Vorwort
Infolge des Beschlusses des Sekretariats der Ständigen Konferenz der Kultusminister in der Bundesrepublik Deutschland (2011) zur »Inklusive[n] Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen« sind Grundschullehrkräfte vor erweiterte besondere Aufgaben und gesteigerte Herausforderungen gestellt: Im Grundschulunterricht gilt es, Lehr-Lernsituationen zu gestalten, die den Bildungsansprüchen aller Kinder gerecht werden und damit Kompetenzerwerbsprozesse sowohl der Kinder mit als auch derjenigen ohne sonderpädagogischem/n Förderbedarf ermöglichen. Hierfür sind – so wird in dem aktuellen Beschluss der Kultusministerkonferenz gefordert – »didaktisch-methodische Vorgehensweisen und Unterrichtskonzepte« bereitzustellen, »um für alle Lernenden Aktivität und Teilnahme in einem barrierefreien Unterricht zu gewährleisten« (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Bundesrepublik Deutschland, 2011, S. 9). Das Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister in der Bundesrepublik Deutschland folgt damit den internationalen Forderungen der von Deutschland im Jahr 2009 ratifizierten UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen:
»Vorrang hat nunmehr die Gestaltung eines inklusiven Bildungssystems auf allen Ebenen, wie es in Artikel 24 der UN-Konvention gefordert wird. Die Konvention fungiert nach der Ratifizierung im Range eines Bundesgesetzes. Insofern ergibt sich eine rechtliche Verpflichtung in der BRD, die Ziele der Konvention politisch umzusetzen« (Heimlich, 2011, S. 44).
Gegenwärtig ist jedoch – blickt man auf diese bildungspolitischen Novellierungen – noch weitgehend ungeklärt, wie und auf welche Weise Formen des gemeinsamen Unterrichts für Kinder mit und ohne sonderpädagogischem/n Förderbedarf in der Grundschule realisiert werden können – und wie im Detail Bildungsansprüchen aller Kinder Rechnung getragen werden kann. An dieser Stelle setzt der vorliegende Herausgeberband an, dessen Ziel es ist, aktuelle Sichtweisen zu Möglichkeiten der Gestaltung von Lehr-Lernumgebungen in der inklusiven Grundschule fachübergreifend und aus den Blickwinkeln der Kernfächer der Grundschule – Deutsch, Mathematik und Sachunterricht – zu präsentieren. Dabei wird der inklusive Unterricht in der Grundschule sowohl aus grundschulpädagogischer, pädagogisch-psychologischer und fachdidaktischer als auch aus förderpädagogischer Perspektive in den Blick genommen.
Der vorliegende Herausgeberband ist in verschiedene Teile untergliedert: Während im ersten Teil inklusiver Grundschulunterricht aus grundschulpädagogischer, pädagogisch-psychologischer und förderpädagogischer Perspektive ›unter die Lupe‹ genommen wird, sind in den darauffolgenden Teilen konkrete Implikationen zur Diagnostik, Förderung und Gestaltung von Lehr-Lernumgebungen im inklusiven Grundschulunterricht aus fachdidaktischem Blickwinkel zu finden. Hierbei stehen die Unterrichtsfächer Deutsch, Mathematik und der (naturwissenschaftliche) Sachunterricht im Vordergrund des Interesses. Die einzelnen Autorinnen und Autoren präsentieren zum einen Möglichkeiten der individuellen Diagnostik und Förderung, zum anderen formulieren sie auf der Grundlage von Befunden aus der empirischen Lehr-Lernforschung didaktisch-methodische Schlussfolgerungen für die Gestaltung von Lernprozessen bei Schülerinnen und Schülern mit sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen.
Im ersten Teil des vorliegenden Herausgeberbandes werden inklusive Lernprozesse von Kindern von grundschul- sowie förderpädagogischem Standpunkt thematisiert. Ursula Carle stellt in ihrem Beitrag Eckpunkte für die Entwicklung des inklusiven Unterrichts in der Grundschule dar. Auf der Grundlage von vier verschiedenen Perspektiven für das ›Gemeinsame Lernen‹ aller Kinder im Grundschulunterricht (»kooperativ gemeinsame Ziele erreichen und geteilte Verantwortung tragen«, eine »gute Ordnung aufbauen und inklusive Möglichkeiten erweitern«, »Kompetenzen im Lehrerinnen- und Lehrerteam systematisch entwickeln«, »das didaktische Konzept verfeinern«) lotet Ursula Carle Desiderate für die Entwicklung des inklusiven Grundschulunterrichts aus und verweist in diesem Zusammenhang auf zukünftige Forschungsperspektiven. Joachim Kahlert und Anne Frey diskutieren in ihrem Aufsatz die Frage, wie inklusiv (Grund-)Schulen zurzeit gestaltet werden können. Dabei richten die Autorin und der Autor den Blick einerseits auf bildungspolitische Forderungen und gegenwärtige Entwicklungen in der Schul- und Unterrichtsforschung sowie andererseits auf Realisierungsmöglichkeiten in der Schul- und Unterrichtspraxis. Als eine Möglichkeit der Gestaltung von inklusiven Lernprozessen in der Grundschule schlagen Joachim Kahlert und Anne Frey inklusionsdidaktische Netze vor, anhand derer Unterricht für alle Kinder in der Schulklasse in einer systematischen Weise an einem gemeinsamen Lerngegenstand geplant werden kann. Christin Schmidt und Katrin Liebers berichten in ihrem Beitrag über Möglichkeiten der Diagnostik im inklusiven Unterricht der Grundschule. Die beiden Autorinnen erörtern dabei formatives im Unterschied zu summativem Assessment. Christin Schmidt und Katrin Liebers stellen in diesem Zusammenhang im zweiten Teil ihres Buchkapitels erste Befunde aus dem Forschungsprojekt ERINA (»Erprobung von Ansätzen inklusiver Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Modellregionen«) vor. Tanja-Maria Ewald und Christian Huber erläutern in ihrem Beitrag, ob und inwiefern die soziale Inklusion von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf durch Formen des kooperativen Lernens in der Grundschule gelingen kann. Die Autorin und der Autor gehen dabei davon aus, dass sich ein enger Kontakt sowie gemeinsames Lernen von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischem/n Förderbedarf auf ihre Einstellungen auswirken und zu einer Abschwächung von Vorurteilen führen. Das Ergebnis der Überlegungen von Tanja-Maria Ewald und Christian Huber sind Kriterien, unter denen kooperatives Lernen im (Grundschul-)Unterricht besonders wirksam im Hinblick auf die soziale Inklusion von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf gelingen kann. Marie-Luise Gehrmann und Christian Huber stellen in ihrem Beitrag Möglichkeiten der Inklusion von Kindern mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf in der sozial-emotionalen Entwicklung dar. Als einen Ausgangspunkt für ihre Überlegungen nehmen Marie-Luise Gehrmann und Christian Huber an, dass angemessene Peer-Peer-Beziehungen wichtige Gelingensbedingungen für einen erfolgreichen inklusiven Unterricht darstellen. Sie beschreiben vor diesem Hintergrund Risiken und Potenziale sozialer Peer-Beziehungen und formulieren Implikationen für den inklusiven Unterricht. Frank Hellmich, Marwin Felix Löper, Gamze Görel und Rebecca Pfahl referieren in ihrem Beitrag über Einstellungen von Kindern gegenüber Peers mit sonderpädagogischem Förderbedarf als Bedingungen der sozialen Partizipation im inklusiven Unterricht der Grundschule. In diesem Zusammenhang berichten die Autorinnen und Autoren über Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt, im Rahmen dessen Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf zu ihren Einstellungen gegenüber Peers mit sonderpädagogischem Förderbedarf und deren Bedingungen befragt worden sind.
Im zweiten Teil des vorliegenden Herausgeberbandes wird die Gestaltung des inklusiven Deutschunterrichts im Rahmen von insgesamt drei Beiträgen in den Blick genommen. Timm Albers erläutert in seinem Beitrag »Sprachliche Bildung und Förderung im Kontext von Inklusion« die Bedeutung sprachlicher Bildung und Förderung im inklusiven Unterricht der Grundschule, indem er Erwachsenen-Kind-Interaktionen für den Erwerb sprachlicher Kompetenzen von Kindern sowie Interaktionen unter Kindern im inklusiven Klassenzimmer beschreibt. Das Ergebnis seines Beitrags stellen diskursive Sprachlehrstrategien von Grundschullehrkräften in Interaktionen mit Schülerinnen und Schülern im Grundschulalter dar. Katja Siekmann beschreibt in ihrem Aufsatz förderdiagnostische Kompetenzen von Grundschullehrkräften und Möglichkeiten der Diagnostik sowie Förderung von Kindern im inklusiven Rechtschreibunterricht der Grundschule. Im Detail geht sie dabei auf die erfolgreiche Entwicklung förderdiagnostischer Kompetenzen von Grundschullehrkräften ein und bespricht den Einsatz diagnostischer Inventare für die Ermittlung von schriftsprachlichen...