DIE BERNERINNEN AUF DER ZIELGERADEN
Zum Beispiel der Berner Stimmrechtsverein: Schulung für Demokratie und ein neues Frauenbild. Redeschulung und Agitationshilfe für den Stimmrechtskampf
Die Frauenstimmrechtsfrage war mit der Niederlage von 1959 auf nationaler Ebene wieder auf die kantonalen Parkette zurückgeschoben worden. In Bern übernahm Marthe Gosteli im Februar 1964 das Präsidium des Stimmrechtsvereins, der als Lokalgruppe des Schweizerischen Verbands für Frauenstimmrecht unter dem Dach des BSF arbeitete. Sie war 1949, eine familiäre Tradition fortsetzend, den Stimmrechtlerinnen beigetreten, und sass 1952 bis 1956 gar im Vorstand. Unter den organisierten Bernerinnen ging es familiär zu und her. «Wir waren damals ein befreundeter Kreis», erinnert sich Gosteli, und so rutschte sie auf Betreiben der Gewerkschafterin Hedi Schaller und der damaligen Präsidentin Gonzenbach im Frühjahr 1963 wieder in den Vorstand hinein. Zum Posten ganz an der Spitze des Berner Stimmrechtsvereins hatte sie Helene Thalmann-Antenen ermutigt: «Ich war ja ein Nobody, ein graues Mäuschen unter all den Akademikerinnen. Wenn mich Dr. iur. Helene Thalmann-Antenen, die grosse Kämpferin, nicht geschupft hätte, hätte ich mich nicht getraut, Präsidentin zu werden.» Beruhigend wirkte, dass sich Marthe Gosteli auf eine «Bombensekretärin» im Frauenstimmrechtsverein verlassen konnte, nämlich auf Verena Koebel-Spreuermann. Koebel gehörte zu den Frauen, die als Frau nicht studieren und nach der Ehe nicht arbeiten durften. Die Niederlage der Frauen von 1959 hatte Verena Koebel frustriert, und sie hatte diese «Sauerei» lauthals verwünscht. Umgehend wurde sie wegen des ungehörigen Ausdrucks von einer Frauenrechtlerin zurechtgewiesen, aber auch aufgefordert, in den Berner Stimmrechtsverein einzutreten. Hier wurde Koebel bald Vorstandsmitglied, unentbehrliche Sekretärin und Protokollantin, die einen grossen Teil der zeitlichen Vereinslast übernahm.137 Koebel begreift heute die Vereinsarbeit auch als persönliche Weiterbildung und einen wichtigen Teil ihrer Entwicklung.
Das Amt an der Spitze der Berner Stimmrechtlerinnen brachte weitere Ämter mit sich: 1966 nahm Gosteli Einsitz in der BSF-Studienkommission, 1967 wurde sie Mitglied im BSF-Vorstand und im BSF-Arbeitsausschuss. Ab 1968 war sie Vizepräsidentin des Dachverbands.138 Zudem vertrat sie die Bernerinnen im Zentralvorstand des Schweizerischen Verbands für Frauenstimmrecht.139
Abb. 34: Im Berner Bund vom 5./6. Februar 1966 wurde Marthe Gosteli als Präsidentin des Frauenstimmrechtsvereins Bern folgendermassen vorgestellt: «Gegenüber nahm eine anmutige Frau in maisfarbenem Deux-pièces klassisch-eleganten Zuschnitts Platz. Ohne Schmuck – abgesehen von sanft gewelltem Haar und einem Paar hellbrauner, kluger Augen, von denen natürliche Autorität, wissende Menschlichkeit und besonnene Fraulichkeit ausgeht. Eine Frau – nicht eine Aktivistin […] Dabei ist sie die führende Berner ‹Frauenstimmrechtlerin›.»
Als die Berner Zeitung Der Bund die «führende Berner Frauenstimmrechtlerin» Marthe Gosteli porträtierte, gab sich der Interviewer erstaunt, dass sie kein Mannweib war, «weder eine Suffragette der Jahrhundertwende, noch das Muster der komischen zeitgenössischen Modernistinnen». Von der anmutigen Frau in maisfarbenem Deux-pièces klassisch-eleganten Zuschnitts vernahm er das schlichte Bekenntnis: «In einem demokratischen Staatswesen vermöchte ich es nicht, anderen ein Recht abzusprechen, das ich für mich selber in Anspruch nähme.» Marthe Gosteli pochte auf Partnerschaft und Gleichberechtigung. Zudem postulierte sie ein neues Frauenbild. «Eine grundlegende Wandlung des ‹Images› der Frau und der Frauenwürde» sei fällig, weg von den einprägsamen Schlagworten von der «Haushälterin ohne Lohn», der «Mutter meiner Kinder», des «zum Dienen geborenen Weibes» oder der «problemlosen Modepuppe». Sie benannte auch, aus eigenen Erfahrungen schöpfend, die «verletzende Unfairness den Frauen gegenüber». Marthe Gosteli erinnerte etwa an die herablassenden, mitleidig überlegen wirkenden Helden, wenn eine alleinstehende Frau vor ihrem Schalter ihre Interessen verfechte.140
Das neue Frauenbild war auch Thema im Stimmrechtsverein. Das vom Mann geprägte Frauenideal wurde an einer Veranstaltung in September 1965 kritisch hinterfragt, und es wurde bang die Frage gestellt: «Sollte sich die Frau nicht aus sich selber heraus verstehen – als vom Manne unableitbares Wesen?» Kunigund Feldges-Oeri, eine der ersten Schweizer Theologinnen und im Evangelischen Frauenbund, in der Landfrauenbewegung sowie in der Europäischen Frauenunion engagiert, gab einen Überblick über die Leitbilder der Frau in Geschichte und Christentum. Danach erörterten in einer Podiumsdiskussion drei Männer und drei Frauen das Frauenbild von heute und morgen. Beteiligt waren die ledige FHD-Chefin Andrée Weitzel, die als «Dienstchef seiner Gedanken» eine Beziehung mit Peter von Roten gelebt hatte, die verheiratete Germanistin und Mutter Gertrud Wilker, zukünftige mehrfache Buchpreisträgerin, sowie die geschiedene Laure Wyss, Zeitungs- und Fernsehjournalistin, Pressechefin der SAFFA 1958 und eine alleinerziehende Mutter, die von ihrem verheirateten, nationalrätlichen Geliebten fallen gelassen wurde.141 Alle drei lebten kein traditionelles Schweizer Frauenleben. Ein neues Frauenbild habe das alte Leitbild zu ersetzen, fasste Gerda Stocker-Meyer die Meinungen der Tafelrunde im Bund zusammen: «Die technisch-industrielle Entwicklung und die heutige Situation auf dem Arbeitsmarkt haben die Frau immer stärker im Berufsleben Fuss fassen lassen, und jenes alte Leitbild berücksichtigt auch die grosse Gruppe der alleinstehenden Frauen in keiner Weise.» Und Frieda Amstutz schrieb im Schweizer Frauenblatt, dass das gestrige Ideal mit der heutigen «selbständig handelnden, eigenverantwortlichen Frau» nicht mehr übereinstimme und neue Massstäbe gesetzt werden müssten, an denen sich die Frau messen könne.142 Die selbstständige Frau sei dem Manne ebenbürtig. Helene Stucki hielt es an der Zeit, «sich den Erkenntnissen des modernen Denkens anzupassen, das wohl die Verschiedenheit der weiblichen Natur von der des Mannes bezeugt, in keiner Weise aber irgendeinen Anhaltspunkt für ihre Minderwertigkeit gibt».143 Die eigenverantwortliche Frau war aus dem Familienverbund entlassen und hatte nichts mehr zu tun mit der ganz in der Grossfamilie eingewobenen Frau. In der grossen Masse der verheirateten Frauen war dieses untraditionelle Bild allerdings schwerlich schon angekommen.
Nebst Veranstaltungen zum neuen Frauenbild boten die Bernischen Stimmrechtlerinnen in Gostelis Präsidialzeit, wie viele andere Frauenvereine auch, Einübungen in die Welt des Stimmrechts an. Und zwar auf verschiedenen Ebenen. Zum einen wurden die Frauen staatsbürgerlich geschult, zum anderen propagandistisch auf ihre Aufgaben vorbereitet. Das Heranbilden von Demokraten und Demokratinnen, das heute in Schule und Gesellschaft «ds Loch ab» gehe, ist Marthe Gosteli ein zentrales Anliegen. Sie wiederholt denn auch mehrmals, auf diese politische Schulungsaufgabe sei ein besonderes Augenmerk zu richten. «Obwohl die Frauen nicht aktiv am politischen Leben teilnehmen durften, hat der Frauenstimmrechtsverein Bern schon immer Vortragszyklen, monatliche Informationsabende, Schulungs- und Kaderkurse organisiert. Wir hatten prominente Redner und Rednerinnen. Der Saal im Berner Bürgerhaus war jeweils bumsvoll, der Zulauf in den Gemeinden draussen gross.» Marthe Gosteli vergisst nicht, darauf hinzuweisen, dass ihre Vorgängerin zwischen 1957 und 1964 rund 50 Winterkurse im Emmental, Oberaargau, Oberland und Seeland, in Schwarzenburg, Burgdorf und Biel durchgeführt hatte. Mit der staatsbürgerlichen Bildung sollte wettgemacht werden, was die politisch engagierten Männer in ihren Parteiveranstaltungen, in Kommissionen und in ihrer Legislativarbeit an politischem Wissen und Können mitbekamen. Frauen sollten dem männlichen Vorwurf, dass sie nichts von Politik verstünden und deshalb kein Stimmrecht bräuchten, entgegentreten können. Die so geschulten Frauen dürften schliesslich politisch weit mehr begriffen haben als ein durchschnittlicher Mann, der zur Urne schreiten konnte.144
Um die Frauen nicht nur inhaltlich, sondern auch formal für ihre politische Arbeit fit zu machen, wurde grosser Wert auf die Redeschulung gelegt. Selbst eine später so selbstsicher auftretende Marie Boehlen nämlich gestand, anfänglich scheu und voller Schrecken gewesen und manchmal gar in Tränen ausgebrochen zu sein, wenn es ums Reden ging; selbst vor bescheidenen Auftritten habe sie innerlich vor Angst und Spannung gezittert. Die Frauen, nicht gewohnt, in der Öffentlichkeit das Wort zu ergreifen, sollten ihre Ohnmacht- und Angstgefühle verlieren. Um sie von der passiven Zuhörerin zur aktiven Teilnehmerin zu trimmen, verpflichtete Gosteli etwa den Radiomann Friedrich Salzmann und die linke, auch mit der Landwirtschaft vertraute Gewerkschafterin und Frauenbildnerin Mascha Oettli zu einem Kaderkurs. Debatten, Reden, Interviews, Radiogespräche – alles wurde supponiert, praktische Kniffs und Tipps den mehrheitlich begeisterten Teilnehmerinnen weitergegeben.
Der Horizonterweiterung dienten ausländische Kontakte. Unvergessen ist bei Marthe Gosteli der Besuch in Darmstadt vom April 1963 und der Gegenbesuch der Darmstädterinnen im Mai 1964.145 Während die Schweizerinnen das fehlende Frauenstimmrecht erklären mussten, berichteten die deutschen Frauen über ihr schweres Los und die ungeheure Arbeit, die sie neben dem Wiederaufbau der Städte zu...