KAPITEL 1
Zu Besuch bei feinen Leuten
Beim ersten Mal mordete er nicht mittags.
Überhaupt, Mittagsmörder. Klaus G. konnte mit dem Begriff noch nie etwas anfangen. Als ob er sich bei seinen Überfällen nach der Uhrzeit gerichtet hätte. Er war kein Frühaufsteher, trödelte morgens gerne, brauchte ein bisschen länger, bis er in Fahrt kam. Deshalb kam er vor Mittag nicht dazu, seine Dinger zu drehen. So einfach war das. Aber irgendein windiger Journalist kam mit dem Begriff Mittagsmörder daher. War sicher furchtbar stolz auf seine Wortschöpfung. Und die Leute plapperten es nach. Mittagsmörder klang spektakulär. Die Zeitungen berichteten in reißerischen Überschriften über Klaus G.’s Taten. »Der Mittagsmörder hat wieder zugeschlagen« oder »Die Suche nach dem grausamen Mittagsmörder«. Dabei war Klaus G. die Tageszeit egal. Hauptsache, die Beute stimmte. Hauptsache, sie erwischten ihn nicht. Taten sie ja auch nie, weil er alles perfekt geplant hatte. Wenn sich die Überfallenen einfach nur an seine Anweisungen und Befehle gehalten hätten, dann hätte auch niemand sterben müssen.
Am Anfang seiner kriminellen Karriere, als die Zeitungen noch lange nicht über einen Mittagsmörder schrieben, stand ein blasser Jüngling, 19 Jahre alt, vor einer Wohnungstür im ersten Stock eines Hauses in der Tuchergartenstraße 3 in Nürnberg und war nervös, weil er gleich seinen ersten großen Überfall begehen wollte. Ein paar kleine Diebstähle waren ihm bereits geglückt, Gaunereien, aber er hatte noch nie jemandem eine Waffe vor das Gesicht gehalten und Geld gefordert.
In diesem Viertel zwischen Maxtorgraben und Stadtpark wohnte, wer sich große Eigentumswohnungen leisten konnte, Wohnungen mit vielen Zimmern, mehreren Bädern, mit Köchen, Zugehfrauen und Kindermädchen. Draußen sorgten an diesem Abend Straßenlaternen für fahle Beleuchtung, ansonsten lag Dunkelheit über Nürnberg. Hinter den Vorhängen des viergeschossigen Jugendstilhauses brannte Licht. Auf der Straße war kein Mensch zu sehen.
Klaus G. wohnte bei seiner Mutter Annemarie in einer Arbeitersiedlung in Hersbruck, rund 40 Kilometer östlich von Nürnberg, und teilte sich ein kleines Zimmer mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Peter. Sein Vater, Erwin G., war 1945 nicht aus dem Krieg heimgekehrt. Klaus’ Wünsche waren schon als Heranwachsender teurer als das, was die Familie sich leisten konnte. Er liebte Autos, Motorräder, Waffen. Deshalb brauchte er Geld.
Nach seiner Verhaftung Jahre später würde Klaus G. in mehreren Vernehmungen zunächst bestätigen, dass er dieser Jüngling war, der aufgeregt vor der Tür in der Tuchergartenstraße gestanden hatte. Er würde als Gefangener mit Handschellen um die Handgelenke den Tatort besichtigen und den Polizisten schildern, wo und wie er gemordet hatte, bevor er sein Geständnis einige Zeit danach widerrufen würde. Klaus G. bestreitet bis heute, diesen ersten Doppelmord begangen zu haben, obwohl seine damaligen Aussagen und mehrere Indizien eine andere Sprache sprechen. Die Polizei ging damals von folgenden Tathergang aus.
War es wirklich Klaus G.?
Es war der 22. April 1960, ein Freitag, kurz nach acht Uhr abends, als Klaus G. klingelte. »Rupprecht« stand auf dem Namensschild neben der Klingel, darunter hing die Firmentafel »Eheanbahnungs-Institut«. Klaus G. hatte im Telefonbuch nach reichen Leuten gesucht und herausgefunden, dass hier die Witwe eines Bankdirektors wohnte. Er vermutete, dass solche feine Herrschaften immer einige Tausend Mark zu Hause horteten, als Reserve für schlechte Zeiten, oder weil es ihnen ein gutes Gefühl gab zu wissen, dass sie jederzeit Zugang zu ihrem Vermögen hatten. Der alten Dame würde schon kein Zacken aus der Krone brechen, wenn er sich bei ihr bediente, schließlich blieben ihr ja noch ihre Bankkonten. Auch ihre Klunker würde Klaus G. ihr lassen, er wollte nur Bares. Und später sollte ihm bitte bloß keiner mit schlechtem Gewissen oder so etwas in der Art kommen. Da würde er nur laut lachen. Klaus G. nahm, was seiner Ansicht nach entbehrt werden konnte, das gehörte von Anfang an zu seinen Prinzipien.
In der Wohnung befand sich an diesem Abend die Eigentümerin Hedwig Rupprecht, 58, die hier wohnte und nebenbei die Zweigstelle eines Eheanbahnungs-Instituts betrieb. Nicht weil sie das finanziell nötig gehabt hätte. Aber nach dem Tod ihres Mannes hatte sie eine Beschäftigung gesucht, die sie erfüllte, und sie im Glück anderer Paare gefunden. Außerdem: ihre Schwiegermutter Eugenie, 87 Jahre alt, blind und an den Rollstuhl gefesselt; die Putzfrau Renate Löber, 55, die in einem der hinteren Zimmer bügelte; Valeska Eder, 46, eine hübsche Werkstattgehilfin mit kurzen, schwarzen Haaren und braunen Augen, die ein Zimmer zur Untermiete bewohnte; und Eders Verlobter Enrique Hering, 54, den Hedwig Rupprecht gerne zu Besuch kommen sah – ein Mann mit Menjoubärtchen, exzellenten Manieren, stets in Anzug, Weste und Krawatte, der regelmäßig im Zimmer seiner Zukünftigen übernachtete, wenn sein Beruf als Versicherungsvertreter dies zuließ. Die Verlobten wollten bald heiraten.
Rupprecht öffnete die Tür. Vor ihr stand ein junger Mann mit dunkelblonden, nach hinten gekämmten Haaren. Er trug ein weißes Hemd mit Krawatte, eine lange Stoffhose und eine braune James-Dean-Jacke, die vorne mit Wildleder besetzt war und deren Ärmel aus beiger Wolle gestrickt waren.
»Sind Sie Frau Rupprecht?«, fragte er barsch.
»Ja, kommen Sie herein«, erwiderte die Angesprochene.
Sie dachte, dass es sich um eine Heiratsangelegenheit handele. In ihrem Beruf war sie es gewohnt, dass Leute sie zu Unzeiten besuchten. Die Liebe und die Probleme, die sie mit sich brachte, kannten keinen Feierabend. Vielleicht war seine Verlobte mit einem anderen durchgebrannt. Oder er hatte seine Zukünftige betrogen und sie ihn daraufhin rausgeworfen, und jetzt wusste er nicht weiter.
Doch der Besucher zog plötzlich eine Pistole und hielt sie ihr vor das Gesicht.
»Geld her oder das Leben!«, rief er. Rupprecht wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Der junge Mann sah nicht aus wie ein Gangster, eher wie ein Student. War das Ganze ein verspäteter geschmackloser Aprilscherz? Nein, dafür war der Blick des Unbekannten zu kalt. Sie wich ein paar Schritte zurück, rief ins Zimmer ihrer Untermieterin, das auf der linken Flurseite lag: »Herr Hering, Herr Hering, kommen Sie!« Hering war der einzige Mann im Haus. Er würde sicher die richtigen Worte finden und den Kerl besänftigen.
Hering kam. Er sah den Fremden, der mit der Pistole auf Rupprecht zielte und sie nun auf ihn richtete, als er in den Flur trat. Die Wohnungstür im Rücken des Eindringlings stand offen. Sicher würden die Nachbarn den Vorfall jeden Moment bemerken und diesen unverschämten Menschen überwältigen.
»Was soll das?«, fragte Hering. »Tun Sie doch das Ding weg, Sie sind ja verrückt.« Er ging an Rupprecht vorbei und langsam auf Klaus G. zu, versuchte ihn zu beschwichtigen, indem er ihn ruhig aufforderte, ihm die Pistole zu geben, die Klaus G. in der rechten Hand hielt.
Klaus G. zögerte nicht. Er richtete die Pistole auf Herings Kopf. Drei Schüsse. Dann zielte er auf Eder, die mittlerweile aus ihrem Zimmer gekommen war und hinter ihrem Verlobten im Türrahmen stand. Klaus G. richtete die Pistole auf sie. Zwei Schüsse. Sie fiel nach hinten, stürzte und riss dabei fast Hedwig Rupprecht zu Boden, die hinter ihr stand. Es waren gezielte Schüsse gewesen. Klaus G. wollte niemanden nur verletzen und außer Gefecht setzen, mit einem Schuss ins Knie oder in die Schulter. Er wollte töten. Dabei wirkte er abgeklärt, als habe er so etwas schon oft gemacht.
Die leblosen Körper von Valeska Eder und Enrique Hering lagen in einer roten Lache am Boden. Blut floss aus den Schusswunden. Die Gesichter der beiden Verlobten waren nach unten gewendet.
Rupprecht schrie irgendetwas Unverständliches, hielt sich die Hände vors Gesicht, weil sie den Anblick nicht ertrug.
Enrique Hering, das würde die Obduktion ergeben, erlitt einen Kopf-, Bauch- und Oberarmschuss. Valeska Eder tötete der Mörder mit einem Lungenschuss, der zugleich ihr Herz traf, der zweite Schuss streifte sie am rechten Handgelenk. Bis vor wenigen Augenblicken war ihre Zukunft ein Traum gewesen. Jetzt war sie Vergangenheit. Alles war vorbei. Auf dem Tisch in Eders Zimmer lagen noch die Karten des Spiels, das die beiden unterbrochen hatten.
Das Ganze hatte nur wenige Sekunden gedauert, und in diesen wenigen Sekunden hatte Klaus G. mit seinen ersten beiden Morden zwei Leben ausgelöscht. Andere an seiner Stelle wären in Panik verfallen oder durchgedreht. Er blieb ruhig.
»Was haben Sie da gemacht?«, schrie Rupprecht ihn an und fuchtelte ihm mit den Armen vor dem Gesicht herum.
Klaus G. ignorierte ihre Frage. »Geld her!«, forderte er sie erneut auf, während er die Pistole auf ihre Stirn richtete. Sie reagierte nicht. Erstarrte. Er drückte den Abzug durch. Klick. Kein Schuss löste sich. Klick. Wieder nichts. Klick. Nichts. Er wollte auch sie niederstrecken. Aber etwas klemmte. Ladehemmung! Klaus G. würde die Pistole nie wieder benutzen, aber was half ihm das jetzt? Sollte er nachladen? Zum Magazinwechsel hatte er keine Zeit. Rupprecht zitterte. Die Putzfrau erkannte die Situation. Sie realisierte, dass der Mörder gerade nicht schießen konnte. Renate Löber rannte an Klaus G. vorbei ins Treppenhaus, stürzte nach...