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E-Book

Marx. Der Unvollendete

AutorJürgen Neffe
VerlagC. Bertelsmann
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl656 Seiten
ISBN9783641172428
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Die aktuelle Biografie über Leben und Werk des Philosophen und Gesellschaftskritikers
Karl Marx, der revolutionäre Querkopf und Vordenker des 19. Jahrhunderts, ist wieder da. Seit der Kommunismus in seinem Namen - aber nicht in seinem Sinne - Geschichte ist, feiert er ein bemerkenswertes Comeback. Anlässlich seines 200. Geburtstags erkundet Jürgen Neffe dessen Ursachen - in Marx´ Schriften wie in seiner Biografie. Er schildert das Leben eines Flüchtlings und geduldeten Staatenlosen, der für seine Überzeugungen keine Opfer scheut. Weder Krankheit, Armut, Ehekrisen noch Familientragödien halten ihn davon ab, beharrlich an seinem Werk zu arbeiten. Mit seiner Analyse des Kapitalismus als entfesseltes System sagt er die globalisierte Welt unserer Tage bis hin zur Finanzkrise voraus. Neffe zeichnet die Entwicklung der Marx'schen Gedankenwelt von Entfremdung und Ausbeutung in den Frühschriften bis zur ausgereiften Krisentheorie im Kapital nicht nur nach. Als erfahrener Popularisierer der Wissenschaft erklärt er die Theorien in verständlicher Form und konfrontiert sie mit der Realität des 21. Jahrhunderts.

Jürgen Neffe, promovierter Biochemiker, arbeitete zwanzig Jahre als Redakteur, Reporter und Korrespondent unter anderem für »Geo« und den »SPIEGEL«. Besonderes Aufsehen erregte er mit seinen vielgerühmten Biografien über Albert Einstein, Charles Darwin und Karl Marx. Neffe wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis.

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Leseprobe

Prolog

Marx und kein Ende

Man kann diese Geschichte auch anders erzählen. Vom Denkmal her etwa, das seine letzte Ruhestätte überragt. Sie liegt im Norden von London, auf dem Friedhof von Highgate, wo das Leben mit Efeuranken und Moos und wilden Blumen die Steine der Toten überwuchern darf. Kontrollierter Verfall, so nennen sie das hier, wenn kopf- oder flügellose Engel, zu Boden gegangene Kreuze und versinkende Grabplatten in gärtnerisch eingehegter Wildnis der Verwitterung anheimgegeben werden.

Nur das Grabmal im Quadranten C2 auf dem Ostteil des Gottesackers widersetzt sich der inszenierten Vergänglichkeit. Das gepflegte Geviert mit seinen sauberen Plattenpfaden und gemähten Rasenflecken hinter eisernen Trittschutzzäunen verleiht dem Ort einen offiziellen Charakter, der das Morbide seiner Umgebung verneint. Darüber erhebt sich ein massives Monument, Manifestation eines Materialismus, der die Ewigkeit im Blick zu haben scheint: Vom übermannshohen Sockelblock aus grau meliertem Granit schaut, wie zur Demonstration menschlicher Unsterblichkeit, grimmig ein wuchtiger Bronzekopf auf die übrigen Gräber und die unablässig vorbeiziehenden Besucher herab.

Die Friedhofsverwaltung weiß um den Wert ihrer Attraktion. Vier Pfund Eintritt verlangt sie für diesen Teil des Areals. Das hält aber niemanden davon ab, dem Bärtigen mit dem finsteren Ausdruck seine Aufwartung zu machen. An guten Tagen sind es mehrere Hundert, die zu ihm pilgern, manche um die halbe Welt gereist. Die meisten verweilen ein paar Minuten, einige legen Blumen ab, andere ganze Sträuße an den Fuß des Quaders. Chinesen aus der Roten Republik nähern sich in Busladungsstärke der Nekropole, wo sie ihrer Pflicht als Volksgenossen mithilfe von Selfie-Sticks Genüge tun.

Jenseits touristischer Erbauung besitzt dieser Ort eine eigene, ganz eigentümliche Anziehungskraft, besonders für jüngere Leute aus aller Sprachen Länder. Eine Gruppe spanischer Studenten, die in stiller Andacht einen Anstecker der neuen Linkspartei Podemos auf dem Vorsprung des Sockels abgelegt hat, beschreibt ihn als »Kraftquelle« zur Inspiration ihrer Hoffnung auf eine bessere, gerechtere Welt. Als Erster habe Marx das unheimliche, übermächtige System beschrieben, dem sich die Menschheit auf Gedeih und Verderb ausgeliefert hat: jenen von Menschen gemachten, aber von ihnen nicht kontrollierbaren Moloch der Moderne namens Kapitalismus.

Wie ein Seher hat er erkannt, dass sich Kapital nicht als fassbarer Gegenstand, sondern nur in seiner Bewegung begreifen lässt. Als Fetisch, dem Leben innezuwohnen scheint wie einem Wesen – »ein beseeltes Ungeheuer, das zu ›arbeiten‹ beginnt, als hätt’ es Lieb’ im Leibe«1. Ein System, verrückt und vernünftig, rational und irrational in einem. Und die Spezies, die es betreibt, »gleicht dem Hexenmeister, der die Unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor«2.

Als die jungen Iberer zur Welt kamen, waren Kalter Krieg und Ostblock schon Geschichte. In Marx sehen sie einen Vordenker und Kritiker des Kapitalismus, nicht den geistigen Übervater der sozialistischen Staatenwelt, die an ihrem Höhepunkt im 20. Jahrhundert beinahe die Hälfte der Menschheit umfasste. Die gehört für sie, trotz Kuba und Co., in das gleiche Reich von Schwarz-Weiß-Erinnerungen wie Franco und die Nazizeit. Der Anblick einer Gruppe marxistischer Veteranen und ergrauter Antifaschisten aus der ehemaligen Sowjetunion wirkt auf sie befremdlich oder, wie sie sagen: »exotisch«.

Die alten Herrschaften, manche am Gehstock, die Rote Fahne als Sticker am Revers, stellen ihrem Säulenheiligen Kerzen zu Füßen. Dann verneigen sie sich und blicken schweigend auf zu dem Riesenkopf, der auf einem Friedhof eigentlich nichts zu suchen hat: Denkmäler, die Lebende darstellen, gehören in die Welt der Lebenden, auf Plätze, Straßen, nicht ins Reich der Toten. Dass er dennoch dort steht und bleiben wird, unerschütterlich und unberührbar bei aller Hinfälligkeit, die ihn umgibt, erscheint wie ein Symbol der Widersprüche, die Marx bis heute begleiten.

Es war die Kommunistische Partei Großbritanniens, die das Monument 1956 an dieser Stätte gelebter Sterblichkeit errichten ließ. Im selben Jahr distanzierte sich Generalsekretär Chruschtschow in Moskau vom Heldenkult seines Vorgängers Stalin, die Ungarn begehrten gegen ihr stalinistisches Regime auf, und die britischen Kommunisten erlebten im Streit um ihr Verhältnis zur Sowjetunion bald ihre schwerste Krise. Nach Ende des Ostblocks kamen sie ihrem Untergang 1991 durch Selbstauflösung zuvor. Auf dem Friedhof lebt ihre Erinnerung weiter als Kuriosum aus einer seltsam entrückten Zeit.

Gleich unter dem bulligen Schädel haben sie die Buchstabenfolge workers of all lands unite in den Granit schneiden und golden ausschlagen lassen. Das klingt im Englischen um einiges zeitloser als das preußisch-deutsche Original von 1847: »Proletarier aller Länder, vereinigt Euch.« Der Satz am Fuß des Sockels hingegen – THE PHILOSOPHERS HAVE ONLY INTERPRETED THE WORLD IN VARIOUS WAYSTHE POINT HOWEVER IS TO CHANGE IT – verliert in der Übersetzung einiges von seiner ursprünglichen Poesie: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.«

Im Frühjahr 1845 aufs Papier gekritzelt und erst nach dem Tod des Verfassers von seinem Freund Friedrich Engels im Nachlass entdeckt, bedeutet diese »Elfte These ad Feuerbach« Aufbruch und Vermächtnis in einem. Die beiden Zitate liegen kaum mehr als zwei Jahre auseinander. In Marx’ Schaffen markieren sie den Schritt vom Denker zum Kämpfer, vom revolutionären Theoretiker zum Theoretiker der Revolution. In diesem Umschwung wurzeln alle modernen Arbeiterbewegungen, die sich auf das unzertrennliche Duo aus Deutschland berufen.

Schräg gegenüber dem Großkopf liegt eine bescheidene Grabstätte, die Besucher mitunter als Rastbank zum Verzehr mitgebrachten Proviants missbrauchen. HEREIN LIE THE ASHES OF HERBERT SPENCER, lautet ihre schlichte Inschrift. Das muss man nicht übersetzen, wenn man weiß, dass sich dahinter die sterblichen Überreste eines notorisch Backenbärtigen verbergen, der mit Fug und Recht als weltanschaulicher Antipode von Marx und Konsorten gilt.

Der Soziologe, zwei Jahre nach Marx geboren und zwanzig nach ihm gestorben, hat die Lehre des Sozialdarwinismus begründet. Sie sieht das menschliche Miteinander als unerbittliches Gegeneinander im Kampf ums Dasein – Individuen in totaler Konkurrenz, Kapitalismus als Fortsetzung der Evolution mit ökonomischen Mitteln. Von Spencer, nicht von Darwin, stammt der Schlachtruf vom »Survival of the Fittest«, der dem Recht des Stärkeren gelehrte Weihen verlieh. Obwohl wissenschaftlich unhaltbar, hat seine eingängige Doktrin Karriere gemacht. Sie liefert bis heute der neoliberalen Ideologie von globalem Wettbewerb und »freien« Märkten die ideale biologistische Basis.

So verkörpern Marx und Spencer den Widerspruch der spätkapitalistischen Welt, die seit mehr als einer Generation scheinbar ungebremst in ihre Frühphase zurücktaumelt: Revolution von oben statt von unten, wenn auch dank der Wählerstimmen von dort, Egoismus und Einzelkampf statt Kollektivgeist und Solidarität.

Wer Marx verstehen und würdigen will, muss das Gegenteil immer gleich mitdenken, zum Segen den Fluch und umgekehrt. Welcher Denker hat die Herzen der Menschen auf der ganzen Welt tiefer und nachhaltiger bewegt als er? Gemessen daran rangiert er auf Augenhöhe mit berühmten Religionsstiftern. Doch seit im Namen seiner Lehre Regime geherrscht haben und immer noch herrschen, die ihre Bürger gängeln und überwachen und nur mit Stacheldraht, Mauer und Schießbefehl vom Massenexodus abhalten, sieht er sich als Prophet zum Paria verflucht. Sogar die Schuld am Gulag wird ihm in die Schuhe geschoben.

Dass sein Name bis heute Ehrfurcht wie Furcht hervorruft, verdankt Marx einem perfiden Pakt, den andere in seinem Namen geschlossen haben. Er war ihr Faustpfand, mit seiner Lehre haben sie Diktatur, Gewalt und Unfreiheit begründet, wie er sie nie gebilligt hätte. Damit haben sie ihn in aller Welt prominent gemacht, aber eben auch als jene Hassfigur, die er im Echoraum antilinker Ressentiments bis heute geblieben ist.

Kein Theoretiker ist je so mit monströsem Terror und Millionen Toten in Verbindung gebracht worden wie Marx von seinen immer noch zahlreichen Gegnern. Ohne seine »Vorarbeit«, so der häufig wiederholte Vorwurf, wären der Welt Despoten wie Stalin und Ceaușescu, Mao, Pol Pot oder die nach wie vor herrschenden Steinzeitkommunisten Nordkoreas erspart geblieben. Darüber gerät seine wahre Leistung oft in Vergessenheit.

Einer Rückkehr zum vorbehaltlosen Umgang mit Marx und seinem Werk stand und steht noch immer der -ismus im Wege, den man seinen vier Buchstaben angehängt hat wie Christus das Christentum. Marx hat nie einen Marxismus begründet. Nichts lag ihm ferner, als ein abgeschlossenes System zu schaffen. Die Welt im Wandel durch Widerspruch verträgt in seiner Sichtweise keine dogmatische Erstarrung.

Das Wort haben seine Gegner geprägt. Offiziell ist es damals wohl erstmals in Polizeiakten aufgetaucht. Wenn es heute in amtlichen Unterlagen erscheint, verheißt das in der Regel nichts Gutes. Bereits 1993, die Mauer lag kaum in Trümmern, war in der Zeit zu lesen: »Erst nach Aussterben der Marxisten kann Marx zu seiner kompletten Statur aufwachsen.«3 Ein Vierteljahrhundert später erklärt...

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