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Wenn es in der häßlichen, farblosen Industriestadt Trenton Herbst wird, löst das sogar bei den Marmorstatuen vor den Regierungsgebäuden tiefe Depression aus. Im Herbst 1965 befand ich mich in dieser Stadt in dieser Stimmung. Ich war 18 Jahre alt und hatte von der Welt nichts gesehen als New York City und seine zahlreichen monotonen Vororte.
Ich beneidete meine Bekannten, die weit weg in andere Bundesstaaten reisten oder sogar nach Europa. Ich klebte immer noch an dieser Gegend fest. Als noch verdrießlicher empfand ich es, daß ich zu Hause wohnen und jeden Tag zwischen College und Wohnort hin- und herpendeln mußte. Eine eigene Wohnung kam finanziell nicht in Frage, da Roger gleichzeitig ein teueres Privatcollege in New Jersey besuchte und dort wohnen mußte, weil er seinen Führerschein wegen Verkehrsdelikten verloren hatte.
Im College setzte sich der alte Konkurrenzkampf fort, wenn auch in neuer Besetzung. Viele hofften, nachdem sie hier ihren Bachelor erworben hatten, anschließend an einer renommierten Universität ihren Magister machen zu können. In diesem Notenkampf sah ich mich benachteiligt, da ich mich eindeutig für das falsche Fach entschieden hatte. Das vormedizinische Studium lag mir gar nicht. Im Anatomieunterricht sezierten wir Tierkadaver. Während die anderen angehenden Ärzte und Ärztinnen begeistert Mägen und Nieren untersuchten, glich mein Versuchsobjekt einer Art Gulasch. Da ich nicht räumlich sehen kann, schnitt ich immer zu tief und zerstörte so die Organe. Wir teilten uns die Kadaver mit anderen Klassen, und ich verbrachte endlose Stunden – den beißenden Geruch des Formaldehyds in der Nase –, um meine Fehler «zusammenzunähen». Der theoretische Unterricht lief nicht weniger dramatisch ab. Während der Professor die Cholera beschrieb, saß ich in der letzten Reihe und spürte einen leichten Brechreiz sowie einen schnellen Kräfteverfall. Bei seiner Beschreibung der Hepatitis zog ich rasch einen Spiegel aus meiner Handtasche. Abends lag ich im Bett mit einem Fieberthermometer unter der Zunge und wartete darauf, daß meine Lymphknoten anschwellen würden. Langsam sah ich ein, daß ein Hypochonder wie ich nicht Medizin studieren sollte. Nur mühevoll und halb verzweifelt schleppte ich mich weiter durch. Ich war voller Groll, unter dem Druck zu stehen, einen selbständigen Beruf erlernen zu müssen, damit ich als Angehörige einer Minderheit auf dem Arbeitsmarkt bestehen konnte. Ich beneidete die Leute, die eine angesehenere Herkunft hatten und daher ohne weiteres studieren konnten, was ihnen Spaß machte.
In diesem ersten Wintersemester erschien ich eines Tages zu früh zur Chemievorlesung und wartete draußen im Flur, weil der Saal noch von einer anderen Klasse besetzt war. Mit mir wartete noch ein Student. Nach einer Weile sprach er mich an, und wir plauderten über Schwierigkeiten des Chemieunterrichts. Er studierte Chemie im Hauptfach. Während er versuchte, mich für dieses meiner Meinung nach langweilige Fach zu begeistern, registrierte ich seinen starken Akzent; er kam mir bekannt vor. Dann kam ich drauf: So redeten die Deutschen in englischen Spielfilmen. Mitten in seiner Erklärung über die Zusammensetzung irgendwelcher «Benzin-Ringe» unterbrach ich ihn und fragte ganz unvermittelt, woher er komme. Er schaute mich verdutzt an und antwortete ein bißchen verunsichert: «Aus Deutschland.» Wahrscheinlich zog ich eine merkwürdige Miene, denn er fragte: «Ist das so schlimm?» Mittlerweile warteten schon mehrere Kommilitonen ungeduldig vor der Tür, und zum Glück strömten die Studenten des vorangegangenen Kurses aus dem Saal. Ohne seine Frage zu beantworten, eilte ich hinein, und wir verloren uns in der Menge. Erst Monate später begegneten wir uns in der Mensa wieder. Distanziert, aber höflich begrüßten wir uns, gingen jedoch aneinander vorbei. Ich spürte einen Hauch von Frustration, weil ich ihn eigentlich kennenlernen wollte. So eine «echte» Begegnung mit dem Feind hatte ich noch nie gehabt. Zufällig trafen wir uns dort einige Tage später wieder. Dieses Mal setzte ich mich ganz selbstbewußt neben ihn und bemühte mich, unbefangen zu wirken. «So, du stammst aus Deutschland», stellte ich lapidar fest.
«Eine ungewöhnliche Begrüßung», erwiderte er.
«O.k., fangen wir noch mal an», schlug ich vor. «Wie heißt du?» fragte ich.
«Peter.»
Ich stellte mich ebenfalls vor.
«Und du bist eine richtige Amerikanerin?» fragte er ironisch.
«Wie kommst du darauf? Sehe ich so aus?» fragte ich zurück.
«Nein, aber wegen deines angelsächsischen Namens», erklärte er.
«Ach ja? Gute Tarnung, was? Ich muß dich aber enttäuschen. Ich gehöre einer der Minderheiten an. Ich bin Jüdin.» Diese Feststellung überraschte ihn nicht sonderlich, da etwa die Hälfte der Studenten und Studentinnen an diesem College Juden waren. Mehr überraschte ihn, daß ich mit ihm redete. Ich mußte zu einer Vorlesung, aber bevor ich mich von ihm verabschiedete, gab ich ihm meine Telefonnummer. «Melde dich, und ich lade dich zu einem Sauerkrautessen ein», sagte ich halb im Spaß.
In den nächsten Wochen hörte ich nichts von ihm und hatte es auch nicht erwartet. Andere Ereignisse verdrängten die Erinnerung an unsere Begegnung. Zu dieser Zeit starb meine sibirische Großmutter, die lange schwer krank gewesen war. In meiner Trauer tröstete mich ein Freund mit den Worten: «Für einen Juden ist es ein Luxus, alt zu werden und im Bett sterben zu dürfen.» Das ist wahr, dennoch traf ihr Tod mich besonders hart, unter anderem weil ich merkte, daß die Generation der Verfolgten ausstarb, bevor ich mit einigen von ihnen über den Holocaust reden konnte. Bald schon konnte niemand mehr mir aus eigenen Erfahrungen über die Pogrome berichten.
Zu dieser Zeit stritt ich mich heftig mit meinem Vater, weil ich zur Literaturwissenschaft wechseln wollte. «So ein Luxusstudium!» regte er sich auf. «Und was machst du danach?» Das wußte ich auch nicht. Der Beruf einer Lehrerin kam für mich nicht in Frage. Ich wollte nie wieder eine Schule von innen sehen. Für das Fach Literatur hätte ich mir eine viel billigere Staatsuniversität suchen können statt dieses teueren Privatcolleges. Und noch später zu wechseln, wäre mit einem enormen Zeitverlust verbunden gewesen. Schließlich gab mein Vater nach und bezahlte mir mein «Luxusstudium».
Zu meiner Überraschung meldete sich Peter bei mir, und wir verabredeten uns für einen Kaffee auf dem Campus. Ich wollte nicht, daß er zu uns nach Hause kam. Niemand brauchte unbedingt zu wissen, daß ich mich mit einem «Kraut» verabredet hatte. Er war damals 26 Jahre alt. Weil ihn eine Aura des Verbotenen umgab, fand ich ihn interessant. Und so merkwürdig es klingen mag, ich fühlte mich in seiner Gegenwart wie eine «richtige» Jüdin. Wenn er Amerikaner gewesen wäre, hätte er mich überhaupt nicht interessiert. Andererseits hatte ich auch nicht vor, eine tiefere Beziehung mit ihm einzugehen; ich wollte nur ein bißchen den «Feind» beschnuppern, vielleicht ein bißchen Rache üben, ihn psychisch ein bißchen peinigen. Bisher war mein Haß, wie bei fast allen amerikanischen Juden, außer bei den «Kraut-Bashers», passiv gewesen. Den Grund vermochte ich nicht zu erklären. Das Thema Haß war bei uns genauso tabu wie der Holocaust. Was bringt einem ein unterdrückter Haß? Ist er eine Art undurchdringlicher Schutzschild vor dem Feind? Schluckt man ihn herunter, so daß das Leben weitergehen kann? Mir tat der Haß weh. Vielleicht, weil er so stark war und ich ihn nicht begreifen konnte. Ob man sich besser fühlt, wenn man seinen Haß austobt? Damals hatte ich nicht ahnen können, daß solche unterdrückten Gefühle gegen die Deutschen wie die meinen derart explodieren können. Peter hatte sie an die Oberfläche gebracht. Unbewußt hatte ich wohl so jemanden gesucht. Peter konnte dies nicht geahnt haben. Wie auch? Er hatte keine Erfahrung mit Juden.
Frühjahr und Sommer 1966 verabredeten wir uns immer häufiger in der Mensa. Jedesmal hoffte ich, daß keiner meiner Bekannten uns sehen und mich fragen würde, was ich mit so einem «Kraut» zu tun hatte. Heiraten konnte man so jemanden schon gar nicht.
Am Anfang unserer Treffen redeten wir hauptsächlich sachlich über unsere Vergangenheit. Peter wurde im Zweiten Weltkrieg in Schweinfurt geboren. Seinen Vater, der an der Ostfront gefallen war, kannte er nur von Fotos. Als Peter ein Kind war, lag Deutschland in Trümmern. Seine Mutter arbeitete als Wäschefrau für die US-Streitkräfte, um sich und ihr Kind mehr schlecht als recht durchzubringen. Er teilte das Schicksal vieler deutscher Kriegskinder: Ihre verwitweten Mütter heirateten irgendwann Ende der vierziger bis Mitte der fünfziger Jahre US-Soldaten, und sie, die Kinder, wurden oft unfreiwillig mit in die USA geschleppt. Es erging den deutschen Frauen in Amerika oft ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatten. Der «reiche» US-Soldat war nur in Europa wohlhabend, da der Dollar dort erheblich mehr wert war als in den Staaten. Zudem wurden die Soldaten-Bräute von einem Großteil der amerikanischen Bevölkerung als «Nutten» betrachtet. Da auch viele amerikanische Kinder ihre Väter im Krieg verloren hatten, beschimpften sie die deutschen Kinder in der Schule als Nazis.
Als Peter zehn Jahre alt war, heiratete seine Mutter einen in Schweinfurt stationierten GI, mit dem sie zwei Jahre später in die USA übersiedelte. Der Stiefvater, alkoholabhängig und eifersüchtig, verbot den beiden, Deutsch miteinander zu sprechen. «Ihr redet über mich», warf er ihnen vor.
«Das ist gar nicht wahr», verteidigten sie sich.
«Doch,...