Einführung
Die Gesandtschaft in Berlin war während des Dritten Reiches der schwierigste Posten, den die Schweiz je zu vergeben hatte. Natürlich stellt man sich, wenn man später an solch einem Ort arbeitet, die Frage, wie man selbst die Herausforderung damals bestanden hätte. Wie weit hätte man der eigenen Regierung geraten, sich den neuen Umständen anzupassen, wie weit wäre man für entschiedenen Widerstand eingetreten? Anpassung oder Widerstand – oder: zwischen Anpassung und Widerstand – dieses Thema lag in Berlin nach dem Fall der Mauer ohnehin in der Luft – nicht nur wegen dem Dritten Reich, sondern auch wegen der Deutschen Demokratischen Republik, wegen den heftigen Debatten um die DDR-Vergangenheitsbewältigung. Manfred Stolpe etwa, der ehemalige populäre Ministerpräsident des Landes Brandenburg, stand fast täglich in den Schlagzeilen wegen seiner Rolle, die er als Anwalt innerhalb der evangelischen Kirche in der DDR gespielt hatte. Viele Bürgerrechtler missbilligten seine Stasi-Mitarbeit. Hatte er Bürger, die sich ihm anvertrauten, verraten, oder hatte er unter den obwaltenden Umständen das Beste gemacht? Die Frage ist bis heute umstritten. Die Fragezeichen zu seiner Vergangenheit hatten ihn allerdings nicht daran gehindert, Bundesminister zu werden.
«Wie hätte ich damals gehandelt?»– das ist eine hypothetische Frage, und auf solche Fragen gibt es keine zuverlässigen Antworten. Im Nachhinein kann man sich mühelos ausmalen, wie man es besser gemacht hätte. Doch sich mit dem Wissen des Nachgeborenen bei jenen einzureihen, die recht bekommen haben, ist billig. Denn man muss den Beweis für die eigene Urteilsfähigkeit nicht antreten. Um Erkenntnisse zu gewinnen, ist es deshalb unumgänglich, die Geschichte zu studieren und daraus zu lernen. Dabei sollte man sich eher den Schattenseiten zuwenden als den Sonnenseiten. Denn man lernt bekanntlich am meisten aus Fehlern.
Geschichte ist verwirklichte Politik, etwas Abgeschlossenes. Sie enthält das, was sich aus unzähligen Möglichkeiten in der Zeit realisiert hat. Alle anderen Varianten, die einst bestanden, sich aber nicht durchsetzten, kann man vergessen. Politik jedoch ist nie fertig. Sie gärt ständig, ist von den Impulsen der Zeit getrieben, bringt das Zeitbedingte zum Ausdruck. Wer ohne feste Grundsätze politisiert, wird von Strömungen mitgerissen, hat keinen Boden unter den Füssen. Deshalb braucht gute Politik ein ethisches Fundament, eine Verankerung in Werten. Doch das ist leichter gesagt als getan. Warum?
Die Ethik enthält Grundsätze vom richtigen Leben. Diese mögen in sich stimmig sein und theoretisch überzeugen. Aber sie lassen sich im öffentlichen Leben nie voll verwirklichen, weil es nicht nur eine Ethik, sondern verschiedene Ethiken gibt. Und diese widersprechen sich oft. Was für den einen gut ist, mag für den anderen schlecht sein und umgekehrt. Folglich entscheiden wechselnde Mehrheiten, was umgesetzt wird. Wer mit dem Kopf durch die Wand rennt, bezeugt vielleicht heldenhaft seine Gesinnung, aber er wird an der Realität scheitern. Im Alltagsleben prallen immer verschiedene Überzeugungen aufeinander. Zwischen ihnen muss man aus einem Gefühl der Verantwortung heraus einen Kompromiss finden. Das ist die Aufgabe der Politik. Jeder nimmt sich etwas zurück, um wenigstens einen Teil dessen zu verwirklichen, was er für richtig hält. Man kann die ethischen Ziele nie ganz erreichen, man kann sich ihnen nur annähern, mal auf diesem, mal auf jenem Weg oder Umweg. Ein Politiker muss das langfristig Richtige anstreben und sich mit dem vorläufig Machbaren begnügen. «Sieh auf zu den Sternen, gib acht auf die Gasse!», empfiehlt ein Sprichwort.
Im Inneren eines demokratischen Staates spielt sich die Politik zwischen verschiedenen Parteien ab, ausserhalb der Grenzen zwischen verschiedenen Staaten. In beiden Fällen geht es um Macht oder, wie man heute lieber sagt, um Interessen. Aussenpolitik ist Interessenpolitik. Jeder Staat versucht seine Interessen im Verhältnis zu anderen Staaten möglichst weitgehend durchzusetzen. Doch die Spielregeln sind anders als in der Innenpolitik. Im innerstaatlichen Bereich gibt es in Konfliktfällen Instanzen, die ein Machtwort sprechen können und auch befugt sind, dieses durchzusetzen. In der Aussenpolitik fehlen diese weitgehend. Gewiss gibt es im zwischenstaatlichen Bereich auch ernsthafte Anstrengungen, die Verrechtlichung voranzutreiben und die internationalen Beziehungen einer reglementierten Ordnung zuzuführen. Aber die internationale Politik ist bis heute eine ständige Auseinandersetzung zwischen dem Streben nach Ordnung und dem Rückfall in anarchische Zustände.
In diesen lose geregelten Sphären betreiben die Staaten seit alters ihre Aussenpolitik, und zwar mit drei Mitteln: mit Waffen, Geld und Worten. Im Extremfall greifen sie zu den Waffen und führen Krieg. Im Normalfall begnügen sie sich mit dem Wort und betreiben Diplomatie. Und irgendwo dazwischen verwenden sie auch Geld, um mit wirtschaftlichem Druck ihre Interessen durchzusetzen. Dem Diplomaten steht, von Verirrungen abgesehen, nichts anderes als das Wort zur Verfügung. Die Mittel, um die Interessen in der Aussenpolitik zu verfechten, sind also verschieden von der Innenpolitik; im Inneren verfügt man über rechtlich abgesicherte Sanktionsmechanismen, in der Aussenpolitik dagegen nur selten. Das Vorgehen ist jedoch das gleiche. Auch in der Aussenpolitik muss man Kompromisse schliessen. Ein Staat darf seine nationalen Interessen nicht mit der Verbissenheit eines Dogmatikers verfechten. Vielmehr muss er auf die Argumente der Gegenseite eingehen und allenfalls, wenn er etwas erreichen will, seine eigenen Forderungen mässigen.
Den richtigen Kompromiss zu finden, ist generell eine heikle Aufgabe. Sie kann aber schier unlösbar werden, wenn man es mit totalitären Staaten zu tun hat. Konkret geht es dann um Anpassung und Widerstand, im Extremfall gar um Knechtschaft und Untergang. Wie weit darf sich ein freies Land einem totalitären Staat anpassen, ohne sich selbst aufzugeben? Wie weit soll es, ohne sich ins Verderben zu stürzen, Widerstand leisten? Für die Schweiz stellten sich diese Fragen nie dramatischer als während des Zweiten Weltkriegs. In jenen Jahren lastete eine ungeheure Verantwortung auf dem General, dem Bundesrat und einigen Diplomaten. Ein falscher Entscheid, ja bloss ein falsches Wort oder eine dumme Geste hätte verheerende Reaktionen auslösen können.
Niemand bekam dies mehr zu spüren als der Schweizer Gesandte in Berlin, der Hans Frölicher hiess. Ihm hatte der Bundesrat eine überaus schwierige Mission anvertraut. Während sich die Schweiz militärisch mit grosser Entschlossenheit zum Widerstand rüstete, bestand seine Aufgabe darin, mit dem nationalsozialistischen Deutschland nicht nur korrekte, sondern, wenn möglich, freundschaftliche Beziehungen zu pflegen. Er musste auf dem Berliner Aussenposten notgedrungen eine Rolle spielen, in der die Gesten der Anpassung dominierten. So wollte es der Bundesrat. Gerade weil man ihm einen geschmeidigen Umgang mit den Nazigrössen und der Berliner Gesellschaft zutraute, hatte ihn seine Regierung auf diesen delikaten Posten geschickt. Sein Vorgänger, Paul Dinichert, ein erklärter Gegner der Nazis, wurde dagegen auf starken Druck aus dem Gastland, aber auch auf Druck von verschiedenen Kreisen in der Heimat, abgezogen. Ihm seien, so beschwerten sich Politiker, Schweizer Presseorgane und Wirtschaftsführer, in Berlin alle Türen verschlossen und somit nütze er der Schweiz nichts. Dinichert war unter anderem deshalb gescheitert, weil er zu wenig Diplomat war. Frölicher hatte also, als er in der Reichshauptstadt antrat, ein Beispiel vor Augen, wie man es nicht machen sollte.
Doch damit ist noch nichts darüber gesagt, wie er es machen sollte. Ein Diplomat ist in einem feindlich gesinnten Staat in einer fast aussichtslosen Lage. Seine Regierung entsendet ihn, um freundliche oder mindestens korrekte Beziehungen mit seinem Gastland zu unterhalten. Dazu ist er jedoch nur fähig, wenn er einen guten Zugang zu den wichtigsten Entscheidungsträgern hat. Doch gelingt ihm dies, wecken gerade seine guten Beziehungen häufig Misstrauen in seinem Herkunftsland. Viele Diplomaten scheitern in politisch schwierigen Ländern. Sie werden Opfer des inneren Widerspruchs ihres Berufs: Je mehr sie ihren Auftrag zu erfüllen suchen, desto mehr werden sie verdächtigt, von der Gegenseite eingenommen zu sein, je mehr sie aber der Gegenseite opponieren, desto mehr werden sie bezichtigt, mit dem Partner nicht umgehen zu können. Dinichert und Frölicher waren in diesem Dilemma verstrickt. Dinichert warf man vor, zu stark opponiert zu haben, Frölicher dagegen, den Deutschen zu viel nachgegeben zu haben.
Aber nicht nur ihnen erging es so. Kleinere Narben trugen alle Schweizer Diplomaten davon, die im Zweiten Weltkrieg auf problematischen Posten stationiert waren. Paul Ruegger, der Missionschef in Rom, erlitt das gleiche Schicksal wie Dinichert. Er wurde 1942 vom Bundesrat auf Verlangen der italienischen Regierung abberufen und durch einen Gefügigeren ersetzt. Den Minister in Vichy, den tatkräftigen Walter Stucki, ereilte dagegen der Bann zu grosser Anpassung – zwar nicht von seiner eigenen Regierung, jedoch vom Gaststaat. Er wäre nach dem Krieg gern Gesandter in Paris geworden. Aber de Gaulle war nicht gewillt, das Agrément zu erteilen. Frankreich warf Stucki vor, zu stark mit Pétain und dessen Umkreis liiert gewesen zu sein. Auch Carl J. Burckhardt gehört in diese Kategorie. Als sich der Bundesrat 1944 bei der britischen Regierung erkundigte, ob der ehemalige Völkerbundskommissar als Schweizer Gesandter in London genehm wäre, erhielt er eine Absage. Burckhardt habe in Danzig wie auch als Repräsentant des Roten Kreuzes einen zu...