltern berücksichtigen (ggf. Klärung durch das zuständige Familiengericht).
Schweige-, Aufklärungs- und Informationspflicht: u. a. Aufklärung über Diagnose, Prognose und geplante therapeutische Maßnahmen.
Bei Jugendlichen, die 16 Jahre und älter sind, besteht gegenüber den Sorgeberechtigten keine Informationspflicht über die Durchführung der Therapie und es bedarf nicht ihres Einverständnisses.
Sektion 2: Explorationssetting
Umgang mit der Sensibilität der Informationen.
Abwägungen zum Explorationssetting (Einzel-, Eltern- oder Familienexploration?): Beginn des Gesprächs mit allen Beteiligten gemeinsam; dem Kind/Jugendlichen Raum zur Beobachtung und Gewöhnung anbieten.
Erste Beobachtungen zu den familiären Interaktionsmustern (Informationen zur familiären nonverbalen und verbalen Kommunikation, Rollenverteilung, Dominanzverhältnisse, Wertschätzung etc.).
Informationen zum Ablauf bei einer ambulanten Therapie.
Sektion 3: Exploration der Kernsymptomatik der gestörten Affektregulation
Erfasst wird hier das Auftreten der Kernsymptomatik affektiver Dysregulation, insbesondere Wut, Trauer, Reizbarkeit/Überempfindlichkeit, Übererregbarkeit/Hyperarousal, Insomnie, Ablenkbarkeit, Agitiertheit/körperliche Unruhe, Gedankenrasen/Gedankenflucht, Rededrang, Aufdringlichkeit:
|23|Vorstellungsanlass und Umstände, die zur Vorstellung führten,
Beginn und bisheriger Verlauf der Kernsymptomatik, weitere psychische oder somatische Beschwerden,
bisherige Bewältigungsversuche,
bedeutsame Kompetenzen und Ressourcen zur Bewältigung,
Kontext und Auslöser der aktuellen Problematik (z. B. Überforderung, Stresserleben, Fehlinterpretationen etc.),
begleitende Gedanken, Bewertungen, Emotionen,
aufrechterhaltende Faktoren,
verhaltenssteuernde Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsprozesse.
Sektion 4: Exploration begleitender Auffälligkeiten
Erfassen von begleitenden Störungen und Differenzialdiagnostik; das Augenmerk sollte vor allem gelegt werden auf
Sektion 5: Exploration zur Entwicklungsgeschichte des Kindes/Jugendlichen (hauptsächlich Elternexploration)
Schwangerschaft und Geburt.
Bewältigung der Entwicklungsmeilensteine.
Somatische Anamnese.
Vegetative Auffälligkeiten (Schlaf und Appetit).
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