1.
Einleitende Bemerkungen
»Wo sind heute die Pequot? Wo sind die Narragansett, die Mohawk, die Pokanoket, und viele andere einst mächtige Stämme unserer Rasse? Die Habgier und Unterdrückung des weißen Mannes haben sie dahinschwinden lassen wie Schnee an der Sommersonne.«1
Tecumseh, 1811
Die beinahe vollständige Ausrottung der First Peoples gehört zu den zentralen Vorgängen der nordamerikanischen Geschichte. Zusammen mit dem Kollaps der indianischen Kulturen in Mittel- und Südamerika zählt sie zu den großen Menschheitskatastrophen vor dem 20. Jahrhundert.2 Das Ausmaß der Zerstörung lässt sich kaum in Worte fassen und auch durch nackte Zahlen nur andeuten: Während im riesigen Gebiet nördlich des Rio Grande 1492 schätzungsweise fünf bis zehn Millionen Native Americans lebten, waren 1900 bloß noch 237 000 Menschen indianischer Herkunft auf US-amerikanischem Territorium übrig.3 Seit der spanische Konquistador Juan Ponce de León 1513 die Halbinsel Florida entdeckte und dort als erster Europäer seit den Wikingern nordamerikanischen Boden betrat, ging eine unbekannte, niemals mehr exakt ermittelbare Zahl von nordamerikanischen Indianern an Krankheiten, Hunger, Versklavung und staatlicher Vernachlässigung, aber auch in Kriegen, Massakern, Umsiedlungsaktionen, Kopfgeldjagden und an systematischer Kulturzerstörung zugrunde. Bald nach den Erstkontakten mit den Europäern verschwanden schon etliche indianische Völker vom Antlitz der Erde, während die anderen, die den Zusammenprall mit den Newcomern überlebten, teilweise bis in die Gegenwart von den Schockwellen der euroamerikanischen Kolonisierung gezeichnet sind.4
Die in ihrer wahren Dimension bis heute unverstandene Katastrophe wirft beunruhigende Fragen an das »normative Projekt des Westens« (Heinrich August Winkler) auf; sie stellt die noch immer weitverbreitete Ansicht in Frage, die euroamerikanische Inbesitznahme des Kontinents sei für alle dort lebenden Menschen gleichermaßen eine Fortschrittsverheißung gewesen.5 Heute wird immer deutlicher, dass die ebenso rasante wie radikale Umgestaltung der Welt nach 1780 mit der Verdrängung, Unterwerfung und Dezimierung der indigenen Völker einherging. Jedenfalls lösten der Siegeszug der Moderne und die immer stärkere wirtschaftliche Integration der Welt Verdrängungsprozesse von beispielloser Dynamik aus. Im langen 19. Jahrhundert verringerten diese die einstige Vielfalt menschlicher Kulturen und bewirkten einen »Beinahetod des Ureinwohners« (Christopher Bayly). Durch das Abholzen der Wälder, den Abbau von Rohstoffen und das Umpflügen von früheren Graslandschaften veränderten sie überdies die Ökosysteme der außereuropäischen Räume tiefgreifend.6 Die »globale Offensive gegen tribale Lebensformen«7 lässt sich an der Zerstörung des indianischen Nordamerikas aufzeigen. Dafür ist jedoch eine andere Perspektive auf die Geschichte der USA notwendig als die, welche dies- und jenseits des Atlantiks lange Zeit vorherrschte und unser Bild teilweise bis heute prägt.
Bis in die 1960er Jahre hinein schrieben die allermeisten Historiker die US-Geschichte so, als hätten die First Peoples nie existiert, oder sie verkleinerten ihre historische Bedeutung derart, dass sie in ihren Darstellungen bestenfalls als Statisten erschienen.8 Freilich war die Unsichtbarkeit der Native Americans in den Geschichtsdarstellungen das »Nebenprodukt ihrer militärischen Niederlage und ökonomischen Enteignung«9. Im dominierenden Narrativ wurde die nationale Geschichte der USA als einzigartige Erfolgs- und Fortschrittsgeschichte geschrieben, in der das aufklärerische Freiheitsprinzip frühe Triumphe gefeiert habe und englischstämmige Pioniere die »Wildnis« durch ihrer Hände Arbeit in einen blühenden Garten verwandelt hätten.10 Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts behauptete der Historiker George Bancroft, dass der Kontinent, bevor die Euroamerikaner ihn in Besitz nahmen, eine einzige »unproduktive Wüste« gewesen sei, lediglich von ein paar »versprengten Stämmen von kraftlosen Barbaren« bewohnt, welche weder Handel gekannt noch ein bedeutendes Bauwerk errichtet hätten.11
Ohne Respekt für die indigenen Vorbesitzer des Kontinents argumentierte auch Frederick Jackson Turner, als er 1893 anlässlich der Weltausstellung von Chicago zum ersten Mal seine Frontier-These vortrug. Wie viele Historiker nach ihm sah Turner die bisherige Geschichte der USA entscheidend durch die dauernde Westexpansion geprägt. »Die Existenz eines Areals freien Landes, sein kontinuierlicher Rückgang, und das Vordringen der amerikanischen Siedlungen westwärts, erklärt die amerikanische Entwicklung«12, lautete die Schlüsselaussage in seinem berühmten Vortrag. An der Frontier hätten »Pioniersiedler« die typisch amerikanischen Eigenschaften (wie Individualismus, Egalitarismus, Freiheitsliebe) ausgebildet und eine frühe Nachbarschaftsdemokratie erprobt, die als Labor des gesamten politischen Systems verstanden werden müsse. Und mehr noch: Im Grenzland seien die Siedler erst zu Amerikanern geworden und hier und nirgendwo sonst liege der Ursprung wichtiger nationaler Traditionen. In der Frontier-These blieben die First Peoples und ihre »primitiven Gesellschaften« gesichtslos und waren überhaupt nur als Kontrast zu »Zivilisation« und »Fortschritt« von Interesse. Tatsächlich sah Turner in ihnen nie mehr als einen Teil einer ungebändigten »Wildnis«; sie hätten eine »allgemeine Gefahr« für die Frontiersiedlungen dargestellt und eine »gemeinsame Aktion« verlangt. Auf diese Weise sei die Frontier auch zu einer »militärischen Trainingsschule« für die junge Nation geworden.13
Mit einem Wort: Amerikanische Geschichte handelte bis um 1970 vorzugsweise davon, wie aus Untertanen Seiner Majestät, des Königs von England, mit Gottes Hilfe tatendurstige »Pionierfarmer« wurden, die wagemutig in die Weiten des Westens vordrangen, diesen besiedelten und dem Land durch ihrer Hände Arbeit zu beispiellosem Wohlstand verhalfen. Der Untergang der indianischen »Steinzeitkulturen« erschien in dieser Meistererzählung als ein letztlich unvermeidbares, ja als notwendiges Kapitel in der Geschichte Nordamerikas.14 Denn diese seien einer Nutzbarmachung der riesigen Landmasse bloß im Wege gestanden.
Allzu lange sahen die meisten Amerikaner über die düsteren Seiten ihres durch kontinuierliche Westexpansion entstandenen Nationalstaats hinweg. »Die Erzählung von der wundersamen Gründung der USA«, hat Manfred Henningsen unlängst festgestellt, kam ganz ohne »Hinweise auf die Ökonomie der Gewalt« aus, die nicht aus der neueren Geschichte Amerikas wegzudenken ist.15 Sie blendete aus, dass die Geschichte der US-Indianerpolitik eine hässliche Angelegenheit war, »markiert durch Tod, zwangsweise Umsiedlung, rassistische Bigotterie und kulturellen Genozid«16. Denn von Beginn an vollzog sich das amerikanische Empire Building keineswegs in einem menschenleeren Land. Das amerikanische Landimperium verdankte sich vielmehr einer erfolgreichen Invasion und war das Ergebnis einer Wiederbesiedlung des Kontinents.17 Neuere Untersuchungen gelangen zu der bitteren Erkenntnis, dass die US-Gesellschaft auf den Gräbern von Hunderttausenden von Indianerinnen und Indianern errichtet wurde.
Als 1763 der Siebenjährige Krieg zu Ende ging, war Nordamerika noch weitgehend indianisches Land.18 Von den Küstenkolonien am Atlantik, den Landstrichen entlang des Sankt Lorenz-Stroms und einer Handvoll kleiner Siedlungen an den Großen Seen sowie am Golf von Mexiko abgesehen, war die euroamerikanische Präsenz auf der riesigen Landmasse zwischen Appalachen und Pazifik überschaubar. Unzählige indianische Gesellschaften teilten sich in den Besitz des weiträumigen Kontinents und nutzten den amerikanischen Westen für ihr Überleben, trotz des an seinen Rändern schon spürbaren Siedlungsdrucks. Viele Indianer hatten bislang nie einen »weißen Mann« zu Gesicht bekommen.19 Kaum 150 Jahre später hatte sich das Bild vollends gewandelt. Der Vorabend des Ersten Weltkriegs fiel mit dem absoluten Tiefpunkt der indianischen Geschichte in Nordamerika zusammen. Militärisch in die Knie gezwungen und in Reservate gepfercht, enteignet und einer forcierten Kampagne der Zwangsassimilation ausgesetzt, schien es nur...