Daran gewöhnt man sich nicht
Manchmal meine ich, ich schaffe es nicht. Dieses Tempo durchzuhalten, vor allem aber all das Leid, so viel Schmerz zu ertragen. Viele meiner Kollegen sind hingegen der Ansicht, ich hätte mich mittlerweile daran gewöhnt, die Leichenschau sei für mich zur Routine geworden. So ist es aber nicht. Man gewöhnt sich nie an die toten Kinder, an die Frauen, die während des Schiffbruchs niedergekommen sind, die Babys, die noch an der Nabelschnur hängen. Man gewöhnt sich nicht an die Zumutung, einen Finger oder ein Ohr abschneiden zu müssen, um die DNA zu bestimmen, damit man einem leblosen Körper einen Namen und eine Identität zuordnen kann und nicht zulässt, dass er eine bloße Nummer bleibt. Jedes Mal, wenn du einen der grünen Säcke aufmachst, ist es wie das erste Mal. Denn an jedem Körper findest du Zeichen, die von der Tragödie einer sehr langen Reise erzählen.
Oft meint man, die entscheidende Hürde für die Flüchtlinge sei die Fahrt übers Meer. Das ist aber nur die letzte Etappe. Ich habe ihren Erzählungen lange gelauscht. Am Anfang steht der Entschluss fortzugehen, die Heimat zu verlassen. Dann die Wüste. Die Wüste ist die Hölle, sagen sie, und das kann man nicht verstehen, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Wenig Wasser, in einen Pick-up gepfercht, wenn du dich falsch hinsetzt, wirst du hinausgeschleudert und stirbst. Und wenn das Wasser ausgeht, bleibt dir zum Überleben nichts anderes übrig, als den eigenen Urin zu trinken. Du kommst nach Libyen, du glaubst, der Albtraum ist vorbei, doch da beginnt ein neuer Leidensweg: Gefängnis, Folter, Misshandlungen. Erst wenn du all das durchgestanden, wenn du alle Grausamkeiten ertragen hast, besteigst du ein Boot. Und wenn du nicht auf dem Meer stirbst, kommst du endlich an und hoffst, dass für dich ein neues Leben beginnt.
Ich habe hier in Lampedusa alles gesehen.
Eines Morgens fiel mir an der Mole eine Frau auf, die aus einem Patrouillenboot stieg, sie kam aus Gambia und war wunderschön. Sie trug bunte Kleider, und in einer Hand hatte sie einen Koffer, als ob sie an irgendeinem Bahnhof aus dem Zug gestiegen wäre. Sie besaß einen Stolz und eine Würde, die nicht unbemerkt blieben. Als ob sie alles Leiden abgestreift hätte. Ich sah sie in den Bus steigen, der sie zum Aufnahmelager bringen würde, und ich hätte auch einsteigen mögen, um mir während der Fahrt ihre Geschichte erzählen zu lassen, ihre Schmerzen und ihre wiedergefundene Hoffnung. Doch ich kehrte in die Wirklichkeit meiner Arbeit zurück, der Bus bog um eine Ecke und verschwand.
Dann sah ich palästinensische Familien, die geglaubt hatten, ihrem Krieg zu entrinnen und in Syrien Zuflucht zu finden, jedoch mitten in einem anderen Krieg gelandet waren und wieder von vorn anfangen mussten. Noch eine Reise, noch mehr Leid.
Die syrischen Familien waren vielleicht am schlechtesten dran. In ihrem Land waren sie an einen Lebensstil gewöhnt gewesen, auf den sie hatten verzichten müssen, in so kurzer Zeit, dass es eine Ewigkeit schien.
Vor zwanzig Jahren, als auf Lampedusa die ersten Flüchtlinge ankamen, nannten die Inselbewohner sie »die Türken«. Sie kamen auf eigene Faust, landeten mit kleinen Booten oder Schlauchbooten direkt am Strand. Es waren vor allem Nordafrikaner. Damals war es noch ein neues Phänomen, zahlenmäßig überschaubar. Dann änderte sich alles. Plötzlich waren es viele. Die Geschichten waren andere. Deshalb brauche ich heute, wenn ich unter diesen Bedingungen arbeite, die Unterstützung der Lampedusaner. Denn oft, wenn die Verzweiflung überhandnehmen will, sind sie es, die mir Antrieb und Energie geben.
Wie im Falle Jasmins. Sie war an Bord eines großen Schiffes mit achthundert Menschen angekommen, alle übereinandergeschichtet. Viele kauerten im Laderaum, und allen ging es schlecht. Als sie aus dem Boot stieg, hatte Jasmin schon das Fruchtwasser verloren. Ihr Kind würde es nicht schaffen, wenn wir sie nach Palermo brachten. Also versuchte ich sie zu beruhigen, während ich sie per Ultraschall untersuchte, ich zeigte ihr das Herz und das Köpfchen ihrer Kleinen, der Fötus zeigte Komplikationen, ich hatte keine Wahl. Ich nahm die Verantwortung für einen Dammschnitt auf mich, den man unmittelbar vor der Geburt durchführen kann. Das Risiko musste ich eingehen. Die Operation glückte tadellos, und Jasmin gebar ein wunderbares Mädchen, ein großes Geschenk. So, »Geschenk«, wollte die Mutter sie auch nennen.
Gleich darauf eine große Überraschung. Als ich aus dem Kreißsaal kam, blutverschmiert und erschöpft, stieß ich dort draußen auf viele andere Mütter, Frauen von Lampedusa, die alles Mögliche mitgebracht hatten, um Geschenk willkommen zu heißen: Windeln, Kleidung, kleine Gaben.
Bei der Gelegenheit begriff ich, dass in unserem Ambulatorium1 etwas fehlte. Oft kamen die schwangeren Frauen mit ihren Kindern, die verängstigt den Doktor im weißen Kittel anstarrten, der ihre Mama in einen Saal voller fremdartiger Geräte brachte. Die Idee war einfach: neben dem Untersuchungszimmer ein Spielzimmer einrichten, bunt und voller Ablenkungsmöglichkeiten für die Kleinen während der Wartezeit. Das Vorhaben ist geglückt, so sehr, dass die Kinder oft nicht mehr weggehen wollen. Doch meist genügt ein kleines Geschenk, um sie aus dem Spielzimmer wegzulocken.
Ein Kind zur Welt zu bringen und das Lächeln auf den Lippen der Mutter zu sehen, ist immer eine große Freude. Bei einer Bootslandung im Frühjahr 2016 untersuchte ich drei schwangere Frauen. Unter ihnen eine sehr schöne Nigerianerin namens Joi. Sie war erst im vierten Monat schwanger und allein, weil die Schlepper sie in der Wüste von ihrem Mann getrennt hatten, sie auf eine Seite zwangen, ihn auf eine andere. Eine gewaltsame Trennung, der sie sich nicht hatten widersetzen können. Sie war entführt worden und dann wieder freigelassen. Von ihrem Mann wusste man nichts mehr. »Hilf mir, ihn zu finden«, flehte sie mich an. »Ich bitte dich, ich will nicht, dass mein Kind ohne seinen Vater aufwächst, wir haben alles darangesetzt, dass es in einer besseren Welt geboren wird. Du weißt, wie man ihn suchen kann. Ich flehe dich an, hilf mir.«
Wenn sie da vor mir sitzen und ich ihnen als Freund begegne, bin ich nicht mehr nur der Arzt, der sie untersucht, sondern ein Rettungsanker, der ihnen die Hoffnung wiedergeben kann, ihre Lieben wiederzufinden, ihre Familie zusammenzuführen, auch wenn das wie in Jois Fall nicht möglich ist. Oder ich bin ganz einfach der einzige Mensch, dem sie ihr dramatisches Schicksal erzählen können. Häufig äußern daher viele dieser jungen Frauen, wenn ich sie per Ultraschall untersucht habe, den entsetzlichen Wunsch, auf das zu verzichten, was nicht Frucht der Liebe, sondern die schreckliche Folge einer Gewalttat ist.
Eine Tages kam Sara ins Ambulatorium, Nigerianerin, siebzehn Jahre alt. »Ich will sterben«, wiederholte sie unentwegt. Sie konnte nicht damit aufhören. Sie war mit weiteren hundertfünfzig Personen an Land gegangen, darunter fünf Frauen, alle schwanger und sehr jung. Ihre Reisegefährtinnen berichteten, Sara habe mehrfach versucht, sich das Leben zu nehmen, ohne Erfolg. Auf dem Krankenhausflur ließ sie sich aus Verzweiflung sogar von der Tragbahre fallen.
Ich untersuchte sie per Ultraschall. Sie war in der achtzehnten Woche schwanger. Ich versuchte, ihr den Monitor zu zeigen, aber sie weinte bloß. »Nun komm«, versuchte ich sie zu trösten, »du wirst sehen, es wird alles gut.« Aber wem wollte ich das weismachen?
Sie schaute mir direkt in die Augen. »Ich weiß nicht einmal, wer der Vater dieses Kindes ist. Sie waren zu fünft und haben mich vergewaltigt. Fünf Wildgewordene, die sich abwechselten und erst aufhörten, als ihnen die Kräfte ausgingen. Was meinen Sie, Herr Doktor, wie soll ich mich heute und in Zukunft zu dem verhalten, was ich im Bauch trage?« Es war entsetzlich, ihr zuzuhören. Verfluchte Mistkerle.
Ich konnte ihr nicht unrecht geben. Ich rief die Ärzte meiner lokalen Gesundheitseinheit in Palermo und die Sozialarbeiter an. Am nächsten Tag ließen wir sie mit dem Hubschrauber nach Palermo bringen. Sie hat abgetrieben, und nun wird sie betreut.
Sehr viele junge Frauen erzählen ähnliche Geschichten wie Sara, als wollten sie sich von einer Last befreien, die sie niemand anderem anvertrauen können. Und dann bitten sie mich abzutreiben, es aber niemandem zu sagen, denn das würde der Schande eine weitere, vielleicht noch schlimmere hinzufügen, die von ihren Familien, die sie in der Heimat zurückgelassen haben, niemals akzeptiert werden könnte.
Es sind wirklich viele schwangere Frauen, die in diesen Jahren nach Lampedusa gekommen sind. Eines Nachts stiegen an der Mole fünf von ihnen aus den Patrouillenbooten. Ich konnte nicht gleich mit ihnen ins Ambulatorium gehen, weil ich andere Flüchtlinge untersuchen musste. Ich rief Elena, eine Ärztin und interkulturelle Mediatorin, die immer bei mir ist, und bat sie, die Frauen zu begleiten, ich würde so bald wie möglich zu ihnen kommen. Eine von ihnen, im achten Monat, machte mich stutzig: Sie litt sehr. »Mach ihr sofort einen Ultraschall«, sagte Elena. »Es geht ihr wirklich schlecht.«
Als ich mit den Untersuchungen auf der Mole fertig war, ging ich ins Krankenhaus. Ich traf Elena mit roten Augen. Sie hatte geweint.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Der jungen Frau geht es schlecht … Meiner Meinung nach ist das Kind tot.«
Ich ging in den Ultraschallraum und untersuchte sie. Elena hatte recht. Das Herz des Kindes schlug nicht mehr. Es hatte die Strapazen der Reise und den Stress, dem die...