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Die Heuchelei von der Reform

Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt

AutorRainer Balcerowiak
VerlagEdition Berolina
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783958415379
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Arbeitsmarktreform, Rentenreform, Gesundheits- und Pflegereform, Bahnreform, Asylrechtsreform, Mietrechtsreform, Steuerreform ... - seit mehr als zwanzig Jahren haben wir in der Bundesrepublik den Eindruck, eine Reform jage die andere. Die führenden Politiker wollen glauben machen, all jene Umgestaltungen seien dringend notwendig, alternativlos und fortschrittlich, damit Land und Leute unverzagt weiterexistieren können - doch wird für die Mehrzahl der Menschen nichts besser. War eine Reform nicht einmal eine planvolle Veränderung des Bestehenden zum Besseren, ohne grundsätzlich etwas zu ändern? Sowohl mit dem bewusst falschen Benutzen des Begriffs durch aktuelle Politiker, um dem Volk Unangenehmes als zwangsläufig zu verkaufen, als auch mit der Herkunft des Begriffs und seinem Bedeutungswandel seit dem Mittelalter bis zur heutigen Zeit setzt sich der Autor kritisch und polemisch auseinander und zeigt, dass das Gefühl von vielen Menschen, schlecht oder falsch informiert zu sein, auch an der bewussten Umwertung von scheinbar klaren Begriffen liegt. Rainer Balcerowiak liefert eine unverzichtbare Argumentationsstütze für alle, die sich eine eigene Meinung bilden und von der Politik nicht in die Irre führen lassen wollen.

Rainer Balcerowiak, Jahrgang 1955, studierte Popularmusik und arbeitete als Musiker und Musikpädagoge, bevor er 1998 hauptberuflich in den Journalismus wechselte. Nach langjähriger Redakteurstätigkeit bei der jungen Welt arbeitet er seit 2011 freiberuflich und veröffentlicht unter anderem regelmäßig im Neuen Deutschland, der taz sowie dem Magazin Hintergrund und in diversen Weinmedien. Er lebt in Berlin und pflegt nebenbei seinen Blog genuss-ist-notwehr.de. Zuletzt erschien in der edition berolina: Faktencheck Flüchtlingskrise. Was kommt auf Deutschland noch zu? (2015).

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Leseprobe
  1. Die Rente ist sicher? Von wegen …
  2. Es liegt angesichts der neoliberalen Agenda, die als Arbeitsgrundlage des »rot-grünen Reformprojekts« diente, auf der Hand, dass nicht nur die Regeln für den Arbeitsmarkt und die damit zusammenhängenden Sozialgesetze gründlich »modernisiert« wurden. Auch die gesetzliche Rente als Eckpfeiler der Altersversorgung galt es, gründlich zu demontieren beziehungsweise im Rot-Grün-Jargon »zukunftsfest zu gestalten«. Dabei konnte die Schröder-Fischer-Regierung an einige Reformen der Vorgängerregierung unter Helmut Kohl anknüpfen. Ihr blieb es allerdings vorbehalten, die dynamische Absenkung der gesetzlichen Rente und deren Reduzierung auf eine Basisabsicherung nebst massiver Förderung privatwirtschaftlicher Altersvorsorgeprodukte in das System zu implementieren.
  3. Gerade an der Geschichte der deutschen Rentenversicherung lässt sich der Zwittercharakter von Reformpolitik anschaulich demonstrieren. Die »rot-grünen« Rentenreformen stehen exemplarisch für die große, nicht nur sozialpolitische Bruchlinie, die durch das Verschwinden der sozialistischen »Systemkonkurrenz« um 1990 entstand. Die politische Notwendigkeit zur Befriedung von Klassengegensätzen durch die Gewährleistung materieller Teilhabe und sozialer Daseinsvorsorge für die große Mehrheit der Bevölkerung war verschwunden, das Kapital konnte wieder »blankziehen«.
  4. Eigentlich eine gute Idee
  5. Lange Zeit galt das deutsche Modell der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) als beispielhaft. Seinen Ursprung hat es in den 1883 bis 1889 erlassenen Gesetzen zur sozialen Absicherung der Arbeiter. Damit sollte vor allem den erstarkenden Sozialisten im Kaiserreich der Wind aus den Segeln genommen werden. Bereits damals gab es eine anteilige Finanzierung aus Beiträgen der Unternehmen und der Beschäftigten sowie staatliche Zuschüsse für einen »Rententopf«, der nach dem Kapitaldeckungsprinzip funktionierte. Allerdings war dieses System weit davon entfernt, den Lebensstandard im Alter zu sichern. Später sorgten der Erste Weltkrieg, die Hyperinflation und schließlich der Zweite Weltkrieg dafür, dass die Rentenkassen weitgehend zusammenbrachen.
  6. Die Rentenreform von 1957 änderte das System der Rentenversicherung grundlegend: Arbeiter und Angestellte wurden gleichgestellt und die lohnbezogene, dynamische Rente eingeführt. Die Altersrente sollte zum zentralen Einkommensbestandteil im Ruhestand werden und wurde an die Lohnentwicklung gekoppelt. Das Kapitaldeckungsverfahren, welches naturgemäß instabil ist, wurde durch ein Umlageverfahren in Form eines »Generationenvertrages« ersetzt. Das heißt, die erwerbstätigen Beitragszahler finanzieren die Bezüge der Ruheständler, eventuelle Defizite werden durch staatliche Zuschüsse oder auch durch Erhöhungen der Beiträge ausgeglichen. In der Folgezeit entwickelte sich das Rentenniveau trotz einiger Schwankungen stetig nach oben. Die Standard-Nettorente betrug 1980 fast 70 Prozent des durchschnittlichen Netto-Erwerbseinkommens von gesetzlich Versicherten, die Standard-Bruttorente erreichte 1977 ihren Höchststand mit 59,7 Prozent. 1972 wurde für die Nachkriegsgeneration zudem eine Art Untergrenze eingezogen. Die bis dahin erworbenen Rentenanwartschaften von Geringverdienern wurden auf bis zu 75 Prozent der jeweiligen »Eckrente« hochgewertet. Das galt auch für Zeiten der Arbeitslosigkeit. Zudem wurde die Rentenversicherung in diesem Jahr auch für Selbständige und Hausfrauen geöffnet, nebst großzügigen Möglichkeiten zur Nachentrichtung von Beiträgen. Auch Ausbildungszeiten wurden als Rentenanwartschaftszeiten gewertet. Ferner konnten verschiedene Arbeitnehmergruppen Regelungen zu flexiblen Altersgrenzen für den Ruhestand in Anspruch nehmen, ohne gravierende Abschläge bei den Rentenanwartschaften hinnehmen zu müssen. In den folgenden zwanzig Jahren erwies sich das System als relativ stabil. Doch 1992 – wohl kaum zufällig zwei Jahre nach der Wiedervereinigung – begann ein systematischer Prozess der Demontage der GRV als Garant für einen einigermaßen auskömmlichen Lebensabend.
  7. Rentenkassen werden geplündert
  8. Der Coup war gut vorbereitet worden. Die Rentenkassen, die ursprünglich als reiner Generationenfonds von Beitragszahlern und Rentenbeziehern konzipiert waren, wurden gründlich geplündert. Dickster Brocken war dabei die Übernahme der von früheren DDR-Bürgern erworbenen Rentenansprüche, die ja nicht durch entsprechende Einzahlungen in die GRV der Bundesrepublik gedeckt waren. Bei diesem riesigen Posten handelte es sich zweifellos um eine gesamtstaatliche Aufgabe im Zuge des Vereinigungsprozesses, die demnach aus Steuermitteln hätte finanziert werden müssen, stattdessen aber der GRV aufgebürdet wurde. Die daraufhin entstehenden dramatischen Löcher in deren Kasse wurden – ergänzt durch Horrorszenarien über den »demographischen Wandel« – zum Background für die erste von vielen folgenden »Rentenreformen«.
  9. Diese hatte es bereits in sich: Die Rentenanpassungen wurden nicht mehr anhand der Brutto-, sondern der Nettolohnentwicklung vorgenommen und fielen entsprechend niedriger aus, da Nettolöhne aufgrund höherer Abgaben nach Bruttolohnsteigerungen stets geringer wachsen. Die Bundesgarantie für die GRV galt von nun an nicht mehr uneingeschränkt, Finanzierungslücken sollten künftig von den Beitragszahlern aufgebracht werden. Die Altersgrenzen für den Renteneintritt wurden stufenweise angehoben, auf 65 Jahre (bislang 60) für Frauen und für Männer, die bislang nach 40 Versicherungsjahren bereits mit 63 abschlagsfrei in Rente gehen konnten. Die Möglichkeiten zur Höherbewertung der Rentenanwartschaften von Geringverdienern wurden auf maximal zehn Jahre beschränkt (vorher 25 Jahre). Wer früher in Rente ging, musste von nun an pro Jahr 3,6 Prozent Abschlag auf die Rentenhöhe in Kauf nehmen. Gekürzt wurden ferner die Anrechnungszeiten für schulische und universitäre Ausbildungen sowie deren Bewertung.
  10. Neun Jahre später erfolgte dann der offizielle Bruch mit dem seit 1957 gültigen Rentensystem. Die »rot-grüne« Bundesregierung verkündete, dass künftig die Bezüge aus der GRV zur finanziellen Sicherung eines ausreichenden Lebensstandards im Alter nicht mehr ausreichen würden. Zur Schließung dieser »Sicherungslücke« wurde die nach dem damaligen Arbeits- und Sozialminister und vormaligen IG-Metall-Vorsitzenden Walter Riester (SPD) benannte »Riester-Rente« aus der Taufe gehoben. Private Vorsorge in Form von Bank- oder Fondssparplänen, privaten Rentenversicherungen und später auch selbstgenutzten Immobilien wird seitdem mit einem System aus Zulagen und Steuerabschreibungen gefördert. Die Berechnungsverfahren der gesetzlichen Rente wurden erneut modifiziert, was zu einer weiteren drastischen Absenkung führte. Ferner wurde das alte System der gesetzlichen Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten am 1. Januar 2001 durch die neue »Erwerbsminderungsrente« abgelöst. Die Höhe dieser neuen Rente richtet sich nur noch danach, wie viele Stunden der Versicherte trotz gesundheitlicher Einschränkungen täglich noch arbeiten kann: Sind es weniger als drei Stunden pro Tag, bekommt er die volle Erwerbsminderungsrente. Wer in der Lage ist, drei bis sechs Stunden täglich zu arbeiten, erhält die halbe Erwerbsminderungsrente. Die berufliche Qualifikation ist seither bedeutungslos.
  11. In einer Modellrechnung, die 2002 von der »Aktion Demokratische Gemeinschaft« veröffentlicht wurde, stellt sich die Entwicklung wie folgt dar: Ein 1941 geborener Arbeitnehmer mit Abitur und Hochschulausbildung, der mit 55 Jahren arbeitslos wurde und mit 60 in Rente ging, verlor im Vergleich zum 1977 geltenden Rentenrecht rund ein Drittel seiner Altersrente.
  12. Das Reformtempo steigt
  13. 2004 folgte die nächste Reform. Im »Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung« wurde als »Nachhaltigkeitsfaktor« die stufenweise Absenkung des Rentenniveaus auf 43 Prozent des durchschnittlichen Einkommens (bezogen auf den »Eckrentner« mit 45 Versicherungsjahren) festgeschrieben. Anrechnungszeiten für Schul- und Hochschulausbildung wurden komplett gestrichen, die Beitragszahlungen für Erwerbslose drastisch gekürzt. 2007 wurde dann die schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre beschlossen, 2011 folgte unter anderem die komplette Streichung der Rentenbeiträge für Hartz-IV-Bezieher.
  14. Um dem wachsenden Unmut über diese Rentenpolitik ein wenig die Spitze zu nehmen, brachte die Große Koalition 2014 zwei kleine »Reförmchen« auf den Weg: Die abschlagsfreie Rente mit 63 nach 45 Versicherungsjahren und die »Mütterrente« in Höhe von 28,14 Euro im Westen und 25,74 Euro im Osten pro Kind und Monat. Dies, so die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles (SPD), in einer Bundestagsrede kurz vor der Verabschiedung des Rentenpakets der Bundesregierung im Mai 2014, sei ein Beleg dafür, »dass wir die Lebensleistung von Menschen in unserem Land anerkennen«.
  15. Natürlich weiß die Ministerin, dass mit dieser »Rentenreform« lediglich ein paar Wähler aus der Kernklientel der CDU/CSU und der SPD im Reißverschlussverfahren bedient wurden. Wobei die »Mütterrente« vielen Frauen nichts oder kaum etwas bringt, da sie auf die Grundsicherung angerechnet wird. Und natürlich weiß Nahles auch, dass auf Deutschland ungebremst eine dramatische Welle der Alters­armut zurollt, denn die Zahlen liegen längst auf dem Tisch. Am Jahresende 2015 bezogen in Deutschland rund 540.000 Personen ab 65 Jahren Leistungen der Grundsicherung, weil ihre Rentenansprüche und ihr Vermögen nicht ausreichen,...
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