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E-Book

Ein letztes Mal in Afrika

AutorPaul Theroux
VerlagHoffmann und Campe Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl416 Seiten
ISBN9783455000283
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Nach zehn Jahren kehrt der 72-jährige Paul Theroux zurück in sein geliebtes Afrika - »das Königreich des Lichts« - und findet ein zerstörtes Paradies. Er will von Kapstadt aus durch Namibia und Angola nach Timbuktu reisen, doch mit jeder Meile nordwärts werden das Elend, die Korruption und seine Frustration über die Entwicklungen des 21. Jahrhunderts und die verheerenden Bemühungen der Hilfsorganisationen größer. Trotz aller Schönheit, der er jenseits der Städte begegnet und von der er mit Liebe und Humor erzählt, bricht er seine Reise ab und macht sich desillusioniert auf den Weg zurück nach Südafrika. Sein Buch erzählt auf sehr persönliche Weise von einem Kontinent im Niedergang und einem empfindsamen Menschen, dessen Erschütterungen sich unmittelbar auf den Leser übertragen. Eine Reise ins Herz der Finsternis.

Paul Theroux, geboren 1941 in Medford, Massachusetts/USA, ist mit mehr als dreißig veröffentlichten Büchern einer der weltweit populärsten US-Gegenwartsautoren. Als Reiseschriftsteller erlangte er Weltruhm. Theroux ist seit 2013 Mitglied der American Academy of Science and Arts. Er lebt mit seiner Familie auf Hawaii und auf Cape Cod. Bei Hoffmann und Campe erschien zuletzt sein Sachbuch Auf dem Schlangenpfad. Als Grenzgänger in Mexiko (2019).

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Leseprobe

1
Bei den (Un-)Wahren Menschen


In der heißen Buschebene im äußersten Nordosten Namibias kletterte ich über einen aufragenden Termitenhügel aus glattem, von Ameisen zerkautem Sand. Auf der Spitze dieser winzigen Anhöhe stehend, fächerte sich vor meinen Augen die majestätische Landschaft auf wie die knisternden Seiten eines noch ungelesenen Buches.

Dann stolperte ich weiter den kleinen, größtenteils nackten Männern und Frauen hinterher, die schnellen Schrittes unter dem feurig goldgefleckten Himmel durch das dürre Buschland eilten, das auf Afrikaans einst einfach Boesmanland (Buschmannland) hieß. Insgesamt waren wir neun – lachende Frauen mit hängenden Brüsten, eine Frau hatte sich ein Tuch umgebunden, aus dem der wippende Kopf eines Kleinkinds ragte wie eine flaumige Frucht, Männer in Lederschurzen mit Speeren und Bogen in den Händen – und ich dachte, wie so oft auf meinen jahrelangen Reisen um die Erde: Die besten Menschen haben nackte Hintern.

Ich war froh, wieder in Afrika zu sein, dem Königreich des Lichts, als ich zu Fuß auf neuen Wegen durch diese uralte Landschaft stapfte und mich an »einer greifbaren, vorstellbaren, erlebbaren Vergangenheit – an der nahen Ferne und den offenkundigen Mysterien« – erfreute. Ich kauerte mit schlanken Menschen zwischen den Büschen, die goldfarbene Haut hatten und zum ältesten Volk der Erde gehörten; ihr Stammbaum ließ sich bis in die dunkle Vergangenheit und die Abgründe der Zeit im Jungpleistozän zurückverfolgen, etwa 35000 Jahre weit, zu den nachweislichen Vorfahren aller Menschen, den wahren Aristokraten dieses Planeten.

Das Schnauben eines Tieres außer Sicht ließ uns anhalten. Dann raschelte sein Hinterteil durchs Unterholz. Dann das hüpfende Trappeln von Hufen auf losen Steinen.

»Kudu«, flüsterte ein Mann und horchte gebeugt nach den Bewegungen des Tieres, ohne zur Seite zu blicken. Er sprach den Namen aus wie den vertrauten Vornamen eines Bekannten. Dann sagte er noch etwas, das ich nicht verstand, aber ich lauschte ihm, als hörte ich neue Musik; seine Sprache war absurd und wohlklingend in meinen Ohren.

An jenem Morgen hatte ich in Tsumkwe, der nächstgelegenen Stadt – die keine Stadt war, sondern eine sonnenverbrannte Straßenkreuzung mit vielen Hütten und ein paar wenigen schattenspendenden Bäumen – im Radio gehört: Finanzmärkte sind weltweit in Aufruhr und stehen vor der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Griechenland droht der Staatsbankrott, weil die griechische Regierung einen 45-Milliarden-Dollar-Kredit zur Begleichung der Staatsschulden abgelehnt hat. Damit steuern die Länder der Eurozone auf einen Finanzkollaps zu.

Die Menschen, denen ich folgte, lachten. Sie sprachen Khoisan und gehörten zur Volksgruppe der !Kung, die sich selbst Ju/'hoansi nennen. Der Name ist durch die Klicklaute schwer auszusprechen und bedeutet »Wahre Menschen« oder »Harmlose Menschen«. Sie lebten traditionell als Jäger und Sammler und hatten nie Geld verwendet. Inzwischen leben sie abgedrängt an den Rand des sogenannten Buschmannlands (diesen Teil nennen sie selbst Nyae Nyae) – manche von ihnen haben sich niedergelassen und besitzen Vieh oder Felder, doch auch heute noch bekommen diese Menschen nur selten Geld zu Gesicht und benutzen das verfallende Zeug fast nie. Sie ergänzen ihren Speiseplan immer noch durch Wild, Wurzeln und anderes Essbares, das sie draußen finden – und durch Almosen. Wahrscheinlich denken sie gar nicht über Geld nach, oder wenn sie es tun, dann wissen sie, dass sie nie welches haben werden. – Die Griechen randalierten und schimpften lautstark auf ihre Regierung, die Italiener demonstrierten in den Straßen von Rom gegen Armut, die Portugiesen und Spanier sahen mit leerem Blick dem Bankrott entgegen, und in den Nachrichten wurde über den Zusammenbruch wertloser Währungen und über harte Sparmaßnahmen berichtet, aber die Ju/'hoansi und ihre althergebrachte Lebensweise schien das nicht zu beeinträchtigen. Oder zumindest glaubte ich das in meiner Unwissenheit.

 

Die junge Frau vor mir fiel im Sand auf die Knie. Sie hatte ein hübsches elfenhaftes Gesicht mit asiatischem Einschlag – das auch etwas Außerirdisches hatte –, wie die meisten San. Ein unschuldiges und bezauberndes Gesicht wie das eines Kindes. Sie fuhr mit den Fingern über eine Ranke, die aus dem Sand ragte, ging, auf einen Ellbogen gestützt, in die Hocke und begann zu graben. Bei jeder Handvoll Sand strahlten ihre Augen, ihre Brüste bebten, und nach weniger als einer Minute zog sie eine fingerartige Wurzel aus dem dunklen, auffallend feuchten Loch, das sie gegraben hatte, und legte sie auf ihre Handfläche. Sie wischte Erde von der Wurzel, die in ihren Händen eine bleiche Farbe annahm. Lächelnd bot sie mir den ersten Bissen an.

»Nano«, sagte sie, was für mich als »Kartoffel« übersetzt wurde.

Von der Konsistenz und vom süßlich-erdigen Geschmack her erinnerte die Wurzel an eine rohe Karotte. Ich gab ihr den Rest zurück, den alle miteinander teilten, jeder durfte daran knabbern, neun Bissen. In den Wäldern, Wüsten und Hügeln überall auf der Welt teilen Sammlervölker wie die Ju/'hoansi ihre Nahrung penibel; dieses Miteinanderteilen schweißt die Gemeinschaft zusammen.

Vor uns knieten sich zwei der Männer auf verstreut herumliegenden Nussschalen und altem Laub eines Dornbuschs einander gegenüber auf den Boden und drehten abwechselnd einen fünfzig Zentimeter langen Stock zwischen den Händen. Nach kurzer Zeit stieg vom unteren Ende der Spindel, wo sich der Stock in einem Stück weichem Holz drehte und es zunehmend schwärzte, eine Rauchfahne auf. Den Stock bezeichnen sie als Mann; das untere Stück Holz mit der Einbuchtung als Frau. Das heiße gebohrte Holz begann zu glimmen, und einer der Männer hob das glühende, schwach rauchende Brett an, blies mit einem Kussmund Luft in die Glut und fachte sie so weiter an. Er sprenkelte erst Nussschalen und trockenes Laub darauf, dann kleine Zweige. Wir hatten ein Feuer.

Die Streiks in Griechenland haben in vielen Städten zu Stromausfällen geführt. Es wird erwartet, dass die Regierung ihre Schulden nicht zurückzahlen kann, Europa in noch größere Unsicherheit stürzt und die Zukunft des Euro in Frage stellen wird. Das könnte auch amerikanische Banken in Gefahr bringen. In Athen werfen Demonstranten gegen die immer strengeren Sparmaßnahmen Steine und plündern Läden …

Die Nachrichten schienen von einem anderen Planeten zu kommen, von einem dunklen, chaotischen Planeten, nicht diesem strahlenden Ort der kleinen, sanftmütigen Menschen, die in den gesprenkelten Schatten der niedrigen Büsche lächelten; die Frauen gruben mit Stöcken weitere Wurzeln aus, eine saß im Halbschatten und stillte ihr zufrieden nuckelndes Baby.

Ihnen blieben die verwirrenden und seltsam orphischen Metaphern der zusammenbrechenden Märkte erspart – Die Subprime-Krise war nur die Spitze des Eisbergs eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs und Die Schulden der Regionalverwaltungen in Spanien erhöhten sich um 22 Prozent auf fast 18 Milliarden US-Dollar und Die Gefahr für wirtschaftliche Schäden in New York City durch die europäische Schuldenkrise ist extrem hoch, weil die Banken Wertpapiere im Wert von mehr als einer Billion US-Dollar halten –, ebenso wie die höhnische Erkenntnis, dass Geld nur zerknittertes, farbiges Papier ist, kaum besser als Bonbonpapier, und dass die Märkte selbst mehr oder weniger Spielhöllen sind. Zehn Tage hintereinander … Die Panik, die Wut, die Hilflosigkeit der Menschen, die in stagnierenden Städten eingesperrt waren wie Affen im Käfig. Sollte Griechenland seine Schulden nicht zurückzahlen, stürzt es in eine Todesspirale.

Am prasselnden Feuer wurden weitere Wurzeln herumgereicht.

»Sehen Sie, Mister Bol…«

Ein in der Hocke sitzender Mann hatte eine Falle gebaut. Dazu hatte er Ranken zerteilt und zu Garn verdreht und damit die Spitze eines heruntergebogenen Astes in der Erde verankert. Er tippte mit den Fingern auf den Sand, um mir vorzuführen, wie die Falle nach den tapsenden Füßen eines achtlosen Vogels schnappte, eines Perlhuhns vielleicht – die gab es hier zahlreich –, das sie dann rupfen und auf dem Feuer rösten würden. Sie zeigten mir die Giftpflanzen und erzählten von den Käfern, die sie zerstießen und auf ihre Pfeilspitzen auftrugen, um daraus tödliche Waffen zu machen, und auch von den Blättern, mit denen sie Bauchschmerzen linderten, den Zweigen, mit denen sie Wunden reinigten oder die gegen Hautausschläge wirkten.

Diese »Wahren Menschen«, die Ju/'hoansi, waren von dem Moment an verfolgt, bedrängt, ermordet und vertrieben worden, als die ersten Weißen im Jahr 1652 in Afrika an Land gekommen waren. Diese Weißen waren Jan van Riebeeck mit Frau und Kind und einer kleinen Schar weiterer Holländer, die dem Land den Namen Groot Schur, Gute Hoffnung, gaben und sich dort niederließen, um Gemüse für eine »Versorgungsstation« anzubauen, die holländische Schiffe auf dem Weg nach Ostasien beliefern sollte.

Die Neuankömmlinge waren penibel, was das Thema Rassen betraf, und hatten die typisch holländische Vorliebe für feine Unterscheidungen. So schufen sie eine Klassifikation der einheimischen Völker. Sie bezeichneten die ziegenhütenden Khoikhoi als »Hottentotten« (in Anlehnung an die...

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