Wolf Linder
[2]
Der Stadt-Land-Konflikt im Wandel der Zeit
[2.1]
1848–1947: die ersten 100 Jahre Bundesstaat
[2.1.1]
Politische Stärkeverhältnisse: vom Vorrang der Städte zum Vorrang des Landes
Unsere nationale Geschichte stelle im Grunde das Schicksal eines Bauerntums und Bauernvolkes dar, das sich immer wieder gegen die «politischen, wirtschaftlichen und geistigen Hauptstädte» hätte wehren müssen. Diese Aussage des Basler Historikers Emil Dürr aus dem Jahre 1934 belegt die Bedeutung und historische Dimension des Stadt-Land-Konflikts. In der Tat hat der Interessengegensatz von ländlicher und städtischer Gesellschaft schon in vorindustriellen Zeiten eine besondere Rolle gespielt. In der alten Eidgenossenschaft war das Stärkeverhältnis zwischen ländlichen Orten und Städten ähnlich umstritten wie die Vorherrschaft zwischen katholischen und protestantischen Ständen. Man kann die These vertreten, dabei hätten die ländlichen Orte nicht nur im Bauernkrieg des 17. Jahrhunderts die schlechteren Karten in der Hand gehabt als die Städte. Auch die Untertanengebiete, mit denen die 13-örtige Eidgenossenschaft ihr Herrschaftsgebiet ausdehnte, waren durchwegs ländlicher Natur, während Städte wie St. Gallen als gleichgestellte Vertragspartner angesehen wurden. Die Französische Revolution beseitigte 1798 solche Untertanenverhältnisse und sorgte für die Gleichberechtigung aller Territorien in der politischen Gestalt der Kantone. Die Restauration von 1815 drehte das Rad der Geschichte allerdings ein Stück weit zurück, so im Kanton Basel, wo sich die Stadt mit einem Bevölkerungsanteil von 40 Prozent 60 Prozent der Sitze im Parlament verschaffte. Die Weigerung der Stadt, ihre Vorrechte abzugeben, führte nach etlichen Wirren zur Sezession der Landschaft, und die eidgenössische Tagsatzung anerkannte 1832 die Teilung des Kantons (Opitz, 2000). In der Regenerationszeit gehörte das Landvolk auch anderswo zu den demokratisch fortschrittlichen Kräften. Es waren die «wirtschaftlich schwachen, katholischen Gebiete der Kantone St. Gallen, Luzern und Baselland», die sich am stärksten für die Einführung eines Gesetzesreferendums stark machten, und zwar als Gegenbewegung gegen die «an die Macht gelangten Fortschritts-Liberalen», die dem Repräsentativ-System anhingen (Kölz, 1992, S. 310). Einen deutlichen Erfolg hatte dieses «konservative» Landvolk im Kanton Luzern, wo es in der Verfassung von 1841 eine starke Gemeindeautonomie, Volksinitiative und Referendum sowie die Volkswahl aller Behörden und Beamten erstritt (Roca, 2012).
Mit der Gründung des Bundesstaats von 1848 nun bekamen ländlich geprägte Gebiete zwar kein wirtschaftliches, aber ein politisches Übergewicht: Die föderalistische Ordnung gab den Kantonen gleiche Stimme und legte fest, dass jede Entscheidung des Parlaments nicht nur die demokratische Mehrheit im Nationalrat, sondern auch die Mehrheit der Kantone in der Ständekammer erlangen muss. Weiter bestimmte die föderalistische Grundordnung, dass jede neue Aufgabe des Bundes in der Volksabstimmung die Mehrheit von Volk und Ständen erreichen muss. Bis heute verschaffen diese Regeln den vornehmlich kleinen Landkantonen Vorteile gegenüber den grossen Kantonen und ihren bevölkerungsreichen Städten. Theoretisch kann ein Zehntel der Stimmberechtigten aus den 13 kleinsten, vornehmlich ländlichen Kantonen jede Verfassungsänderung blockieren. Diese Vetoposition wirkt sich auf ähnliche Weise im Ständerat auf die Gesetzgebung aus und hat die Entwicklung des Bundesstaates nachhaltig im Sinne ländlicher Interessen beeinflusst.
[2.1.2]
Wirtschaftliche und soziokulturelle Dimensionen des Stadt-Land-Konflikts
Der Stadt-Land-Konflikt hat sowohl eine wirtschaftliche wie eine soziokulturelle Dimension. Zunächst zur Ökonomie, zu einem einfachen Interessengegensatz: Städter als zumeist lohnabhängige Konsumenten wollen billiges Brot, Bauern teures. Denn Letztere sind auf Preise angewiesen, die ihnen ein existenzsicherndes Einkommen ermöglichen. Da die Bauern in der Schweiz mit vergleichsweise ungünstigen Produktionsbedingungen zu kämpfen haben, wurde die Landwirtschaft seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vor allem durch Zölle auf ausländischen Erzeugnissen und die Verbilligung einheimischer Produkte geschützt. Der Agrarprotektionismus war zeitweise heftig umstritten, doch führten die Kriegszeiten den Städtern die Notwendigkeit der nationalen Selbstversorgung drastisch vor Augen. Die hohe Wertschätzung der Bauern nach Kriegszeiten ermöglichte einen breiten politischen Konsens für den Schutz der Landwirtschaft, auch wenn die Zahl der Landwirte kontinuierlich zurückging. Anders war die Interessenlage der Städter: Das städtische Bürgertum war der Zahler des Agrarschutzes, und die Arbeiter industrieller Zentren wollten nicht nur billige Lebensmittel, sondern besseren Schutz der Lohnarbeit, anständige Arbeitsbedingungen und soziale Leistungen für Arbeitslose und -unfähige. Diesen Forderungen war die Bauernschaft zwar nicht generell feindlich gesinnt, aber sie opponierte und verzögerte die Entwicklung des Sozialstaats.
Gesellschaftlich-ideologisch sahen sich Landbevölkerung und Bauernschaft lange als die staatstragende Schicht der Alpenrepublik: Sie waren es, die für Heimatverbundenheit, Bewahrung der schweizerischen Eigenheiten sowie für politische Stabilität sorgten und die Tugenden und Traditionen der Kleingesellschaft verkörperten. «Der Bauer hat im Schweizervolk das Erstgeburtsrecht. Ein industrieller Exportstaat ohne Rückhalt im Bauernstand bedeutet Abhängigkeit vom Ausland in der Ernährung, im Absatz, aber auch das Übergewicht der industriellen Arbeiterschaft, die Radikalisierung der Politik, die Degeneration des Volkes und schliesslich den Zerfall der Nation», so die Sicht des Bauernführers Ernst Laur in den 1930er-Jahren (zit. nach Neidhart, 1970, S. 236). Von einer solchen Gesellschafts- und Heimatideologie, die von breiten Kreisen mitgetragen wurde,129 sind wir heute weit entfernt. Auch in ländlichen Gebieten sind Bauern eine kleine Minderheit, während der grösste Teil sein Auskommen im gewerblich-industriellen Bereich und vielerorts im Tourismus findet. Dennoch haben sich starke soziokulturelle Unterschiede zwischen Stadt und Land erhalten. Gegenüber der städtischen verfügt die ländliche Bevölkerung über geringere formelle Bildung und geringere Einkommen. Sie ist konservativer, sei es in der Wertschätzung und Pflege gesellschaftlicher Traditionen, in ihren sozialen Bindungen oder in ihren politischen Werthaltungen. Darüber hinaus hat das Bauerntum Spuren hinterlassen, die in der heutigen politischen Kultur schweizerischer Gesellschaft weiterhin wirksam sind. Zu dieser gehören die Vorliebe für dezentrale Selbstbestimmung und für Kollegialbehörden mit geringer Macht des Einzelnen, die Skepsis gegenüber Elitismus und professioneller Bürokratie, eine vorsichtige Haltung zu politischen Veränderungen sowie die Ablehnung von staatlichem Zentralismus (Church, 2004, S. 183).
[2.1.3]
Der Stadt-Land-Konflikt in der politischen Auseinandersetzung
Das überkommene parteipolitische Grundmuster im Stadt-Land-Konflikt lässt sich in einer groben Annäherung wie folgt erkennen: Für die städtische Gesellschaft und ihre Interessen machten sich der Freisinn und die Sozialdemokratie stark, für die ländliche Seite die CVP in den katholischen Gebieten, später die SVP in ländlich-protestantischen Kantonen. Aber dieses Grundmuster wurde häufig durchbrochen. Denn die politischen Parteien hatten und haben sich nicht nur mit dem Stadt-Land-Konflikt auseinanderzusetzen, sondern mit drei weiteren historischen Spaltungen, welche die europäischen Gesellschaften seit der Industrialisierung und der modernen Staatenbildung prägten, nämlich:
– dem kulturellen Streit zwischen Zentrum und Peripherie, der sich in der Schweiz als Konflikt zwischen deutschsprachiger Mehrheit und den Minderheiten französischer und italienischer Sprache artikulierte;
– dem Konflikt um Vorherrschaft zwischen Protestanten und Katholiken. Dieser war in der alten Eidgenossenschaft zwischen 1648 und 1846 von vier kriegerischen Auseinandersetzungen begleitet und flammte in der Zeit des «Kulturkampfs» gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Kampf um die Trennung von Kirche und Staat erneut auf;
– dem Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit. Dieser war auch in der Schweiz bis zum Zweiten Weltkrieg von klassenkämpferischen Auseinandersetzungen geprägt. In der Folge entschärfte er sich durch die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie die Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratie.
Die Positionierung politischer Parteien in mehreren gesellschaftlichen Spaltungen hatte zur Folge, dass es keine rein «städtischen» oder «ländlichen» Parteien gab. Zur Zeit des Kulturkampfs, in welcher der laizistische Freisinn die Trennung von Kirche und Staat gegen die katholischen Konservativen durchsetzte, waren Bauern nicht nur bei der katholischen Partei und ihrem ländlichen Anhang aufgehoben, sondern bildeten auch Teil der freisinnigen «Grossfamilie» (Gruner, 1977). Dies änderte sich erst 1918 mit der Abspaltung der Berner Bauern und Gewerbetreibenden, die sich vom Freisinn vernachlässigt fühlten. Sie gründeten eine eigene Partei, die auch in anderen Kantonen Erfolg hatte. 1936 kam es zum nationalen Zusammenschluss zur Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei BGB, der heutigen SVP. Das stärkte das politische Gewicht ländlicher Regionen. Wo es allerdings um Grundkonflikte zwischen Kapital und Arbeit ging, war die grosse Koalition von Freisinn, Katholisch-Konservativen und...