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Historien über die gegenwärtige Klimakrise stellen oft den Kapitalismus als Dreh- und Angelpunkt dar. Damit habe ich kein Problem. Wie ich das sehe, haben Naomi Klein und andere Globalisierungskritiker völlig recht, wenn sie das heute vorherrschende Kapitalismusmodell als einen Hauptmotor des Klimawandels bezeichnen. Aber ich finde, dass diese Narration häufig einen anderen entscheidenden Aspekt der globalen Erwärmung übersieht: Imperium und Imperialismus (wobei »Imperium« hier als ein Synonym für das Dominanzstreben der wichtigsten Institutionen der mächtigsten Staaten zu verstehen ist). Kapitalismus und Imperium sind natürlich duale Aspekte einer Realität, doch ihre Beziehungen zueinander waren nie einfach. Auch in puncto Klimawandel haben die Imperative des Kapitals und des Imperiums oft in verschiedene Richtungen gedrängt und dabei erwiesenermaßen immer wieder kontraintuitive Ergebnisse produziert.
Betrachtet man die Klimakrise durch das Prisma des Imperiums, fällt sofort ins Auge, wie ausschlaggebend der asiatische Kontinent in jeder Hinsicht für eine Auseinandersetzung mit der globalen Erwärmung ist, ob es nun um Fragen über deren Ursachen geht, ob um ihre philosophischen und historischen Implikationen oder um die Möglichkeiten einer globalen Reaktion darauf. Es bedarf nur eines Moments des Nachdenkens, um das klar und deutlich zu erkennen. Und doch wird dieser Faktor seltsamerweise kaum je ins Kalkül gezogen – vermutlich, weil der Diskurs über die globale Erwärmung im Wesentlichen eurozentrisch geblieben ist. Deshalb muss Asiens zentraler Anteil an der Klimakrise hier in einiger Länge und Breite dargelegt werden, selbst auf die Gefahr hin, Offenkundiges zu konstatieren.
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Asiens entscheidender Beitrag zur globalen Erwärmung beruht in erster Linie auf Zahlen. Wie signifikant Zahlen in diesem Zusammenhang sind, wird vielleicht am schnellsten mit Blick auf die Zukunft deutlich, das heißt, wenn wir bedenken, wo die Menschen leben, die von den gegenwärtigen Veränderungen auf und um unseren Planeten am stärksten betroffen sein werden: Die überwältigende Mehrheit der potenziellen Opfer lebt in Asien.
Allein die Auswirkungen der schieren Zahlen auf dem asiatischen Kontinent sind so enorm, dass sie die Gesamtsumme des menschengemachten Anteils an der globalen Erwärmung um ein Vielfaches steigern. Nehmen wir zum Beispiel das Bengal-Delta (eine Region, die den größten Teil von Bangladesch und einen Großteil von West-Bengalen umfasst), das durch den Zusammenfluss zweier der mächtigsten Ströme der Erde, Ganges und Brahmaputra, gebildet wird und eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt ist. Mehr als 250 Millionen Menschen drängen sich dort auf einem Areal zusammen, das ein Viertel der Größe von Nigeria beträgt.
Die Schwemmebenen Bengalens werden wahrscheinlich nicht so bald oder so vollständig überflutet werden wie zum Beispiel der pazifische Inselstaat Tuvalu. Doch die Einwohnerzahl von Tuvalu beträgt weniger als 10 000, wohingegen allein die Teilüberflutung einer einzigen Insel von Bangladesch – Bhola Island – zur Vertreibung von mehr als 500 000 Menschen geführt hat.146
Dieser Bevölkerungsdichte wegen haben sich bereits einige der schlimmsten Katastrophen weltweit im Bengal-Delta ereignet. Durch den Zyklon, der 1971 Bhola traf, kamen geschätzte 300 000 Menschen ums Leben; in Bangladesch fielen 1991 138 000 Menschen einem Zyklon zum Opfer, ein Großteil davon Frauen und Kinder.147 Der Anstieg des Meeresspiegels und die steigende Intensität der Stürme machen Überflutungen großen Ausmaßes entlang der gesamten Küstenlinie immer wahrscheinlicher.148
Aber nicht nur im Bengal-Delta, auch in anderen asiatischen Deltas – Irrawaddy, Indus, Mekong – kommt ein Faktor hinzu, der die Folgen der steigenden Meeresspiegel zusätzlich verstärkt: In ganz Asien (auch in anderen Regionen der Welt) verebben die Deltas wesentlich schneller, als die Ozeane steigen.149 Zum Teil liegt das an geologischen Prozessen, zum Teil ist es die Folge von menschlichen Aktivitäten (Dammbauten, Grundwasser- und Erdölförderung).150 Und wieder sind es die südlichen Regionen Asiens, die hier besonders verwundbar sind, denn gefährdet sind vor allem die Chao-Phraya-, Krishna-Godavari-, Ganges-Brahmaputra- und Indus-Deltas.151 Der Indus, von dem Pakistan so stark abhängig ist, wurde bereits derart ausgebeutet, dass er das Meer gar nicht mehr erreicht, mit der Folge, dass das Salzwasser bereits bis zu 65 Kilometer tief ins Land eingedrungen ist und über eine Million Morgen Agrarflächen verschlungen hat.
Ein erheblicher Anstieg des Meeresspiegels könnte in Indien zum Verlust von rund 6000 Quadratkilometern führen, darunter einige der fruchtbarsten Flächen des Landes; viele flache Inseln des Subkontinents, zum Beispiel die Lakshadweep-Kette, könnten komplett verschwinden.152 Eine Studie legt nahe, dass der steigende Meeresspiegel zur Migration von bis zu 50 Millionen Menschen in Indien und 75 Millionen in Bangladesch führen könnte.153 Ganz oben auf der Liste der Länder, die durch diesen Anstieg bedroht sind, steht neben Bangladesch auch Vietnam: Steigt das Meer um einen Meter an, wird mehr als ein Zehntel der vietnamesischen Bevölkerung vertrieben werden.154
Die fortwährenden Veränderungen des Klimas stellen aber auch eine fatale Bedrohung für das Innere des Kontinents dar, wo bereits jetzt Millionen von Leben und Lebensgrundlagen durch Dürren, periodische Überschwemmungen und extreme Wetterereignisse gefährdet sind. In Indien verwandeln sich nicht weniger als 24 Prozent des Ackerlandes langsam, aber sicher in Wüsten,155 ein Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um 2 Grad Celsius würde die Nahrungsmittelversorgung des Landes um ein Viertel verringern.156 In Pakistan müssen alljährlich 100 000 Morgen Land wegen der Salzverkrustung des Bodens aufgegeben werden, von den verbliebenen Feldern »nimmt ein Fünftel kaum noch Wasser auf und erbringt ein Viertel nur noch mäßige Erträge«.157 In China, das mehr als 20 Prozent der Weltbevölkerung mit den Erträgen von 7 Prozent aller Ackerflächen der Welt ernährt, verursacht die Versteppung bereits heute unmittelbare jährliche Verluste in Höhe von 65 Milliarden Dollar.158
Doch so furchterregend diese Bedrohungen auch sind, so werden sie von der zunehmenden Wasserkrise Asiens weit in den Schatten gestellt. Die Flüsse, die China sowie Süd- und Südostasien versorgen, entspringen in Tibet und im Himalaya. Das Wasser, das dort in der Form von akkumuliertem Eis gespeichert ist, speist 47 Prozent der Weltbevölkerung – »hier nehmen alle aufs Wasser bezogenen Träume und Ängste ihren Anfang«.159 Aber diese Region erwärmt sich doppelt so schnell wie im globalen Durchschnitt. 2008 stellte man fest, dass die Gletscher im Himalaya bereits das gesamte Eis verloren haben, das sich seit Mitte der Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts gebildet hatte; einigen Berechnungen nach wird ein Drittel des verbliebenen Eises bis 2050 verschwunden sein.160
Durch die immer schnellere Abschmelzung der Gletscher im Himalaya werden sich auch die Strömungsunregelmäßigkeiten der Flüsse häufen. In der Trockenzeit werden die Wassermengen auf nie dagewesene Tiefstände sinken, und im Sommer werden sie massive Überschwemmungen verursachen, wie zum Beispiel bei der Koshi-Katastrophe im Jahr 2008 in Bihar oder bei der Indus-Katastrophe 2010 im Nordwesten Pakistans.161 Schreitet die Gletscherschmelze im gegenwärtigen Tempo voran, werden die bevölkerungsreichsten Regionen Asiens binnen ein oder zwei Jahrzehnten mit einem katastrophalen Wassermangel konfrontiert sein. Bereits heute versiegt ein Viertel aller Flüsse auf Erden, bevor sie die Meere erreichen – die meisten, wenn nicht alle von ihnen in Asien.162
In Zahlen ausgedrückt, übersteigen die Folgen des Klimawandels in Asien das Vorstellbare. Das Leben und die Lebensgrundlagen von einer halben Milliarde Menschen in Süd- und Südostasien sind bedroht. Unnötig anzumerken, dass die Last dieser Folgen hauptsächlich die Ärmsten und unter ihnen wiederum unverhältnismäßig viele Frauen zu tragen haben werden.163
Zahlen sind es auch, die Asien in den Mittelpunkt der Fragen von Schadensbegrenzung, Planung und Belastbarkeit rücken. Nicht nur im Norden Chinas, auch in den Great Plains von Amerika trocknen Aquifere aus (also geologische Formationen, die Wasser in Hohlräumen führen), doch auf den 454 000 Quadratkilometern, die vom Ogallala-Aquifer in den Vereinigten Staaten gespeist werden, leben nur zwei Millionen Menschen, wohingegen die 324 000 Quadratkilometer Nordchinas von 214 Millionen Menschen bewohnt werden.164
Die erbarmungslose Tatsache ist, dass keine Strategie global funktionieren kann, wenn sie nicht in Asien funktioniert und nicht von den meisten Asiaten adaptiert wird. Aber selbst dieser Aspekt der für Asien charakteristischen Umstände bleibt häufig aus den internationalen Debatten ausgeschlossen.
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Die Verwundbarkeit der Bevölkerungen Asiens ist jedoch nur ein Faktor, wenn man sich ihre zentrale Bedeutung im Zusammenhang mit der globalen Erwärmung bewusst machen will. Der Kontinent spielte...