Vorwort – Warum dieses Buch?
Nichts prägt unser Elternsein mehr als die eigene Kindheit. Nicht die pädagogischen Ansichten über Richtig und Falsch, nicht Bildung oder sozialer Status, nicht die Berufstätigkeit, nicht das Alter und nicht einmal die Kultur oder die Gesellschaft, in der wir leben. Dafür aber das, was wir einst als kleines Mädchen oder kleiner Junge in den entfernten und fast vergessenen Jahren unserer Kindheit erlebt haben. Diese Erfahrungen sind in den tiefsten Schichten unserer Seele gespeichert. Und wenn eine Frau dann Mutter wird, geht sie ihren eigenen Weg, und nichts kann sie von ihrem Weg abbringen – weder gute Ratschläge der Angehörigen noch kompetente Fachmenschen oder schlaue Bücher, nicht die anderen Mütter und schon gar kein Gruppenzwang. Auch wenn die Mutter sich ihres Weges nicht sicher ist, sich verirrt oder vom (rechten) Weg abkommt, kann nur ihre eigene innere Stimme sie wieder ans Licht leiten. Dieses Buch lässt die innere Stimme jeder Mutter so erklingen, dass sie selbst sie hört und auch verstehen kann.
Es gibt viel Trubel um das Bild der Mutter in unserer heutigen Gesellschaft. Wir sind nicht mehr bereit, das einseitige, flache, verzerrte und idealisierte Bild der Mutter hinzunehmen, das wie eine unförmige Schablone zu keiner realen Mutter passen will. Immer häufiger zeigt sich ein ganz anderes Bild – ambivalente Gefühle, Verzweiflung angesichts enormer Herausforderungen bis hin zum Bereuen der Tatsache, überhaupt Mutter geworden zu sein. Allein das Ansprechen der negativen Gefühle wird schon als Befreiung gefeiert. Es wirkt vielleicht beruhigend zu wissen, dass es anderen Müttern ähnlich geht. Doch diese Beruhigung lässt mit der Zeit nach, und ein schaler Beigeschmack bleibt zurück. Macht es mich wirklich glücklicher zu wissen, dass andere Mütter ebenfalls unglücklich sind? Einigen reicht dieses Trostpflaster vielleicht aus, und sie lesen dieses Buch mit Sicherheit nicht. Denn dieses Buch geht einen entscheidenen Schritt weiter. Es hilft, dem Ursprung und dem Sinn der verwirrenden Gefühle in Bezug auf das Mutterssein im eigenen Inneren auf die Spur zu kommen.
Frauen, die ihr Muttersein bereuen, wussten zumeist nicht, was auf sie zukommt. Sie waren nicht vorbereitet auf die unvermeidliche innere Verwandlung und konnten sich dementsprechend auch nicht darauf einlassen. Mutterschaft wird von ihnen vielmehr als unüberwindbares Hindernis für die eigene Selbstverwirklichung erlebt. Und Hand aufs Herz, wir alle vermissen ein wenig das alte Leben, den Lifestyle, die Freiheit, jederzeit das zu tun, was frau möchte: die Selbstbezogenheit, die Ungebundenheit und das Abenteuer. Doch allzu leicht vergessen wir dabei, dass unsere wahre Selbstverwirklichung im Inneren stattfindet. Und das Muttersein ist die ideale Chance für eine solche innere Verwirklichung und die Gelegenheit, an intimste Bereiche der eigenen Seele heranzukommen, die uns ansonsten für immer verschlossen geblieben wären. Ein wahres Geschenk.
Viel Trubel in den Medien bedeutet nicht zwingend mehr Bewusstsein über die seelischen Höhen und Tiefen des Mutterseins, ganz im Gegenteil. Heiße Debatten fördern keine Selbsterkenntnis, sie bauen viel mehr Fronten auf, die unseren Blick auf das Bekämpfen des Gegenübers richten, nicht auf uns selbst. Und das ist der entscheidende Punkt. Die Antwort auf unsere persönlichen Fragen liegt in uns, nicht irgendwo da draußen.
Ich verbreite hier keine Parolen, bekämpfe keine Feindbilder und gebe keine Tipps oder gar Anweisungen für die Kindererziehung. Vielmehr möchte ich mit diesem Buch die kleine Tür zur persönlichen Wahrheit jeder Mutter und jedes Menschen öffnen, der mit Kindern lebt. Ich habe versucht, Worte für die subtilen Empfindungen zu finden, die wir kaum in Worte fassen können, und ich möchte verstehen helfen, woher sie kommen. Das Verstehen der eigenen Gefühle – deren Ursprung und Sinn – hat eine magische Kraft. Es verleiht unseren Empfindungen erst einen Sinn und macht sie zu uns gehörig. Nicht grundlos ist die Frage nach dem Warum der ewige Antrieb der menschlichen Seele.
Vor guten Ratschlägen können wir Mütter uns nicht retten, doch die guten Ratschläge vermögen uns nicht zu helfen. Ständig pendeln wir hin und her zwischen banaler Alltagsbewältigung, unserer Müdigkeit und dem Respekt und der Ehrfurcht, die diese überwältigend große, lebenslange Aufgabe uns zugleich einflößt.
In meiner psychologischen Praxis helfe ich jungen Müttern, das Wirrwarr ihrer Gefühle nach der Geburt zu ordnen. Und dies nicht etwa mit guten Ratschlägen oder magischen Formeln wie »Es ist normal und geht vorbei«, »Das ist nur eine Phase« oder »Hör auf dein Bauchgefühl«. Sondern so, dass die Gefühle für die jeweilige Mutter und ihren persönlichen Lebensweg einen Sinn ergeben. Uns geschieht nichts, was nicht ohnehin zu uns gehört. Wir müssen nur die Verbindung herausfinden. Nach der gemeinsamen intensiven Arbeit werde ich Zeugin einer wundervollen Verwandlung, wie wenn aus einer dicht verpuppten Raupe ein wunderschöner Schmetterling in die Freiheit schlüpft. Die Frauen brauchen einen geschützten Raum für ihre Gefühle, jemanden, der liebevoll und mitfühlend zuhört, die Intimität der menschlichen Beziehung. Offen und ehrlich müssen sie sich mutig auf den Weg machen und ihn zu Ende gehen. Es gibt keine Abkürzungen oder Tricks auf dem Weg zu sich selbst.
In meiner Arbeit habe ich oft erlebt, dass das Verstehen der eigenen Gefühlswelt heilende Kräfte in sich birgt. Das Wissen, dass es anderen Müttern ähnlich geht, entlastet zwar, aber erst das Verstehen der persönlichen Wahrheit löst den großen Knoten. Es heilt die Mutter, das Kind, die Beziehung zum Partner und die Familie als Ganzes. Es ist eine unglaubliche Macht, über die wir Mütter verfügen. Wir missbrauchen diese Kraft im Grunde tagtäglich, wenn uns unser Einfluss als Mutter nicht bewusst ist. Sind wir uns dessen bewusst, kann sie hingegen wahrlich Berge versetzen.
Was mich zu diesem Buch bewegt hat? Wenn ich Frauen kennenlerne, die bereits größere Kinder haben, und ihnen erzähle, was ich beruflich mache, dann kommt eigentlich immer die gleiche Reaktion: »Mensch, damals hätte ich dich sehr gebraucht, als ich Mutter geworden bin und nicht weiterwusste.« Offenbar irren die meisten von uns im Dickicht der Gefühle alleine vor sich hin und wissen nicht, wo sie Hilfe suchen sollen. Das hat mich zu diesem Buch motiviert. Ich möchte möglichst viele Frauen erreichen und ein Bewusstsein darüber verbreiten, was das Muttersein seelisch mit uns macht.
Natürlich hat mich meine persönliche Erfahrung, dreimal Mutter zu werden, ebenfalls sehr bewegt, und ich gewähre auch einige Einblicke in meine eigene Gefühlswelt. Diese mit nichts vergleichbare Erfahrung hat mich nicht nur als Frau beeindruckt, sie hat auch mein berufliches Interesse geweckt. Da ich mich als Psychologin der menschlichen Seele besonders verbunden fühle, habe ich in alle Richtungen nach einer Erklärung für die rätselhaften Phänomene der Mutterschaft gesucht. Meine Fundstücke habe ich hier zusammengetragen.
Dieses Buch ist für Mütter geschrieben, nicht für Psychologen, obwohl die Letzteren das Buch selbstverständlich auch lesen können, zumal wir oft beides sind – Mütter und Psychologinnen (Erzieherinnen, Pädagoginnen, Lehrerinnen, Ärztinnen, Hebammen oder Krankenschwestern und alle, die mit Frauen und Müttern beruflich zu tun haben). Psychologische Phänomene habe ich versucht, alltagsnah und hoffentlich verständlich zu präsentieren. Väter können von diesem Buch selbstverständlich auch profitieren, nicht nur, weil sie ihre Frauen und Kinder dadurch besser verstehen werden, sondern auch, weil es einige extra den Vätern gewidmete Kapitel gibt.
Wir Mütter sind gemeinsam mehr als die Summe unserer einzelnen Erfahrungen.
Nichts prägt unser Elternsein mehr als die eigene Kindheit. Es ist eine einfache Wahrheit, die wir aber oft vergessen oder im Alltag nicht zu gebrauchen wissen. Dieses Buch verbindet das Heute mit dem Damals, stellt Zusammenhänge her und bringt die Enden zueinander wie im »Spaghetti-Salat« einer Kinderzeichnung. Daraus ergeben sich vielleicht im zweiten Schritt die ganz persönlichen Imperative im Umgang mit Kindern und mit sich selbst, die nur für jede einzelne Mutter – und jeden Vater – wahr und wirksam sind.
Zum Buchgebrauch
Natürlich ist es Ihnen überlassen, was Sie mit dem Buch machen, ob sie es von vorn bis hinten in einem Stück lesen oder nur einzelne Kapitel herauspicken wollen. Man kann es jedoch nicht nur lesen. Es gibt darin auch praktische Übungen, die dazu einladen, über sich nachzudenken, sich Fragen zu stellen oder das Gelesene im Alltag anzuwenden. Wer wirklich etwas verändern und in der Selbsterkenntnis weiterkommen möchte, wird das Buch nicht einfach überfliegen wollen, sondern von Zeit zu Zeit auch in sich hineinhorchen. Es empfiehlt sich daher, ein Notizbuch für Gedanken und Zeichnungen in greifbarer Nähe zu haben, damit Sie Ihre innere Stimme darin festhalten können. So ein Notizbuch kann zu einem Gesprächspartner werden oder zu einem Ort für intime Gefühle. Am besten liegt es nicht weit vom Bett. Viele Einfälle kommen uns ganz plötzlich kurz vor dem Einschlafen oder direkt nach dem Aufwachen (natürlich nicht, wenn wir mit dem Wecker wie bei der Armee aufspringen). Ich wurde zum Beispiel durch das Stillen oft in einen kreativen, tranceartigen Zustand versetzt. Meine besten Einfälle habe ich tatsächlich während des Stillens bekommen. Zum Glück habe ich lange gestillt und von diesen Phasen in Fülle profitiert. Von wegen Stilldemenz!
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