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E-Book

Über Grenzen denken

Eine Ethik der Migration

AutorJulian Nida-Rümelin
Verlagedition Körber-Stiftung
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl248 Seiten
ISBN9783896845207
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Über zwei Milliarden Menschen leben weltweit in Armut, leiden unter Hunger, Unterdrückung und Krieg. Über 65 Millionen von ihnen waren allem im letzten Jahr auf der Flucht, viele erhoffen sich ein besseres Leben in Europa oder Nordamerika. Hilfe tut also dringend not - aber sind offene Grenzen die richtige Antwort auf das Elend in der Welt? Diese Ansicht findet viele Fürsprecher, doch der Philosoph Julian Nida-Rümelin ist überzeugt: Offene Grenzen würden das Elend nicht wesentlich mildern, sondern die Herkunftsregionen weiter schwächen und die sozialen Konflikte in den aufnehmenden Ländern verschärfen. Eine Lösung für die beschämenden humanitären Skandale unserer Zeit sind sie nicht. In seiner Ethik der Migration schlägt Nida-Rümelin eine Brücke zwischen Philosophie und Politik: Politisches Handeln muss auf den Werten und Normen der Humanität beruhen. Nur so können verantwortungsbewusste und zukunftsträchtige Entscheidungen getroffen werden. Gerade weil solche Entscheidungen in der Migrationspolitik komplex sind und Dilemmata unvermeidlich, brauchen wir die Verfasstheit m Staaten: Sie bieten unverzichtbare politische Gestaltungsspielräume. Denn ob es uns gelingt, die weltweite Armut und Perspektivlosigkeit in den Ursprungsregionen wirksam zu bekämpfen, wird zum Lackmustest unserer Menschlichkeit.

Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten Philosophen Deutschlands, er lehrt an der Universität München und arbeitet v.a. zu Rationalitätstheorie, politischer Philosophie und Ethik. Nida-Rümelin ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, für die er eine interdisziplinäre Forschungs-gruppe »Internationale Gerechtigkeit und institutionelle Verantwortung« leitet, sowie der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Für fünf Jahre wechselte er in die Kulturpolitik, u.a. als Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder.

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Leseprobe

Vorwort


Die europäische Flüchtlingskrise mit ihrem Höhepunkt in den Monaten September 2015 bis März 2016 scheint vielen Beobachtern unterdessen weitgehend behoben zu sein. Die Zahl der Immigranten ist deutlich zurückgegangen, die Schließung der Balkanroute und die Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei wirken. Die Lage scheint sich zu beruhigen, und die politischen Aufgeregtheiten lassen nach. Man darf sich jedoch von dieser Entwicklung nicht täuschen lassen. Die Fluchtursachen bestehen fort, die Situation in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten hat sich nicht beruhigt, und Millionen Menschen in Afrika südlich der Sahara hoffen darauf, ihr Land verlassen zu können, wenn sich die politische, ökonomische und soziale Lage nicht deutlich bessert. Es ist zu erwarten, dass sich die Versuche, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen, wieder verstärken werden und der Migrationsdruck eher zu- als abnehmen wird.

Die Bundesregierung hat unterdessen eine Kehrtwende vollzogen. Von »Willkommenskultur« ist kaum noch die Rede, Abschiebungen werden ausgeweitet, und das Aufenthaltsrecht wird restriktiver gehandhabt. In den USA beabsichtigt der frisch gewählte Präsident, eine Mauer zu Mexiko zu bauen, viele Millionen illegale Einwanderer auszuweisen und die Einreise aus einer Reihe muslimischer Staaten vollständig zu unterbinden. Die Einwanderungspolitik ist weltweit zu einem zentralen Thema geworden.

Der Streit um Globalisierung, um Freihandel und Sozialstaatlichkeit verschärft sich in den westlichen Ländern, diesseits und jenseits des Atlantiks. Der Rechtspopulismus setzt auf die Mobilisierung der einwanderungskritischen Bevölkerung, liberale Kräfte halten dagegen und betonen die Einheit von wirtschaftlicher und kultureller Globalisierung, sie befürworten nicht nur den freien Fluss der Güter und Dienstleistungen, sondern auch einen von staatlichen Grenzen nicht beschränkten Arbeitsmarkt.

In dieser Situation ist es notwendig, über die Rolle staatlicher Grenzen neu nachzudenken und die ethischen Aspekte von Migration und Einwanderungspolitik zu diskutieren. Die politische Praxis und der öffentliche Diskurs befinden sich ganz offenkundig in einer Orientierungskrise, die sich zu einer Gefährdung der liberalen und sozialen Demokratie auswachsen kann, wie die Wahlerfolge rechtspopulistischer Kräfte belegen.

Die Flüchtlingskrise zwingt zu gedanklicher Klarheit, die nur zu haben ist, wenn man sich von lieb gewonnenen Dogmen verabschiedet. In diesem Essay soll eine Brücke zwischen Ethik und Politik geschlagen werden, die im günstigsten Fall dazu beiträgt, die gegenwärtige Orientierungskrise zu beenden.1 Wer sich auf diese Brücke begibt, geht keinen einfachen Weg. Man kann sie nur betreten, wenn man bereit ist, die eigenen Vorurteile einer kritischen Prüfung zu unterziehen und empirische wie normative Fakten anzuerkennen.

Es war beeindruckend zu sehen, in welchem Maße die einheimische Bevölkerung in Deutschland während der Flüchtlingskrise Hilfsbereitschaft zeigte. In meiner Heimatstadt München, für einige Monate Ende 2015/ Anfang 2016 das Nadelöhr der Immigration, war sie besonders ausgeprägt und die Gegenbewegung aus PEGIDA und Nahestehenden auffällig schwach. Ohne die Hilfe der zahlreichen Freiwilligen, ohne die Spendenbereitschaft, die Pflegeeltern für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge etc. wäre die im Ganzen beachtlich humane Aufnahmepraxis in Deutschland in jenen Monaten nicht zu bewältigen gewesen. Diese »Willkommenskultur« bleibt ein großes Verdienst von Staat und Zivilgesellschaft. Dies anzuerkennen, steht nicht im Widerspruch damit, dass Migration in dieser Form und diesem Umfang nicht das geeignete Mittel ist, um auf Armut und Not zu reagieren, und dass eine Politik der offenen Grenzen nicht nur das aufnehmende Land längerfristig vor große Probleme stellen, sondern auch erfolgreichere Methoden der Bekämpfung von Not und Elend im globalen Süden blockieren würde.

Es ist ein Skandal, dass nach wie vor über zwei Milliarden Menschen der Erdbevölkerung in extremer Armut verharren, unter Hunger und Unterernährung, fehlender medizinischer Versorgung, fehlenden Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten leiden2, obwohl die Weltwirtschaft boomt und es mit einem winzigen Bruchteil der weltweiten Wirtschaftsleistung (0,5%) möglich wäre, dieses Unglück zu beheben. Den betroffenen Menschen aus den Armutsregionen der Welt fehlen jedoch die Mittel, um nach Europa oder in die USA zu migrieren. Der größte Teil der Flüchtlingsströme der Welt hält sich im lokalen Rahmen.

Zu den unangenehmen Tatsachen gehört, dass die Flüchtlingsbewegungen Richtung Europa, speziell nach Deutschland, auch Folge eines vom Westen mit zu verantwortenden politischen Chaos in Nordafrika und im Nahen Osten sind. Vor allem der Irakkrieg, die Unterstützung der syrischen Opposition, die Destabilisierung der nordafrikanischen Diktaturen, der neue Religionskrieg zwischen Sunniten und Schiiten samt all der zahlreichen örtlichen Konflikte haben eine Weltregion in eine tiefe Krise geführt, deren wirtschaftliche Entwicklung auch wegen autoritärer Herrschaftsstrukturen zwar über Jahrzehnte stagnierte, die aber doch von einem im Vergleich zu weiten Regionen Afrikas und Südasiens gehobenen Lebensstandard und Bildungsniveau geprägt war.

Die Hoffnung, dass eine Demokratisierung der Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens die sozialen und kulturellen Konflikte mäßigen könnte, hat sich bislang als trügerisch erwiesen. Der letzte Auslöser der Flüchtlingskrise war jedoch die mangelnde internationale Solidarität gegenüber den Anrainerstaaten, die die Bürgerkriegsflüchtlinge teilweise in sehr großen Zahlen aufgenommen hatten (Libanon, Jordanien, Türkei, nicht dagegen die Golfstaaten). Auch Deutschland hatte es an der gebotenen Solidarität fehlen lassen, sogar gegenüber den südeuropäischen Zielländern der Flüchtlinge aus dem arabischen Raum und Afrika, wie Italien, Spanien und Griechenland, also EU-Mitgliedsländern.

Zu den unangenehmen Tatsachen gehört, dass das Elend von über zwei Milliarden Menschen auch unter den Bedingungen großzügigster Willkommenskultur und offener Grenzen in den reichen Ländern dieses Globus nicht nennenswert zu mildern wäre. Schlimmer noch: Diejenigen, die ihre Familie zurücklassen, die sich auf einen beschwerlichen und oft gefährlichen, immer aber kostspieligen Weg in die nördlichen Gefilde machen, gehören in aller Regel zu den Jüngeren, den Qualifizierteren, die in den Heimatländern dringend benötigt werden. Die Hoffnungslosigkeit der Lage in den Herkunftsregionen verstärkt sich durch ihre Auswanderung in den meisten Fällen.

Die Tatsache, dass Auswanderung auch positive Effekte in den Herkunftsregionen haben kann, in Gestalt der Unterstützung zurückgebliebener Familienmitglieder, in Form neuer Kooperations- und Mobilitätsmöglichkeiten, auch als Kompetenzgewinn durch Rückkehrer, darf den Blick auf die großen Zusammenhänge nicht verstellen. Diese positiven Effekte treten in einer Welt weitgehend geschlossener Grenzen auf, die transkontinentale Migration auf einen sehr kleinen Prozentsatz der Weltbevölkerung beschränken. Eine Welt mit offenen Grenzen und freier Migration würde zu gewaltigen Bevölkerungsverschiebungen führen, die selbst die sogenannte Völkerwanderung der Spätantike in den Schatten stellen würde. In den Herkunftsregionen aller massiven Migrationsbewegungen in der Vergangenheit waren die Wirkungen überwiegend negativ. So haben sich ganze Landstriche des europäischen Südens von der massiven Auswanderung in beide Amerikas über Jahrzehnte nicht erholt, oder, um ein Beispiel aus der jüngsten deutschen Geschichte zu nehmen: Die Entvölkerung weiter Teile Ostdeutschlands infolge jener ökonomisch unklugen Schockvereinigung der vormalig getrennten deutschen Staaten ohne Übergangsfristen und Sonderwirtschaftszonen (anders als bei der Integration des Saarlandes in den 1950er Jahren) samt der Einführung einer gemeinsamen Währung und vollständiger Freizügigkeit hat dort zu Perspektivlosigkeit und Resignation beigetragen und soziale Dysbalancen geschaffen, die bis heute nachwirken und für eine lange Zeit nicht mehr korrigierbar sein werden.

Zahlreiche Intellektuelle plädieren heute im Kontext der Flüchtlingsdebatte für offene Grenzen. Dieses Plädoyer fügt sich allerdings gut in die allgemeinen Globalisierungstendenzen: Grenzenlos bricht sich ein entfesselter globaler Markt in Gestalt wachsender Mobilität der Waren und Personen Bahn.3 Erstaunlicherweise wird die Forderung nach offenen Grenzen nicht nur aus der liberalen und neoliberalen (besser: libertären) Richtung vorgebracht, sondern auch von links, selbst vonseiten vehementer Globalisierungskritiker. So wie man migrationsskeptischen Libertären und Liberalen vorhalten kann, inkohärent zu argumentieren und willkürlich einen Markt, nämlich den der Arbeit, aus dem Programm einer möglichst weitgehenden Deregulierung und Liberalisierung herauszunehmen, so kann man den linken Vertretern offener Grenzen vorhalten, dass sie sich im Migrationsdiskurs, wohl ohne sich dessen bewusst zu sein, neoliberaler Argumentationsmuster bedienen.

In diesem Essay soll der Versuch unternommen werden, ethische Aspekte der Migration einer rationalen Klärung zuzuführen und damit auch die irreführende, ja gefährliche Entgegensetzung von Ethik (»Gutmenschen«) einerseits und sogenannter Realpolitik andererseits (samt der überkommenen und irreführenden Gegenüberstellung von Gesinnungsethik versus Verantwortungsethik4) zu überwinden. Um dies zu leisten, müssen wir uns von politischen Stereotypen lösen, die rechts wie links im politischen Spektrum,...

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